Ein ungeschriebenes Reisetagebuch Henri Cartier Bresson

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Liebes Journal,

nach langer Zeit nehme ich dich mal wieder zur Hand. Ich bin oft zu beschäftigt, um täglich die Zeit zu finden, meine Gedanken auf Papier zu bringen. Ich bin rastlos und ständig unterwegs. Ich frage mich, ob ich wegrenne. Manchmal fühlt es sich so an, als würde ich versuchen, von der Vergangenheit loszukommen, als wollte ich mich der Religion, den Werten und dem Wohlstand meines Elternhauses entziehen.

Es ist auch Neugier. Ich bin interessiert, interessiert am Miteinander der Menschen. Ich verstehe die Dinge durch meine Augen. Und meine Augen sind meine Leica. Ich trage sie immer bei mir, außer beim Rasieren am Morgen. I Watch! Watch! Watch!

Ich bin ein Nervenbündel, stets auf der Hut, auf den richtigen Moment lauernd. Letztens meinte ein Genosse, beim Fotografieren erinnere ich ihn an einen Boxer – tänzelnd, die Leica als Deckung vor meinem Kopf, von einem Bein aufs andere, mich hin und her bewegend. Andere bezeichnen mich als Libelle, stets umherschwirrend. Innehalten kann ich nur im entscheidenden Augenblick, wenn ich auf den Auslöser drücke, damit die Bilder nicht verwackeln. Im Bruchteil einer Sekunde. Auch wenn ich selbst ständig andere beobachte, merke ich, dass ich kein Freund davon bin, selbst beobachtet zu werden.

Aber warum schreibe ich das eigentlich auf? Selbst jetzt komme ich nicht zur Ruhe, sondern bin hitzig. Vielleicht ist das Tagebuchschreiben gerade deshalb eine gute Übung, um mein Innenleben zu reflektieren, mich auf diesem Weg als Fotograf zu begleiten: Warum fotografiere ich eigentlich? Was beschäftigt mich? Wen möchte ich fotografieren, dokumentieren und was möchte ich einfangen?

Ich versuche wieder häufiger zu schreiben. Auch auf den Reisen, die mich erwarten.

Dein fotografierendes Nervenbündel

Henri

22.5.1936

Liebes Journal,

verschiedene Ereignisse erinnern mich immer wieder an meine Erfahrungen in den Kolonien Frankreichs: Versklavung, Zwangsarbeit, Gewalt, Ressourcenausbeutung und meine Machtlosigkeit, dagegen etwas zu tun, lassen mich schuldig fühlen.

In diesem Fall wurden die Erinnerungen durch den Tod des Königs ausgelöst. Des Englischen wohlgemeint – in Frankreich gibt es ja keinen mehr. Und trotzdem ist auch hier in Frankreich die Presse voll mit Berichten über dieses Ereignis. Aber Monarchie hat für mich auch viel mit Unterdrückung zu tun, besonders durch den Kolonialismus. Meine Trauer über den Tod des Königs hält sich also in Grenzen. Welch einen Reichtum diese königlichen Kolonialist:innen aufgrund der Ausbeutung mit sich tragen.

Kein Wunder, dass auch der Thronfolger sich nur schwer mit den Sitten und Bräuchen seiner eigenen Familie identifizieren kann. Vollstes Verständnis. Das wirklich Beunruhigende ist doch, dass die koloniale Ausbeutung weitergeht. Was mich zudem beschäftigt, ist die zunehmende Rechtsradikalisierung in Europa, während der linke Arbeitskampf zu wenig Erfolg führt. Welch’ Naivität zu glauben, dass ein neuer König für mehr Wohlstand im Volk sorgt.

Im Hintergrund läuft die französische Internationale ...

