114177

Page 1


Die Autorin Ursula Pasut, geboren 1938 in Wildenau, Ostpreußen. Erlebte als Kind die Vertreibung der Familie und die Flucht. Schulabschluss mit Mittlerer Reife. Berufsausbildung als fremdsprachliche Korrespondentin. Mit 22 Jahren Durchbruch zum Glauben, später Berufung in die Außenmission. Ausbildung dazu in Schottland. Aufnahme in die Dienstgemeinschaft des WEC International und Sprachstudium in Portugal. 1967 Ausreise nach Indonesien. Vierzehn Jahre Mitarbeit an der Bibelschule Batu auf Java. Nach 1981 Studium mit «Master of Arts»-Abschluss in Pasadena, Kalifornien. Drei Jahre Dienst in Guinea-Bissau, Westafrika, im Bereich Alphabetisierung. Von 1990–1997 Unterrichtstätigkeit am Centre for Intercultural Studies des WEC International in Beugen, Holland. Zugehçrigkeit zum Deutschen Frauen-Missions-Gebetsbund (DFMGB). Autorin der Bücher «Frauen in der Welt – Frauen in der Mission» und «Arm und dennoch reich ist Afrika». Im Ruhestand noch gelegentliche Mitarbeit bei Wochenkursen in missionarischer Fortbildung in Korntal. Stark beeinflusst von C.S. Lewis und Paul Tournier. Ursula Pasut ist ledig und wohnt in Rheinland-Pfalz.


Ursula Pasut

1945: Die Schatten der Flucht Traumatische Erlebnisse in Ostpreußen – und die Geschichte einer späten Heilung

Verlag Basel . Giessen


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die Bibelverse wurden verschiedenen Übersetzungen entnommen. Viele stammen aus der revidierten Elberfelder Bibel von 1995 1985, 1991, 2008 SCM R. Brockhaus, Witten.

2012 by Brunnen Verlag Basel Umschlag: spoon design, Olaf Johannson, Langgçns Foto Umschlag: conrado/Shutterstock.com (Frau), Bundesarchiv/Bild 146–1976–072–09 (Treck), Sergey Mironov/Shutterstock.com (Allee) Fotos Innenteil: Privatbesitz Ursula Pasut Satz: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel Druck: Aalexx, Großburgwedel Printed in Germany ISBN 978-3-7655-4177-3


Inhalt Zum Geleit.................................................................... Einleitung: Erlebte Wirklichkeit .....................................

7 8

Kapitel 1: Zwischenlandung in Moskau .......... Auftakt zur Reise........................................................... Eine unerwartete Begegnung .......................................... Erste Reflektion: Jahrzehntelange Verdrängung … ..........

10 10 11 17

Kapitel 2: Ein neuer Faden im Gewebe meines Lebens...................................... Der Krieg ...................................................................... Das Drama der Flucht ................................................... Eine veränderte Landkarte ............................................. Zeichen am Wege ..........................................................

19 20 23 28 30

Kapitel 3: Die Stimme des Guten Hirten.......... Gott redet in der Sturmwolke.......................................... Gottes Reden einordnen lernen.......................................

35 35 39

Kapitel 4: Das Schweigen durchbrechen ......... Endlich reden wir darüber.............................................. Anfechtungen................................................................ Amerikanisches Zwischenspiel.......................................

43 44 46 48

Kapitel 5: Reisen Richtung Osten ...................... Die erste Reise ............................................................... Die zweite Reise nach Osten und ihre Folgen .................. Meine Fahrt nach Polen.................................................

51 51 55 56

Kapitel 6: Auf der Suche nach dem Verlorenen Zurückkommen in die verlorene Heimat .........................

64 64

5


Hier war ich einmal zu Hause … ................................... Das Tor der Erinnerung ................................................. Polnische Gastfreundschaft und Ausklang der Reise .......

