L pr ese ob e
Story Nr. 1
Ben Ihre Stimme klang ein wenig rau. Sie kam von schräg oben links, wie eine Frage: «Ben?» Kein Zweifel, sie meinte ihn. «Ben?», jetzt etwas lauter. Er drehte den Kopf in ihre Richtung. Ihre Hand griff seine Rechte, zog sie von der Armlehne und drückte sie, prüfend wie einen – einen Pfl… – einen Porg… – einen … ihm fiel in diesem Zustand zwischen Tag und Traum das Wort nicht ein; sie drückte seine Hand, wie man eine Frucht drückt, um den Reifegrad zu prüfen. «Anett», sagte sie, während er richtig zu sich kam. «Schalom, Anett», sagte es in seinem Kopf. Er war überrascht. Es war Dienstag. Und dienstags hatte sie sonst nie Zeit für ihn wegen des Jobs in der Agentur. «Wir sind für diesen Monat mit allen Projekten durch», sagte sie. «Also bin ich einfach mal vorbeigekommen.» Seine Bauchdecke entspannte sich. Er fühlte sein Gesicht wärmer werden. Sie verstand so unendlich viel mehr als die Neue, die Zaghafte, die Unbeholfene, die nicht wusste, wie sie mit ihm umgehen sollte, seit sie ihm letzte Woche zum ersten Mal begegnet war. Die Neue würde ihm bald ihre Geschichte erzählen: warum sie hier war, wie wahnsinnig aufregend und neu das alles für 2
Story Nr. 1 · Ben
sie sei in diesem Land, weit weg von zu Hause; dass sie nun für ihn da sein werde, aber dass natürlich Hannah nach wie vor alles im Griff hätte. Hannah, die er schon am Schritt auf dem Kiesweg vor dem Haus erkannte, jeden Morgen kurz nach dem Weckerklingeln. Schon dieses Knirschen der Kieselsteinchen war ihm zuwider. Wie Hannah keine zwanzig Minuten später in sein Zimmer kam, Morgen für Morgen mit derselben polternden Präzision, um ihm das Frühstück zu bringen. Ein Croissant, ein weich gekochtes Ei, eiskalt, eine Tasse Jasmintee, lauwarm. Ihr Geplapper vom Verkehr auf der Hauptstraße oder von der Hitze oder von wer weiß was. Hannah war sein täglicher Schmerz. Anett war die Verheißung. Die Neue war die Neue, die für einen Monat blieb oder für ein Jahr und dann für immer verschwand.
Als die Kugel seinen linken Sehnerv durchschlug, meinte er für einen Moment große Erleichterung zu spüren. Ein heißer Strahl, der das letzte Bild mit sich reißt. In seinem Kopf mischte sich der dumpfe Schlag mit dem Widerhall des Schusses von der gekachelten Wand. Die Stille danach war wundervoll. Tiefes Blau. Dann kam das Blut, warm und sanft an seiner Schläfe, dann kam der Schmerz. Dann schnelle Schritte auf dem Flur. David, der seinen Namen rief, schrill wie ein Würgfalke über dem Negev. Aber es war nicht vorbei. Es ging weiter. Viele Monate waren schon vergangen, seit Ben versucht hatte, mit 3
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einer Pistolenkugel zu sühnen, was er mit einer Pistolenkugel verschuldet hatte. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule. Seele um Seele. Früher oder später versuchten die jungen Dinger, es aus ihm herauszubekommen. Er musste jedes Mal grinsen, wenn er daran dachte. Wie sie sich mühten, die Frage selbstverständlich klingen zu lassen, als ginge es um eine Blinddarmoperation. Oder wahnsinnig einfühlsam, weil sie auch schon mal einen schlimmen Verlust verarbeiten mussten. Opas Abgang oder die finale Kolik bei – die kleine Belgierin vom letzten Winter hatte ihm sogar den Namen ihres Pferdes genannt. Ob er es heute bedaure, wollte einmal eine von ihm wissen. Er hatte Ja gesagt und gedacht: Dass ich mir den Lauf damals nicht hinter die Schneidezähne geklemmt habe, das bedaure ich. Er dämmerte noch einmal kurz weg. Anett war nicht so plump