Henri

Nous ne sommes rien,

1.6.1936

Liebes Journal,

es war nur ein kleiner Gewissensbiss – ein sehr kurzes Grübeln. Nach außen habe ich keine Emotionen gezeigt: Es ging um das Unterschreiben einer politischen Petition. Ich habe nicht mit meinem vollständigen Namen unterschrieben. Aus Henri CartierBresson wurde H. Cartier. Bereits bei einigen meiner Werke habe ich das beim Signieren so gehandhabt. So wird aus einem großbürgerlichen Namen eine Abkürzung, eine Rebellion oder zumindest eine Distanzierung vom Großbürgerlichem. Und das ist noch eine Untertreibung. Geldadel trifft es wohl eher. Etwas, das mir von Herzen zuwider ist. Der Name Cartier-Bresson ist in Frankreich mit Reichtum assoziiert, damit möchte ich nicht in Verbindung gebracht werden.

In ihrem letzten Brief gaben mir meine Eltern zu verstehen: Ich soll als ältester Sprössling das Familienimperium führen. Il faudra me marcher sur le corps! Nie würde ich die Kamera gegen die Leitung eines Textilunternehmens eintauschen. Wann verstehen meine Eltern, dass ich in der Firma keine Perspektive für mich sehe? Für mich zählt die Musik, die Literatur und die Kunst. Der Verlust meiner Kamera wäre ein Verlust meines Esprits.

Unter meinen Freund:innen fühle ich mich so wohl wie nirgends anders. Rebell:innen, Provokateur:innen sind sie allesamt. Die meisten Kommunist:innen obendrein. Auch wenn ich wahrhaft nicht der Radikalste von ihnen bin, weshalb ich so manchen Witz auf mich nehmen muss. So kann ich mit dem (spieß-)bürgerlichen Leben nichts anfangen. Ich will mit der Fotografie finanziell unabhängig sein. Das gelingt nur mit der Flucht vor meiner familiären Existenz. Liebe Grüße

20.6.1936

RoyalShake-Up

BernieSnatchestheCrownasBrotherAbdicates-ScandalRockstheMonarchy!

Auch hier in Frankreich erreichen uns die Schlagzeilen. Die Boulevardzeitungen sind voll und ich frage mich, warum? Ist es wirklich nur der royale Tratsch, der die Menschen so fasziniert? Oder ist es doch auch das politische System dahinter, das zu bröckeln scheint? Auf den Störenfried folgt George VI. oder auch liebevoll Bertie genannt: König Edward VIII. hat abgedankt. Weil er die Frau heiraten will, die er liebt. Das zeigt doch die Rückwärtsgewandtheit und die verstaubten Strukturen der britischen

Und nun soll Bertie es richten. Es ist schwer vorstellbar für mich, wie er in diesem Zirkus ein stabiles Gegengewicht zu den vielen faschistischen Tendenzen in Europa werden soll.

Und doch ist die ganze Inszenierung nur Ablenkung, von den wirklich wichtigen Themen: die Situation der Arbeiter:innenklasse, ihre Arbeitslosigkeit und soziale Verelendung. Gleichzeitig bin ich fasziniert, vor allem von den Reaktionen auf solche „historischen“ Ereignisse. Es wirkt wie ein großes Theaterstück, das Volk in der Hauptrolle. Quasi eine Inszenierung in der Inszenierung. Die Monarchie schafft ein Erlebnis und die Menschen interagieren.

12.12.1936

Liebes Journal,

ich soll tatsächlich zur Krönung fahren. Im Auftrag von „Ce Soir” –eine neue linke Zeitung hier in Frankreich. Ich bin nun Teil des fotografischen Redaktionteams.

Ich habe mich heute lange damit beschäftigt, was die zunehmenden Reportageaufträge für mein Werk bedeuten. In den kommenden Monaten wird es nicht nur die Krönung von Bertie sein. Letztes Jahr habe ich den Spanischen Bürgerkrieg vor Ort dokumentiert. Bereits hier wäre das Fotografieren von einzelnen Bildern ungeeignet gewesen … Ich überlege und verbleibe …

12.3.1937

Ich habe sehr unruhig geschlafen – mit vielen Gedanken im Kopf. Deswegen heute nur ganz kurz, um mich selbst daran zu erinnern: Ich muss klarer werden. Meine Fotos müssen klarer werden. Die Reportagen verlangen zukünftig eine klarere Aussage. Goldener Schnitt und Geometrie: ja. Außergewöhnliche Auf- und Untersichten, der haptische Eindruck von Texturen weniger. Ich muss mehr in Bildserien denken und narrative Zusammenhänge abbilden. Ich bin gespannt, wie es mir gelingt, meine noch immer anhaltende Experimentierfreude und den vermeintlich nüchternen Fotojournalismus zu verbinden. Ereignisse wie die Krönung werden es zeigen. Ein Klick mit meiner Leica und alles soll verbunden sein.