67 69 73

Kapitel 7: Rückblick auf die Flucht .................. 79 Aufbruch ...................................................................... 80 Die Russen kommen ...................................................... 84 Eine dunkle Zeit ............................................................ 85 Zurück ins angestammte Dorf........................................ 90 Wir gingen auf eine große Reise ..................................... 94 Eine Schicksalsnacht ..................................................... 96 Der Engel in Person ....................................................... 100 In Flüchtlingslagern ...................................................... 102 In der Freiheit angekommen........................................... 103 Kapitel 8: Das Trauma ist beendet – oder doch nicht? ................................. Wieder ein normales Leben führen................................. Fragen ohne Antwort..................................................... Erlebte Teilsiege.............................................................

106 106 114 117

Kapitel 9: Spät – doch nicht zu spät .................. Auch im Alter geht es weiter........................................... Die Motivationsmuster erkennen.................................... Die Schmerzen der Seele heilen lassen ............................ Die mir gestohlene Kindheit wiederfinden ......................

119 119 125 127 130

Kapitel 10: Versçhntes Leben.............................. Heilwerden – nicht im Zeitraffermodus .......................... Versçhnt mit meiner Familiengeschichte ........................ Versçhnt mit der persçnlichen Lebensführung................. Versçhnt mit der Führung Gottes im Dienst....................

133 133 135 138 139

Buchliste....................................................................... 143 6


Zum Geleit In dieser «Geschichte über das Aufarbeiten und Heilwerden» bearbeitet die Autorin ein Thema, das weithin im Dunkel geblieben ist. Eine Decke des Schweigens liegt über den vielen seelischen Verletzungen durch traumatische Erlebnisse am Ende des schon so lange zurückliegenden Krieges. Aber unsere Seele vergisst nichts. Sie verschafft sich Gehçr, auch noch Jahre und Jahrzehnte später. Das geschieht auf verschiedenen Wegen, sei es durch Krankheit, ¾ngste, schlaflose Nächte und ¾hnliches. Gott kann in das Dunkel eines mühevollen Lebens Licht bringen und in eine ungeahnte innere Freiheit führen. Das kommt in diesem persçnlichen Bericht klar zum Ausdruck. Die spannend erzählte, gleichwohl erschütternde Geschichte mçchte diejenigen ermutigen, die noch unter einer Decke des Schweigens leben. Auch deren Nachkommen sind angesprochen. Sie werden nach der Lektüre so manchen alten Menschen besser verstehen und lieben kçnnen. Renate Misdorf, Seevetal-Fleestedt

7


Einleitung: Erlebte Wirklichkeit «Ein Weg entsteht, indem man ihn geht.» Vor Jahren besaß ich eine Karte mit diesem sinnigen Wort. Es beschreibt eine Wirklichkeit, die mir im Erzählen meiner persçnlichen Erfahrung nun regelrecht entgegenkommt. Ich teile meine Erfahrung mit in der Überzeugung, dass jeder den Weg für sich entdecken wird, wenn er sich aufmacht, um traumatische Erlebnisse und ihre oft lange unerkannten Auswirkungen im Leben zu bewältigen. Meine Geschichte, die ich erst im Alter zusammenhängend erzählen kann, ist kein Vordruck dafür, wie es geschehen muss. Es ist schlicht ein Zeugnis von erlebter Wirklichkeit. Es kçnnte auch sein, dass jemand diese Zeilen liest, der schon Schritte getan, Antworten gefunden und Lçsungen erlebt hat und dennoch weiß: Ich bin immer noch auf dem Weg. Es gibt immer noch neue, oft unerwartete Nebelschwaden, die sich auf dem schon erhellten Weg heranwälzen. Müssen wir nun neue Antworten suchen? Oder müssen wir uns nur an die schon erfasste und erfahrene Entlastung erinnern? Ich habe die Entdeckung gemacht, dass es sich auch um einen Hinweis darauf handeln kann, was wir so leicht übersehen. Das Erleben mit Gott auf unserem Lebensweg soll bezeugt werden. Das Wort des Psalmisten ist dazu Leitwort und zugleich Herausforderung: 8