in seiner Geschichte herumgestolpert. Sie hatte ihn nie gedrängt, etwas preiszugeben, seit sie ihn zum ersten Mal besucht hatte vor …, wie lange ist das her? Zwei Jahre? Er hatte sie anfangs auflaufen lassen, war einsilbig gewesen, mürrisch, das Klischee eines jungen, frustrierten, verkrüppelten Veteranen. Aber sie ließ sich nicht abschütteln. Ihr schien es wirklich um ihn zu gehen, nicht darum, in ihrer Gemeinde zu glänzen als Fleißigste des Besuchsdienstes. Sie lachte über seine Scherze. Sie kannte die Mannschaftsaufstellung für den nächsten Spieltag. 4
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Sie benutzte keines dieser fruchtigen Parfüms. Und sie verstand etwas von Kino. Arthouse. Citizen Kane. Mulholland Drive. Die Top Drei von Charlie Chaplin: The Kid, City Lights, Limelight. Sie konnte ihn mit ihren Worten Filme sehen lassen. «Wie wär’s mit einem Spaziergang?», fragte das Mädchen. «Ich war eingenickt, Anett», sagte er.
Auf dem Flur endlich wieder dieser Hauch von Mandelblüte in der Luft, das Aroma ihres Haares. Wann immer sie zu ihm kam, sie brachte den Frühling mit. Er mochte die Art, wie sie die Bremse lçste, ihre Hand, die seinen rechten Oberschenkel streifte. Nicht dieses ruppige Gezerre am Hebel, das Hannah sich angewçhnt hat. Nicht das zaghafte Nesteln der Anfängerinnen. Das Mädchen war für ihn eine Virtuosin der Kniehebelbremse. Das war ihm schon beim ersten Mal klar. Anett.
Sie hatten das Haus die ganze Nacht hindurch observiert. Im Morgengrauen kam der Befehl vom Segen Mischne: Zugriff! Hadar direkt vor ihm, das TAR-21 im Anschlag. Und dann der übliche Zauber: Blendgranaten, Geschrei, Feuer. Die Untersuchungskommission ermittelte später, dass sein Team 45 Schuss abgegeben hatte. Woher die Kugel kam, die den Kleinen traf, konnten sie angeblich nicht rekonstruieren. Aber Ben wusste es von dem Moment an, da sie den Lauf verließ, 5
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dass sie sich ihren Weg quer durch den Raum bahnen wird, um genau dort einzuschlagen; eine Handbreit neben dem Türpfosten, auf Hüfthçhe, exakt dort, wo ich es habe aufblitzen sehen. Es war, als risse jemand den kleinen Jungen an den Haaren nach hinten. Als sie wieder im Sand Cat saßen, hielt er immer noch die Trinkflasche in der Linken. Mit lindgrünem Deckelchen und einem lachenden Frosch neben der Skala, hinter der die gelbliche Flüssigkeit tanzte. Die kleinen Wellen hinter dem Frosch blitzten wirr im Schein seiner Helmlampe. Zurück im Quartier, stellte er das Fläschchen auf den Tisch neben seine Kaffeetasse. Etwas mehr als achtzig Milliliter, wahrscheinlich Saft von – Saft, Am… – Ars… Ben steckte wieder einmal fest. «Wie nennt man Starking und Golden Delicious?», fragte er das Mädchen, als es den Stuhl mit quietschenden Reifen in den Aufzug schob, und hçrte, wie Anett leise schnaufte. So klang es fast immer, wenn sie lächelte. «¾pfel?», sagte sie, wieder etwas fragend. Matan hatte das Trinkfläschchen gepackt und in den Treteimer neben der Essensausgabe gestopft. Der Eimer war fast voll, so dass der Deckel nach dem Zuklappen noch einen Spaltbreit offen stand. Ben konnte von seinem Platz aus den lindgrünen Deckel sehen, wie er zwischen einer Papierserviette und einem Pfirsichkern hervorleuchtete. «Bist du meschugge?», hçrte er Matan rufen. Mehr nicht. Nur diesen Satz. David warf ihm von der Tür aus einen Blick zu, den er nur einmal zuvor an ihm gesehen hatte. 6
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David hatte es als Erster erkannt.