Ich bleibe gespannt

1.4.1937

Nur noch wenige Tage bis zur Krönung – dem Ereignis des Jahrhunderts, zumindest in Großbritannien. Bertie ist bestimmt ganz aufgeregt, die ganze Nation ist aufgeregt! Ich bin ebenfalls gespannt. In meinem Freund:innenkreis wird debattiert – ist die Existenz eines Monarchen gerechtfertigt? Ich frage mich, was (neben all dem Bier) in den Köpfen des britischen Volkes vor sich geht.

10.3.1937

vom aufblühenden Frankreich ins bewölkte und regnerische London. Die Briten würden es vermutlich auch Frühling nennen. Hello London! Auch abseits vom Big Ben eine sehr fotogene Stadt.

Für die Krönung selbst hat unser noch unbekanntes Blatt keine Fotogenehmigungen für die zentralen Orte der Zeremonie erhalten. Ich frage mich, ob andere kritische Medien bessere Sicht auf die Krönung in Westminster Abbey bekommen. Kommunist:innen in der Krönungskirche kann ich mir kaum vorstellen. Ich bin jedoch gespannt, inwiefern andere Blätter, die der Krone näherstehen, berichten. Man muss nicht Kommunist:in sein, um die Inszenierung zu hinterfragen. Ich hoffe die Boulevardmedien bekommen nicht zu viel Raum in Westminster Abbey. Sonst sind deren Themen auch im Anschluss des Ereignisses zu stark platziert.

Doch was wollen unsere Leser:innen von “Ce Soir” sehen? „All eyes on Bertie“, wie eine britische Zeitschrift titelt? Wie groß ist die „Hoffnung Bertie“? Ein König, der eher zufällig gekrönt wird. Ich habe mich hierzu heute mit meinem Kollegen von “Ce Soir”, Maurice Broc-Dubar, unterhalten: Er möchte, dass wir eine andere Seite der Krönung zeigen als die anderen. Ich überlege noch welche Seite ...

Morgen werde ich den ganzen Tag durch die Stadt laufen oder wie meine Genoss:innen sagen würde: Mich wie ein Boxer auf die Lauer legen, von einem Bein auf das andere, mit der Leica ...

To-Do in ndon

5.5.1937

die Bilder von gestern Abend sind wohl eher verwackelt. Mein Kopf dröhnt. Im Pub ist etwas viel Bier geflossen. Mir gehen viele Gedanken durch den Kopf, viele Eindrücke, mit denen mich London versorgt – das muss ich alles erst einmal verarbeiten. Die Stadt

Anderseits bemerke ich die Krise in diesem Land – auch wenn sie im Schatten der Krönung unsichtbar werden soll. Aber gelingt das? Oder wirkt der Festakt nicht eher wie ein Brennglas auf die Probleme in Großbritannien? Ich habe faschistische Gruppierungen beobachtet, wie sie im Zuge der Krönung Proteste abhalten – beängstigend, mit welch einer Wucht und Masse sie durch die Straßen laufen. Auf den ersten Blick scheint es, als hätte sich das Land von den Folgen der Massenarbeitslosigkeit und auf den Straßen Armut. So haben auch verstärkt linke Gruppierungen zu Demonstrationen aufgerufen.