«Er sandte sein Wort und heilte sie, er rettete sie aus ihren Gruben. Sie sollen den Herrn preisen für seine Gnade, für seine Wunder an den Menschenkindern. Sie sollen Dankopfer darbringen und mit Jubel seine Taten erzählen» (Psalm 107,20–22). Das Wort ermutigt auch dazu, persçnliche Dinge offen anzusprechen. Wenn nun aus einem einfachen Erlebnisbericht ein wirkliches Buch entstanden ist, verdanke ich es vor allem dem verständnisvollen Verleger. Er half mir als Erstleser und als Lektor durch kritisch herausfordernde und zugleich ermutigende Fragen und Hinweise, «das nçtige Fleisch auf die Knochen» meines Manuskripts zu liefern. So wurde dieses Buch nicht nur geschrieben; es ist im wahrsten Sinn des Wortes erst geworden. Der Dank dafür geht an Christian Meyer und Vera Hahn vom Brunnen Verlag. Diese Niederschrift widme ich der Person, die mir jahrzehntelang zur Seite stand. Sie war und ist mir Freundin, Seelsorgerin und Gebetspartnerin. Besonders in schwierigen Phasen der Aufarbeitung im fortgeschrittenen Lebensalter brauchte ich diese Begleitung. Es ist Frau Renate Misdorf. Lebenserfahrung im pastoralen Dienst an der Seite ihres Mannes, eine spezielle fachliche Ausbildung zur Beraterin und die Fähigkeit, Freundschaften zu pflegen, vereinen sich in ihrem reichen Dienst bis ins Alter hinein. In ihrem Ruhestand übt sie noch eine aktive Begleitung von Menschen aus, die sich – wie ich – nicht mit dem Status quo zufrieden geben, sondern an Problemstellungen ihres Lebens arbeiten mçchten. Mein Dank gilt ihr und unserem gemeinsamen Herrn Jesus Christus. Ursula Pasut, Bad Kreuznach 9


Kapitel 1 Zwischenlandung in Moskau Auftakt zur Reise Es hat kräftig geschneit in der Nacht. Die Straßen sind zwar geräumt, doch die Nebenwege sind vereist. Ob der Flug von Frankfurt nach Moskau wohl abgesagt werden muss? Man erwarte keine Unregelmäßigkeiten, noch verlaufe alles nach Plan, so lautet die Auskunft. Ich stelle in meinen Gedanken fest, dass es mir nicht viel ausgemacht hätte, wenn jetzt noch etwas dazwischengekommen wäre. Im Gegenteil, ein inneres Unbehagen im Gedanken an diesen Flug ist in den vergangenen Tagen immer stärker geworden. Ein Flug nach Jakarta, der Hauptstadt Indonesiens, und zwar über Moskau. Bisher kenne ich nur die Routen von Frankfurt oder auch von Hamburg über Amsterdam oder Zürich nach Singapur und weiter nach Jakarta. Wie kam es denn zu dieser eher ungewçhnlichen Route? Vor einigen Wochen erhielt ich einen Anruf aus der Missionszentrale mit einer Frage: «Ursula, dein Heimataufenthalt ist bald zu Ende, und du willst im Januar zurück nach Indonesien. Volkhard Scheunemann plant, zur gleichen Zeit zurückzufliegen. Er hat ja einen Kurzbesuch in Deutschland gemacht. Nun will er mit der russischen Linie Aeroflot fliegen. Sie bieten einen sehr günstigen Preis an. Der Flug geht dann 10