«Da ist wieder dieser clevere Spatz», sagte das Mädchen. «Hm», machte Ben. «Der die Zuckertütchen ausleeren kann.» Sie hatte ihn zum kleinen CafØ hinübergefahren. In der Ferne hçrte er die Schnellstraße drçhnen, am Tisch irgendwo hinter ihm musste jemand Zeitung lesen, dem Geruch nach und dem leisen Rascheln zufolge, das ab und zu herüberklang. Manchmal meinte er, an der Art des Umblätterns erkennen zu kçnnen, ob es der Wirtschaftsteil war oder der Sport. Aber er war sich nie ganz sicher, ob da nun ein junger Maccabi-Tel-Aviv-Fan andächtig den Spielbericht las oder ein gelackter Mittvierziger die Bçrsenkurse der TASE. Es roch nach kalter Asche und gerçstetem Kaffee. Aber er wartete nur darauf, dass die nächste Brise ihm wieder eine Ahnung von Mandelblüte zufächeln würde. Dann war ihm, als weiteten sich seine Nasenflügel, um kein Molekül entwischen zu lassen. Steh auf, meine Freundin, deine Stimme lass mich hçren!, sprach es in seinem Kopf. «Was macht er denn?», fragte er. «Unser Spatz.» «Er packt wieder die runtergefallenen Tütchen und schüttet den restlichen Zucker heraus», erklärte ihm Anett. «Und seine Chawern picken ihm die Hälfte vor dem Schnabel weg», fantasierte Ben. 7
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«Das scheint ihm nichts auszumachen», hçrte er sie lächeln. «Vor allem braucht er immer nur einen Versuch, um an den Zucker zu kommen. Er weiß, welche Seite aufgerissen ist.» Ihre Stimme verriet ihm, dass sie gerade auf den Boden links neben sich schaute, wo die Spatzen den Zucker aufpickten. Verzaubert hast du mich, klang es in ihm. Ja, verzaubert. Das Flattern kleiner Flügel kündigte die Kellnerin an. Sie brachte Kaffee und Gebäck. Das beste Konafa in der Stadt, meinte das Mädchen. So wie bei der Großmutter, mit selbst gemachtem Fadenteig. Er hçrte so gerne, wie sie aß. Das Knistern des Teiges unter der Gabel, das Geräusch, wenn sich ihre Lippen çffneten, wie ein Tautropfen, der auf ein Anemonenblatt fällt. Dann las sie ihm die Beiträge aus der Haaretz vor, die sie ausgesucht hatte. Kino und Fernsehen zuerst, wie er es mochte. Du hast mir das Herz versehrt mit einem deiner Augen, mit einer Drehung deines Halsgeschmeides.
In der Nacht knallten die Bilder in sein Hirn. Trotz Xanax in Hçchstdosis. Sie drängten sich in seine Träume. Nichts Konkretes, aber als er aufwachte, spürte er sein Herz heftig pochen, und es dauerte eine Ewigkeit, bis sein Atem wieder ruhiger ging. Es war dasselbe Gefühl, das ihn auf dem Rücksitz des Sand Cat angefallen hatte. Wie ein schwerer, nasser Mantel, den ihm jemand übergeworfen hatte, der jeden Schritt schwerer machte. Irgendwann hatte er bemerkt, dass er sogar die Fasern des Mantels an seiner Haut reiben hçren konnte, sobald er sich bewegte. Das war vielleicht zwei Wochen, bevor Davids Stimme über den Flur hallte wie der Schrei des Falken. Als Bens Atem wieder ruhiger ging, hätte er gerne nach ihr gerufen. Sie würde erst in drei Tagen wieder kommen. 8
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Bis dahin war er allein mit den Gespenstern.