Heute habe ich einen blinden Veteranen begleitet: Er hat Bilder des neuen Königs und der Königin verkauft und dabei ein Schild mit „undefeated“ getragen. Er erzählte mir, dass „undefeated“ bewusst in Anführungszeichen gesetzt sei. So habe er zwar den Krieg gewonnen, aber seine Sichtbarkeit als Mensch hat er durch die

6.5.1937

Liebes Journal,

ich kann die „tasty traditional baked beans“ schon am zweiten Tag nicht mehr sehen. Auch heute ist mein Magen flau. Vom Essen? Oder doch vom Alkohol? Ich möchte eigentlich gar nicht lästern, mich fasziniert vielmehr der schlechte Geschmack der Briten hinsichtlich Essen und Kleidung. Es ist ein komisches, rückwärtsgewandtes Land. Jede:r verehrt alte Bräuche, die keinen Nutzen mehr haben. Und gleichzeitig diese unglaubliche Energie am Glas. Außergewöhnliche Ektasen. Bereits einige Tage vor der Krönung gleicht die Stadt einem Rummel, mit Schaulustigen und schaurig schönen Begegnungen. Ein Ort der Gegensätze, sind mir gestern doch noch die gesellschaftlichen Nebenschauplätze aufgefallen. Und doch: Bereits jetzt wird festlich gefeiert. Die Brit:innen machen ihrem Ruf alle Ehre. Sex auf der Straße, überall fließt Alkohol: Bier und Whiskey. Die Engländer:innen scheinen zu wissen, wie man sich amüsiert – auf dem größten Rummel der Welt. Oder betrinken sie sich auch, um zu vergessen?

7.5.1937

Liebes Journal,

berall Souvenirs des neuen Königpaars. Die Straßen sind bereits seit Tagen geschmückt. Amateurhafte Theaterinszenierungen auf der Straße, die das Königspaar (auf britisch-humorvolle, also

Heute merke ich, dass die Monarchie eine wichtige Rolle im Leben und in der Mentalität der Brit:innen spielt. Sie ist zentral für die nationale Identität. Wenn man mit den Menschen spricht, sehen viele in der Monarchie Kontinuität und Stabilität in einer unsicheren Welt. Gleichzeitig gibt es jedoch auch kritische Stimmen. Nicht umsonst fand hier eine große Demonstration von Busfahrer:innen statt. Das geschäftige Treiben der Stadt war für

Neben dem Festhalten an der Tradition spüre ich auch den Drang nach Veränderung in der Gesellschaft. Interessant, dass all diese Menschen zu EINEM Ereignis zusammenkommen, es vereint sie alle! Egal welchen Hintergrund sie haben. Und gleichzeitig hegen sie verschiedene Hoffnungen für die Zukunft. Bertie lädt ein – ich bezweifele jedoch, dass er „seine“ Gäste kennt. Im Trubel der Massen erscheint mir die Krönung selbst zunehmend zweitrangig. Ein neuer König? Was wird das groß ändern? Aber vielleicht geht es genau darum, um das Spiel mit den Hoffnungen der Bevölkerung.

heute ist es so weit. Ich frage mich, ob das britische Volk nach

eigentlichen Tag der Krönung anwesend zu sein. Tatsächlich habe ich bereits gestern Abend, gegen 22 Uhr gesehen, wie sich die ersten

Kurzes mise à jour: Wie konnte ich nur das Durchhaltevermögen der

Nieselregen scheint sie nicht vom stundenlangen Warten auf den Straßen Londons abzuhalten. Ältere Menschen, die sich aufgemacht haben. Es sind viele müde Gesichter. Die Plätze mit guter Sicht sind bereits besetzt. Und zwischendrin immer wieder aufgeweckte, lachende Kinder. Es ist ein wildes Treiben. So viele Momente und spontane Situationen, die ich hier beobachte. Ich hoffe, ich kann

Prozession. Ich kann nur in den Reaktionen der Menschen erkennen, wenn etwas Aufregendes passiert. Ich fotografiere die Massen von Schaulustigen, die sich in den Parks und auf den Trottoirs Londons drängen – sie ziehen mich in ihren Bann. Sie klettern sogar auf Bäume und Statuen, um eine bessere Sicht zu haben. Vor allem aber fotografiere ich den Blick der Zuschauer:innen - den Akt des Hinsehens, während sie selbst das Spektakel beobachten. Ich bin gespannt auf die Abzüge.

12.5.1937

15:44 Uhr

Kurze Notiz um diese skurrile Konversation zwischen einem Franzosen und einem Briten nicht zu vergessen. Irgendwie auch charmant.