von Frankfurt über Moskau nach Jakarta. Kçnntet ihr nicht zusammen reisen? Überleg es dir.» Das tat ich dann auch. Andere meiner Kollegen hatten diese Route schon gewählt, das wusste ich. Und so entschied ich, das kçnne ich mir dann ja wohl auch zumuten, und nahm das Angebot an. Und nun ist der Tag der Abreise gekommen, und es ist zu spät für eine ¾nderung. Es hätte ja aber auch etwas geschehen kçnnen, das nicht geplant war und das den Flug noch verhindert hätte … Welch tçrichte Wege unsere Gedanken doch manchmal nehmen! Ich verstehe mich selbst nicht mehr und versuche, diesen Unsinn zu vergessen. Vom Missionshaus werden wir im Auto zum Flughafen nach Frankfurt gebracht. Das ist üblich so. Der Missionsleiter sitzt am Steuer, mein Reisegefährte neben ihm. Ich sitze hinten. Als wir den steilen und glatten Weg vom Berg zur Bundesstraße hinabfahren, sagt der Beifahrer: «Es ist frei. Du kannst fahren.» Der Fahrer antwortet: «Bloß gut, die Bremsen greifen auch nicht.» Diese Worte bleiben in meinem Gedächtnis haften. Sie verbinden sich für mich mit dem unsinnigen, aber hartnäckigen Gedanken – oder Wunsch? –, irgendetwas kçnne ja vielleicht noch den Flug verhindern. Wir erreichen den Flughafen rechtzeitig. Alles verläuft normal. Wir Missionare sind Flugreisen gewohnt. Eine unerwartete Begegnung Die erste Etappe unseres Fluges nach Indonesien ist nur kurz. Schon nach wenigen Stunden landen wir in Mos11


kau. Die Passagiere werden aufgefordert, das Flugzeug zu verlassen und ihr Handgepäck mitzunehmen. Etwas ungewçhnlich, diese Aufforderung. Wir wollen doch gar nicht umsteigen. Als wir ins Freie treten, schlägt uns die russische Winterkälte mit aller Härte entgegen. Wir steigen in den wartenden Bus, der uns zum Flughafengebäude bringt. Er ist ungeheizt. Es ist auch im Bus bitterkalt. Wir reisen in die Tropen und sind auf ein winterliches Klima wie dieses nicht richtig vorbereitet. Die Kälte dringt bis in die Knochen. Es ist wirklich unangenehm. Im Flughafengebäude angekommen, gehen wir eine lange Treppe hinauf. In Erwartung einer Kontrolle haben wir unsere Reisepapiere parat. So gehen wir durch eine Sperre mit unseren Pässen in der Hand. Vor uns stehen russische Soldaten in voller Uniform, bereit, die Pässe der Passagiere in Empfang zu nehmen. Da geschieht es! Ich spüre, wie tief in meinem Inneren etwas explodiert. Eine Welle von Hass scheint mich sprengen zu wollen. Ein starker Impuls steigt in mir auf, mich einfach zu weigern und mein Dokument nicht aus der Hand zu geben. Doch mein Verstand ist stärker. So lege ich meinen Pass in die Hand, die sich mir entgegenstreckt. Dann gehe ich weiter. Ich bin wie benommen. Es ist, als sei ich von einem Nebel umfangen. Doch nehme ich wahr, dass man uns zu Sitzgelegenheiten weist. Holzbänke, wie wir sie aus Parkanlagen kennen, sind es, zu denen wir geführt werden. Sie sind so angeordnet, dass immer zwei Bänke einander gegenüberstehen, ohne etwas dazwischen. Es ist gerade genug Bewegungsraum zum Hinsetzen und Aufstehen, mehr nicht. 12