Die Abende waren noch sehr mild. Der Duft deiner Salben kçstlicher als alle Balsamdüfte. Hatte er den Satz laut gesagt, oder warum schwieg das Mädchen auf einmal neben ihm auf der Bank in der kleinen Grünanlage in Hçrweite der Straßenkreuzung? Nein, sie scheint einfach nur nachzudenken. Sie spürte, dass er sich ihr zuwendete, und verstand die Frage, die er nicht gestellt hatte. «Ich musste an meinen Bruder denken.» «Hani, richtig?», fragte Ben. «Das hast du dir gemerkt», sagte sie sanft. Ein wenig Spott lag in ihren Worten; dann wurde sie wieder ernst: «Er bekommt bestimmt wieder keine Einreisegenehmigung.» «Wer weiß?» Er versuchte, zuversichtlich zu klingen. «Es sind doch noch mindestens zehn Wochen bis zum Fest, und es ist seit dem Frühjahr ruhig in Gaza. Vielleicht sind sie diesmal großzügig.» Da war sie plçtzlich wieder: Hanis Geschichte. Anetts großer Bruder, der 2007 zum letzten Mal mit seiner Familie in Bethlehem gewesen war, um gemeinsam mit Anett Weihnachten zu feiern. Das war ein halbes Jahr, nachdem die Hamas die Kontrolle im Gazastreifen übernommen hatte. Danach hatten sie jeden Reiseantrag abgelehnt, und das Mädchen blieb allein in der neuen Heimat. Ben hçrte, wie Leute an ihnen vorbeigingen. Hektische Schritte von Frauen auf dem Weg nach Hause. Das leise Seufzen von Gummisohlen, begleitet vom Getrippel eines Kindes, vielleicht vier Jahre alt oder fü… 9
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Er versuchte seine Gedanken zu ordnen: stellte sich Hani vor, den kleinen Schusterladen, den sie ihm beschrieben hatte, die Schwägerin, die sich nur noch mit Kopftuch in den Supermarkt wagte, um nicht angezischt zu werden. Er erinnerte sich an ihre Erzählung vom Sprengsatz auf einem Pick-up, der nur einen Block von Hanis Laden entfernt hochgegangen war. Als hätte Ben es selbst erlebt, so anschaulich hatte das Mädchen das Telefonat mit Hani wiedergegeben, hatte von Splittern und Trümmern erzählt und der Angst, die im Viertel umging wie die selbst ernannten Religionspolizisten.
Das Getrippel ging unter im Verkehrslärm, und sein Hirn war längst dabei, ihm wieder das große Unheil vor Augen zu stellen. Nein, das Unheil nahm hinter diesen Augen Gestalt an, aus denen er alle Bilder herausgeschossen hatte: Wie sich Hani hatte breitschlagen lassen von seinem Sohn, nur einmal beim besten Freund übernachten zu dürfen am anderen Ende der Siedlung. Ben spürte, wie sich der schwere Mantel enger um seine Schultern legte. So oft war er schon an diesem Punkt gewesen, hatte seine Gedanken geordnet, sich Worte zurechtgelegt. Als er sie davon reden hçrte unter Tränen, hätte er es herausschreien wollen, um es endlich loszuwerden. Dann war sein Puls schneller gegangen, sein Atem oberflächlich und hektisch, bis ihm schwindelig wurde, und er hatte nichts gesagt.
Zwei Mal nur hatten sie bislang von diesem Tag des Unheils gesprochen. Zwei Mal in all der Zeit, seit sie zu ihm gekommen war. Beim zweiten Mal hatte er seine Angst niedergerungen und sie gefragt: «Du musst diese Soldaten doch hassen, die den Kleinen erschossen haben.» 10
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Und sie hatte gesagt: «Ich habe sie gehasst. Wochenlang. Ich habe Nächte durchgehasst. Aber das hat mich ganz krank gemacht. Und dann habe ich angefangen, sie zu segnen.» Sie hatte ihn dann lange angesehen, abwartend. Bis ihr Schweigen in seinen Ohren zu klirren begann. «Es ist wie in Hinkels Schlussmonolog», sagte sie dann. «Der große Diktator», sagte er. «Charlie Chaplin.» «Nur wer nicht geliebt wird, hasst!» Zurück in seinem Zimmer, hatte er sich das Finale des Films noch einmal auf dem PC angehçrt: «Vergesst nie: Gott lebt in euch allen!» Aber er konnte es nicht fassen. Nun waren sie wieder an diesem Punkt. Zum dritten Mal. In diesem Park, während die Sonne dem Schabbat entgegeneilte. Zum dritten Mal dachte er daran, sie anzuschreien, sie zu verscheuchen, und wusste im selben Moment, dass er damit nicht sie, sondern sich selbst in die Wüste schicken würde. Er würde verschmachten. Solange ich meine Schuld verschwieg, zerfiel mir mein Gebein, sprach es in seinem Kopf. War sie vielleicht deshalb in genau dieses Heim gekommen? Hatte sie ihn gesucht? War es Zufall, dass damals nicht – wie hieß sie? – Miriam, richtig!, – dass damals nicht Miriam bei ihm gelandet war aus diesem verdammten Besucherdienst? Oder Mosche, der das Soldatenleben kannte …?