Franzose: Das wage ich zu bezweifeln! Aber eins muss ich zugeben, die Briten wissen, wie man eine Parade veranstaltet. Bei uns wäre das eher eine Revolution.

Engländer: Haha, da hast du wohl recht. Aber zumindest haben wir jetzt eine Krönung und keine Guillotine!

Franzose: Touché! Aber eines können wir beide sicher sagen – es ist eine royale Erfahrung.

Engländer: Absolument! Lass uns darauf anstoßen – mit Tee und Baguette!

17:02 Uhr

Vite, vite, fast, fast, schnell, schnell – durch die vielen

Journalist:innen und Menschenmassen ist es sehr trubelig, das laute Stimmengewirr in verschiedenen Sprachen verstärkt das. Ich werde langsam müde: Die Libelle wird immer mehr zur Hummel. Aus dem tänzelnden Licht- ein boxendes Schwergewicht. Immer noch auf Zack, aber etwas behäbig. Und auch die anderen Menschen sind sichtlich erschöpft. Immer mehr von ihnen legen sich auf die blanken Straßen, um zu schlafen.

23:12 Uhr

So viele Eindrücke. Ich kann heute nicht mehr schreiben. Ich muss mich ausruhen. Erst Morgen nehme ich wieder den Stift zur Hand. Auch meine Kamera habe ich bereits zur Seite gelegt.

God save our gracious King, Long live our noble King, God save the King: Send him victorious, Happy and glorious, Long to reign over us: God save the King.

Laut oder leise, hohe und tiefe Stimmen, unterschiedliche Konstitutionen: textsicher, patriotisch oder einfach nur grölend. Es ist bereits 14 Uhr am Tag nach der Krönung: Ich frage mich, wann ich diesen Ohrwurm wieder verliere. God saaaaaaaaaave the King!

Paradox - anstatt den König zu beschützen, hätte Gott etwas mehr auf die Menschen achten sollen: lots of beer, wartend, stehend, aus Erschöpfung in den Schlaf fallend und nicht selten hungrig – die Menschen waren neben aller Freude sichtlich angestrengt. Jubel, Trubel, aber am Ende des Tages vermutlich auch viel Ernüchterung. Einen Tag danach merke ich, dass ich persönliche stark davon fasziniert bin, wie sich Menschen in einer großen Menschenmenge weitestgehend unbeobachtet verhalten. Seit gestern Nachmittag kümmere ich mich darum, dass meine Bilder entwickelt werden. Gleich haben wir nochmal eine Redaktionssitzung.

13.5.1937

Liebes Journal,

heute ist die “Ce Soir” mit meinen Bildern erschienen. Die Headline lautet „Pour voir le Courronement“ (Um die Krönung zu sehen). Dass eine Krönung von Ton-, Foto- und Filmaufnahmen dokumentiert wird, ist etwas völlig Neues. Die Berichte zur Krönung waren immens. Meine Bildstrecke fällt hier vermutlich etwas aus dem Raster.

Ich selbst habe den König nicht gesehen. Dieses Tagebuchschreiben könnte während einer Anklage gegen mich verwendet werden. Aber meine Bilder zeigen es sowieso: Ich stand mit dem Rücken zum Oberhaupt des Königshauses. In Monarchien ist es ein Verbrechen, dem König den Rücken zuzukehren. Die Kamera war stets in meiner Hand. Die Linse jedoch nicht auf Bertie, sondern auf die Zuschauer:innen gerichtet. Ich möchte nicht damit prahlen, dass ich die königliche Etikette gebrochen habe. Darum ging es mir auch nicht (in erster Linie). Es war vielmehr notwendig, um das eigentliche Spektakel festzuhalten.