Kaum haben wir uns auf einer Bank niedergelassen und unser Handgepäck neben uns gestellt, da kommen zwei Männer, in Zivil gekleidet, und setzen sich auf die Bank, die uns genau gegenübersteht. Jetzt wünsche ich, es gäbe wenigstens so etwas wie einen flachen Tisch oder irgendetwas, das mehr Abstand zu dieser anderen Bank gewährt. Die Männer beobachten uns. Ich spüre die Blicke auf uns, auch wenn sie miteinander reden. Mir ist die nahe Gegenwart dieser Menschen äußerst unangenehm. In meinem Innern ist ein Aufruhr. Es schreit regelrecht in mir: O Gott, wie soll ich denn mit diesem Hass leben? Und ich weiß, ich darf mir nichts anmerken lassen. Unter diesen prüfenden Augen schweigend und ruhig zu sitzen ist ungeheuer anstrengend. Ich hoffe inständig, dass man mir die innere Unruhe nicht vom Gesicht ablesen kann. Ob das Zittern meiner Hände auffällig ist? Ich sollte etwas in der Hand haben. Eine Modezeitschrift ist in meiner Tasche, die ich für eine indonesische Freundin mitbringe. Im Koffer konnte ich sie nicht mehr unterbringen. So verstaute ich sie als Reiselektüre. Jetzt bin ich froh, dass ich sie parat habe. Ich versuche, ganz gelassen mit dieser Zeitschrift umzugehen. Doch die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Und auch die Bilder helfen nicht. Ich gebe den Versuch auf und stecke die Zeitschrift wieder in die Tasche. Ich kann diese prüfenden Blicke einfach nicht mehr ertragen. Ich stehe auf, stelle meine Handtasche dicht neben Volkhard auf die Bank und sage: «Ich brauche etwas Bewegung.» Er ist in seine Reiselektüre vertieft und nickt nur. Jetzt sehe ich mir unsere Umgebung etwas genauer an. Die Bänke sind immer zu zweit in der gleichen Weise an13


geordnet, wie die unseren. Doch dazwischen stehen große Kübel mit Grünpflanzen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Wartehalle ist ein Souvenirladen mit reichhaltigen Fensterauslagen. Dazwischen ist ein freier Raum wie ein angedeuteter Gang. Ich betrachte ihn jetzt als einen tatsächlichen Gang und werde ihn entlanggehen. Ganz langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Dabei spüre ich, wie es mir wohltut, dass ich meine Beine bewegen kann. Ich koste diese Aktivität richtig aus. Doch der freie Raum ist nicht groß. Gleich werde ich umkehren müssen. Da fällt mein Blick auf einen anderen Teil der Wartehalle. Von dem Platz, auf dem ich gerade stehe, führen ein paar Stufen hinunter in einen grçßeren Raum. Dort sitzen Menschen an runden Tischen. Sie sind vornehmlich schwarz gekleidet, sowohl die Männer als auch die Frauen. Nur die Kopftücher der Frauen bringen etwas Farbe in das Bild, das sich mir bietet. Ich vermute, dass es Reisende aus der Provinz sind. Während ich auf diese Menschen schaue, durchflutet mich erneut eine Welle starken Gefühls. Doch jetzt ist es eine Wärme, die mich durchstrçmt. Meine Gedanken formen sich zu lautlosen Worten: «Nein, ich hasse nicht die Russen. Zu diesen Menschen dort kçnnte ich mich problemlos setzen, kçnnte mit ihnen reden, wenn ich ihre Sprache verstünde.» Und im gleichen Augenblick klärt sich etwas in mir. Ich verstehe, mein Problem sind nicht die Russen an sich, auch nicht die Autoritäten um mich her. Es geht um meine Erinnerungen an die russischen Soldaten, die ich in meiner Kindheit erlebte. Es geht um schreckliche Erlebnisse voller Angst und Grauen beim Einmarsch der Roten Armee in Ostpreußen im Januar 1945 und den darauf folgenden Monaten … 14