Das Mädchen hatte ihn die ganze Zeit über aufmerksam betrachtet. Er spürte, wenn ihr Blick auf ihn gerichtet war. Sie war ganz ruhig gewor11
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den, eine Gefährtin auf dem unsichtbaren Weg von diesem Park nach Bethlehem und weiter … Sie war die beste stille Weggefährtin, die ihm je begegnet war. So sprudelnd und ansteckend sie zu erzählen verstand, bis ihre Erlebnisse und Geschichten ihn aufsogen, so großartig verstand sie es, zu schweigen. In ihrer Nähe verlor die Stille jeden Druck. Normalerweise. Aber jetzt führte der Weg weiter: von Bethlehem nach Gaza, vor das Haus des Unheils, über dem die Dämmerung den Beginn eines neues Tages verkündete und zugleich das Ende des Lebens. Sein Kehlkopf schien in seinem Hals festzukleben. Er konnte nicht schlucken, nicht sprechen. «Ben?», fragte sie mit dieser festen, rauen Stimme, die er aus Tausenden herausgehçrt hätte. Sie sprach seinen Namen aus wie eine sanfte Berührung. Aber diesmal lag auch etwas Herausforderndes in ihrer Stimme. Wusste sie, was gerade hinter seinen Augen Gestalt annahm? Sah sie das Blitzen neben dem Türrahmen? Auf Hüfthçhe? «Einen Moment», sagte er und erschrak, weil seine Stimme auf einmal so dünn klang. Sofort richtete sich ihre ganze Energie auf ihn. Das Mädchen ein Magnetfeld. Er eine Kompassnadel. Das Pochen in seinen Ohren, jeder Atemzug ein Kraftakt. – Bis er schließlich zu reden begann. Keiner hatte ihn in all den Jahren so darüber sprechen hçren. Die Kommission nicht; der Psychologe nicht; nicht David an jenem Mittag auf dem Friedhof in Kfar Saba. Nicht einmal er selbst hatte je zuvor diese Worte aus seinem Innersten aufsteigen hçren. Sie kamen nicht stoßweise wie Gewehrsalven. Sie rannen über seine Lippen wie Blut aus einer tiefen Schnittwunde. «Anett.» 12
Story Nr. 1 · Ben
Lange Pause. Der Verkehr drçhnte. Nur seine Verzweiflung war noch lauter. «In diesem Haus, bei diesem Einsatz», er spürte, wie sich das gesamte Universum ihm zuwandte. «Einer der Soldaten in diesem Kommando …» Es war, als stemmten sich die Worte dagegen, ihren Weg aus seinem Mund zu nehmen. Ben presste sie heraus: «Ich. Der Junge. Es war meine Kugel.» Es war nicht die präzise Sprache der Einsatzberichte mit ihrer gnadenlosen Sachlichkeit. Es war nicht das verquaste Vokabular der Traumaspezialisten. Es war nicht Davids Mischung aus Angst und Hilflosigkeit. Es waren seine eigenen Worte. Es war seine Entscheidung, seine Kugel. «An diesem Morgen habe ich so viele Leben zerstçrt. Und ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Mein eigenes war ja schon kaputt, bevor ich …» «Bevor du versucht hast, es auszulçschen», ergänzte Anett sanft, als fühle sie jetzt, wie er damals fühlte.