14.5.1937

en Schauspieler:innen, die mich zutiefst begeistern, sind die Leben selbst, also die wirkliche Show, die ich (durch meine Kamera) beobachte, während ich auf und ab gehe Zuschauer:innen gibt es nicht nur in Theatern Jeder ist irgendwann ein:e Zuschauer:in, so wie jeder Prosa spricht, ohne es zu wissen Die Tränen, die der Herr im Publikum vergießt, rühren mich immer noch viel mehr als die der Schauspieler:innen Was mich beeindruckt, ist die Mitwirkung des Publikums an etwas, das von allen, überall, jetzt und früher, geteilt (oder abgelehnt) wird – ein Grundbedürfnis wie Hunger und Liebe Diese Show ist für mich ohne Künstlichkeit Die völlige Hingabe der Zuschauer:innen an ihre Emotionen weckt in mir immer sowohl eine fast unanständige Neugierde als auch einen tiefen Respekt

Liebes Journal,

15.5.1937

noch immer dröhnt mein Kopf von all den Gedanken, die ich während der Festlichkeiten hatte. Vor lauter Beobachten bin ich nicht selten gegen Menschen gelaufen, habe sie angerempelt und mich im Trubel verloren. Häufig habe ich meinen Kopf an den Periskopen gestoßen. Diese Sehrohre, mit denen die Schaulustigen auch aus den hinteren Reihen einen Blick auf die Krönungsprozession zu erhaschen versuchten, waren überall. Es hat mich fasziniert, wie Menschen die Prozession verfolgten. Vor allem jene, die sich nicht schon früh morgens einen Platz in der ersten Reihe sichern konnten. Findige Händler:innen boten die Periskope überall an, es wurden sogar Periskope aus Pappe gebastelt.

Ich habe mir die letzten Stunden einige Gedanken zu diesen Sehhilfen gemacht. Sie waren im Ersten Weltkrieg ein militärisches Gerät, um den Feind zu beobachten. Beobachtet das englische Volk einen – oder gar seinen – Feind? Bertie, der Feind? Britische Ausbeuter als Feinde? Monarchie als Feind?

Durchaus ein Symbol also, auch wenn man bedenkt, dass es während der Prozession vor allem Arbeiter:innen waren, die solche Periskope verwendeten. Im 19. Jahrhundert wurden diese eher noch von Kindern aus wohlhabenden Adelsfamilien verwendet. In der Redaktionssitzung von “Ce Soir” sprach meine Kollegin von einer Rückeroberung.

Doch auch ich wurde angerempelt. Meist von Menschen, die ebenfalls dem König kurz ihren Rücken zuwandten. Sie hielten meist einen Stock, an dem ein Spiegel befestigt ist – um mit diesem die Prozession zu beobachten, mussten sie sich ebenfalls umdrehen und sich richtig positionieren. Kein Wunder, dass Menschen, die ihren Hals wenden und in den Himmel blinzeln, sich auch wie Libellen bewegen – immer auf der Suche nach dem perfekten Bild. So in etwa muss das auch bei mir aussehen (ich hoffe etwas unauffälliger) –nur, dass ich keinen Stab, sondern meine Leica in der Hand halte. Ich war also nicht die einzige Person, die mit dem Rücken zum König stand. Ich war in bester Gesellschaft.

Henri

Henri Cartier-Bresson: Krönung Königs George VI, London, Großbritannien, 12. Mai 1937, © 2024 Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

Liebes Journal,

„The king goes by, he sleeps“ – immer wieder bleibe ich an diesem Bild hängen. Nicht nur aufgrund der Ästhetik selbst: Ein Foto zu machen heißt, gleichzeitig und im Bruchteil einer Sekunde sowohl die Tatsache selbst als auch die strenge Organisation der visuell wahrgenommenen Formen zu erkennen, die ihm Bedeutung geben.

Dieses Bild beschreibt die verschiedenen gleichzeitig geschehenden Geschichten der Krönung gut – und vor allem die Ambivalenz. Der sichtlich erschöpfte Mann, die Abwesenheit des Königs, auch wenn er da war, die Menschen mit Schiebermützen und Sonntagsanzügen. Der Mann schläft, betrunken und/oder müde – liegend in einem Haufen weggeworfener Zeitungen, die Schlagzeilen der Titelseiten und die Fotos des Königs sind einerseits der Müll vom Tag und gleichzeitig Bett des Schlafenden. So verabschiede ich mich nun von den Krönungsereignissen, morgen geht es zurück nach Paris.

16.5.1937
Henri Cartier-Bresson: Krönung Königs George VI, London, Großbritannien, 12. Mai 1937, © 2024 Fondation Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos

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