Einen Moment bleibe ich noch stehen und schaue auf diesen Teil der Wartehalle und auf die Gruppen an den Tischen. Dann weiß ich, dass ich umkehren muss. Wenn ich hier weiter stehe und auf die Menschen dort unten starre, kçnnte es Aufsehen erregen. Also gehe ich ganz langsam den kurzen Weg zurück, den ich gekommen bin. Ich setze mich wieder auf meinen Platz und nehme meinen Lesestoff erneut zur Hand. Es ist etwas ruhiger geworden in mir. Lesen kann ich zwar noch nicht, aber durchblättern und hier und da auf einer Seite etwas verweilen, das geht jetzt ganz gut. Kurz darauf stehen die beiden Männer, die uns gegenübersitzen, auf und gehen in Richtung Ausgang fort. Nun sind wenigstens diese prüfenden Augen nicht mehr auf mich gerichtet. Jetzt kann ich tief durchatmen und etwas entspannen. Ich spüre es in meinen Gliedern. Nicht lange danach kommt die Ankündigung über Lautsprecher, der Bus zum Flugzeug sei nun bereit. Wir stehen auf. Einen kurzen Blick in den geçffneten Schmuckladen erlauben wir uns noch. Die meisten der ausgelegten Sachen sind aus Bernstein. Warmes Braun, leuchtendes Gelb. Welch schçnes Material – und es ist der Reichtum meiner ostpreußischen Heimat! Nun ist es Wehmut, die mich überfluten will. Doch damit kann ich umgehen. Volkhard fragt die Verkäuferin nach dem Preis für eine Brosche, die ihm für seine Frau gefallen kçnnte. Die Dame antwortet ausgesprochen unfreundlich. Sie scheint nicht darauf erpicht, Ausländern etwas zu verkaufen. Na, dann eben nicht. Ich bin ernüchtert und erleichtert zugleich, als wir den Laden schnell wieder verlassen. An der Pforte werden uns die Pässe ausgehändigt. Wir steigen in den wartenden Bus. Es ist immer noch sehr 15


kalt. Jemand bittet, man mçge doch wenigstens die Türe schließen. Die Antwort auf diese Bitte lautet: «Derjenige, der das tun darf, ist noch nicht da.» Volkhard murmelt: «Totalitäre Gesellschaft. Jeder tut nur, was ihm ausdrücklich befohlen ist.» Dann kommt der Berufene. Die Türen werden geschlossen. Der Bus setzt sich in Bewegung. Im Flugzeug ist es angenehm warm nach der Kälte draußen und im Bus. Wir finden unsere vertrauten Plätze, verstauen unser Handgepäck und lassen uns auf die weichen Sitze fallen. Ohne Frage sind wir mehr als bereit für den Weiterflug, auch wenn wir gegenseitig nicht über unsere Empfindungen sprechen. Erst als ich dieses Erleben in Worte fasse und schriftlich niederlege, erreicht mich Jahrzehnte später die Erinnerung von Volkhard: «Der Flug nach Moskau im Schneegestçber steht mir noch deutlich vor Augen. Was unsere Zwischenlandung in Moskau in dir ausgelçst hat, blieb mir allerdings verborgen. Ich weiß nur noch, dass ich dir einen Freudenschlag aufs Knie versetzte, als wir wieder in der Luft waren, und eine Last von mir abfiel, als seien wir einem Gefängnis entkommen.» Der weitere Flug verläuft ohne Besonderheiten. Kurzer Stopp in Karatschi. Und bald darauf erreichen wir Jakarta, unser Ziel. Das Land ist uns vertraut. Für mich beginnt jetzt ein neuer Dienstabschnitt.