Zu jeder Zeit, bei Tag und in der Nacht, lag deine Hand wie Blei auf mir und nahm mir meine Lebenskraft wie in des Sommers heißer Glut, hatte er zum Schluss wirklich gesagt. Die Worte hingen für einen Moment zwischen der Bank und seinem Stuhl in der Luft, bis das Mädchen sie mit beiden Händen griff und an sich zog.
Ihre Finger auf seinen Schultern, er spürte ihre Daumen neben seinem Hals auf den Schlüsselbeinen. Er war erschçpft, konnte kaum noch seinen Oberkçrper straffen. Sie schwiegen. Sieben ruhige Atemzüge des Mädchens streiften über sein Gesicht. Der Duft von Mandelblüte. 13
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Sie griff in den Kragen des schweren Mantels und sagte: «Danke, mein Freund.» Er wartete ab, war bereit, von ihr Abschied zu nehmen, schwieg. Der Druck auf seinen Schultern ließ nach. «Er hieß Kalib», hçrte er ihre Stimme wie einen Trost. «Und ihr wolltet einen Militanten erwischen.» Ein Zittern stieg in ihm auf, von den Füßen durch Becken und Bauch hinauf zu seinen Augen, die schneller hin- und herrollten als jemals zuvor. Das Zittern schüttelte alle Begriffe durcheinander. Er hçrte sich reden wie ein Kleinkind, das seine ersten Worte formt, fast lallend. «Du wusstest, dass ich es war», sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. «David hat es mir so erzählt. Monate nachdem ich dich zum ersten Mal besucht habe.» Sie schien noch einmal in sich hineinzuhorchen, fuhr dann fort: «Alle Details passten zusammen. Was wir von Kalibs Tod wussten und was David von eurem Einsatz erzählt hat. Es war Kalibs Trinkfläschchen. Sein Vater hat noch lange danach gesucht. Und es war deine Kugel.» Ihre Hände lçsten sich von seinen Schultern. Ihr Schatten fiel auf sein Gesicht. Der Verkehrslärm drçhnte zu ihnen herüber und fuhr die Zeit zu Brei. «Es tut mir so leid», sagte er. Die Tränen gingen wie ein Brecher über ihn hinweg. Aber seine Augen blieben trocken. Wie immer. «Aber wir haben dir längst vergeben», sagte sie klar und fest, «hatten doch Zeit genug dafür.» «Wir?» 14
Story Nr. 1 · Ben
«Hani und meine Schwägerin. Ich. Und ich bin sicher: Kalib auch.» Rufst du dann, antwortet dir ER, sprach es in ihm, schluchzest du auf, spricht ER: Hier bin ich. «Sie sind allesamt Sünder», hçrte er sie sagen, «das war unser Vers: ‹Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten …›» Er nickte, sie hielt kurz inne und schloss: «‹… und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade.›» So sehr Ben sich schämte, der Feigheit, es ihr so lange verschwiegen zu haben, so sehr fasste er Mut, ihren Worten zu vertrauen. Mit einem Ruck riss es den Mantel von seinen Schultern. Es war ihm, als durchtränkte ihn das milde Gelb der Weizenfelder von Karmia. Sie schwiegen wieder auf ihre vertraute Weise, über zwei Abfahrten der Linie neun und unzählige vorbeihastende Schritte hinweg. Dann räusperte er sich leise. «Weißt du was, Anett?» Er lauschte wieder auf ihren Atem und hçrte sie lächeln. «Wir feiern zusammen Jom Kippur!» Sie lachte laut, und er reckte sein Gesicht ein wenig über ihren Schatten hinweg dorthin, wo er die Abendsonne spürte.
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Geschichten aus dem ganzen Leben 272 Seiten, Hardcover Leinen-Einband mit Schutzumschlag 13,5 x 21 cm ISBN 978-3-03848-061-7 Bestell-Nr. 204061 14.99 € (D), 15.40 € (A), 22.80 CHF* * unverb. Preisempfehlung
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