16


Erste Reflektion: Jahrzehntelange Verdrängung … In den langen Stunden der Nacht auf dem Weiterflug habe ich Gelegenheit, meine Gedanken etwas zu ordnen. Was geschah dort in der Wartehalle eigentlich mit mir? Als die Soldaten in Uniform so unerwartet vor mir standen und mir dann meinen Pass abnahmen, fühlte ich mich ihnen ausgeliefert. Und dieses elende Gefühl kannte ich aus meiner Kindheit. Ich erlebte nun meine erste Reaktion als ein starkes Hassgefühl. Es war aber nicht nur ein einzelnes Gefühl, es war ein richtiges Aufgewühltsein. Die folgende Welle der Wärme beim Anblick der zivil gekleideten Menschen an den Tischen gehçrte ja auch dazu. Diese Gefühlswelle war aber eher in dem Raum der Liebe angesiedelt. Zwar scheute ich mich zunächst, selbst in meinen Gedanken, dieses Wort «Liebe» zu gebrauchen. Aber friedevoll war das Gefühl bestimmt. Ich verstand es als eine Antwort auf meinen verzweifelten inneren Schrei zu Gott. In dieser ersten Zeit des Nachdenkens über meine Empfindungen in der Wartehalle wird mir bereits klar: Das, was ich in den vergangenen Stunden erlebte, kann und darf ich nicht einfach beiseiteschieben. In meinem Leben ist ein Einschnitt geschehen … Diese kurze Zeit auf dem Flughafen war auf der einen Seite eine Qual. Doch sie hat mir auch eine wichtige Erkenntnis gebracht. Ich weiß nun, ich werde mich meinen qualvollen Kindheitserinnerungen stellen müssen. Wie das aussehen wird, weiß ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Doch kann ich ganz gewiss nie mehr hinter diese Erkenntnis zurück. Ich habe sie gewonnen als Folge der tiefen inneren Erschütterung. Eine jahrzehntelang verdrängte Wirklichkeit hat sich in mein Bewusstsein ge17


schoben. Ich werde sie nie mehr verleugnen oder von neuem verdrängen kçnnen. Es ist meine Verantwortung, diese Erfahrungsebene in mein Sein zu integrieren … Als ich so über das Erlebte nachdenke, wird mir auch deutlich, dass es Gottes Güte ist, die die äußeren Dinge lenkte. In meinem Dienst als Missionarin im Ausland bin ich es gewohnt, auch weite Reisen allein zu unternehmen, zu Schiff, im Flugzeug, mit Bussen, einfach so, wie es sich gerade ergibt. Ich kenne die darunterliegende ruhige Gewissheit, dass Gottes Gegenwart und sein Schutz mich begleiten, so wie er es verheißen hat. Auch in Situationen voller Spannung darf ich diese Verheißung in Anspruch nehmen – und tue es auch. Doch eine solch erschütternde Erfahrung, die mich auch vçllig aus der Bahn hätte werfen kçnnen, hat Gott mir nicht im Alleinreisen zugemutet. Er hatte gewissermaßen Vorsorge getroffen durch die Art und Weise, wie diese Reise geplant wurde und zustande kam. Als ich in Batu auf Java, meinem vertrauten Wohnort, ankomme, habe ich bereits wieder ein ausreichendes inneres Gleichgewicht gefunden. Das Leben und der Dienst gehen weiter und fordern meine ganze Aufmerksamkeit.

18


Kapitel 2 Ein neuer Faden im Gewebe meines Lebens Die Erschütterung in der Begegnung mit den uniformierten Soldaten rührt daher, dass sich Erinnerungen an Erlebnisse melden und ins Bewusstsein geschoben haben, die ich jahrzehntelang aus meinen Gedanken und meinem bewussten Leben verdrängt habe. In meiner Familie vermeiden wir es nämlich, soweit wie irgend mçglich, über die Flucht und alles, was damit zusammenhängt, zu sprechen. Wir gehçren zu den Menschen, die glauben wollen, die Zeit würde die Dinge für uns ordnen, so dass sie dann eben nichts mehr mit uns zu tun haben. Wir wollen sie einfach «totschweigen» … Die Stunden in Moskau haben mich jedoch aus dieser Haltung herausgerissen. Das habe ich jetzt erkannt. Aber ich weiß nicht, wie ich das bewältigen soll, was da in mir aufgebrochen ist und nach Einordnung verlangt. Es ist, als sei das Gewebe meines Lebens verwirrt worden, und zwar durch einen neuen Faden, der vorher noch gar nicht da gewesen ist. Das Bild vom Gewebefaden stammt aus einem Lied. Die Sängerin Ria Deppert singt nämlich davon, dass Gott am Webstuhl unseres Lebens sitzt und die Fäden in seiner Hand hält. Die Audiokassette mit diesem Lied gehçrt seit Jahren zu meinen kleinen Schätzen. Das Bild des Fadens wird für mich in den folgenden Jahren wiederholt zu einer gedanklichen Brücke, wenn es darum geht, Führungen und Fügungen einzuordnen und anzunehmen. 19


Zugleich steigen aber auch Fragen in mir auf. Der Zweite Weltkrieg war schließlich 1945 vorüber. Meine Angehçrigen leben seit Ende 1945 im Westen Deutschlands. Ich selbst gehçre zu einer Missionsgemeinschaft und bin deshalb seit 1962 eigentlich immer nur besuchsweise in Deutschland gewesen. Die Reise über Moskau hat nun im Januar 1976 stattgefunden. Was hat denn dieser schreckliche Krieg von damals noch wirklich mit mir und meinem Leben zu tun? Und was ist denn da überhaupt geschehen? Sicher ist für mich nur, dass es vieles gibt, das ich gar nicht weiß. Und vieles, das mich auch nicht besonders interessiert. Diese Lebenssicht muss sich nun aber ändern. Der Krieg Der Zweite Weltkrieg begann 1939. Ich war gerade im Jahr zuvor in Masuren, dem südlichen Teil der Provinz Ostpreußen, zur Welt gekommen. Meine Eltern besaßen in dem kleinen Dorf Wildenau im Kreis Ortelsburg (heute Szczytno) eine Landwirtschaft. Auch Leute, die sich nicht bewusst politisch engagierten, bekamen die Macht der Nationalsozialisten hautnah zu spüren. Es kam vor, dass den Landwirten, die es wagten, am 1. Mai ihren so dringenden Feldarbeiten nachzugehen, die Pferde von jungen glühenden Parteianhängern einfach ausgespannt wurden. Hitler hatte im Krieg sein Hauptquartier, die sogenannte Wolfsschanze, in der Nähe der Stadt Rastenburg errichtet. Diese Stadt liegt nicht weit vom Mauersee und damit im Gebiet der Masurischen Seenplatte. Die Wolfsschanze war auch der Schauplatz des fehlgeschlagenen Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944. 20


An den Folgen war abzulesen, dass adlige Kreise der Provinz Ostpreußen in den Widerstand gegen das Regime verwickelt waren. In der breiten Bevçlkerung dagegen wusste man wenig von den tatsächlichen Vorgängen in der Politik, denn die Propaganda hatte die Menschen immer stärker im Griff. So scheint es sogar verständlich, dass man das, was man wusste, lieber nicht weitersagte. Das Schweigen und Verschweigen wurde nicht erst in der Nachkriegszeit zu einem Merkmal in Deutschland. Es bahnte sich wohl schon während des Krieges an und wurde eingeübt. Man wusste nicht – und wollte auch nicht wissen –, was da so alles geschah. Ich versuche, diese Atmosphäre an einem persçnlichen Beispiel zu illustrieren. Mein Vater war nicht zum Krieg eingezogen worden. Er war Landwirt, besaß jedoch einen Führerschein für Personen- und Lastkraftwagen. Irgendwann wurde er als Fahrer zu einem uns nicht näher bekannten Dienst beordert. Er war mehrere Tage abwesend. Als er heimkehrte, wollte er mit niemandem reden. Er ging in sein Zimmer, das im oberen Stockwerk lag, und schloss die Tür zu. Unser Familienraum lag genau darunter. Wir hçrten seinen unruhigen Schritt, wie er auf und ab in seinem Zimmer ging, auf und ab, auf und ab. Obwohl uns diese seine Gewohnheit vertraut war, fing selbst ich, das jüngste Kind, intuitiv die Unruhe auf, die bei der Gelegenheit von diesen Schritten direkt über uns ausging. Ich stelle in Gedanken eine Verbindung her zu einem Erlebnis als Erwachsene. 1992 nehme ich an einer Gruppenreise nach Israel teil. In der Stätte der Erinnerung – Yad Vashem – stehe ich im Raum der Kinder vor einer Re21


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.