ZEITGESCHICHTE
Kunst & Kultur
In Russlands Lagern Der Zweite Weltkrieg brachte viele Südtiroler Soldaten an die Ostfront - unter ihnen auch Eisacktaler, wie Jakob Hilber aus Natz-Schabs. Dessen Geschichte findet sich neben weiteren Südtiroler Kriegsgefangenen im Buch „Südtiroler hinter Stalins Stacheldraht. Kriegsgefangenschaft in Russland 1943–1954“ von Sabine Peer. Seit acht Jahren vergriffen, erschien nun eine überarbeitete dritte Auflage.
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ie Kapitulation von Stalingrad im Jänner 1943, der verkündete Einsatz zum „totalen Krieg“ im Februar desselben Jahres, die verlustreiche Schlacht bei Kursk im Juli, die Kapitulation Italiens im September und die Kriegserklärung des Königreichs Italien an Deutschland am 13. Oktober 1943: All diesen Ereignissen ist gemein, dass sich deren Gedenktage heuer zum 75. Mal jähren, und sie brachten viele Soldaten der deutschen Streitkräfte an die Ostfront und dort in russische Kriegsgefangenschaft. Damit begannen viele entbehrungsreiche Jahre in den sowjetischen Lagern, begleitet von Leichenbergen, Hunger, Krankheit, schwerer Arbeit und Heimweh. Dieses Schicksal teilte mit weiteren etwa 1.900 Südtirolern auch Jakob Hilber (*1925†2006) aus Natz-Schabs, der 1943 zur SS-Division „Brandenburg“
einrückte und an die Ostfront abkommandiert wurde.
heute mit einer Aura des Schrecklichen umgeben ist.
Jakob Hilber: „Die ganze Gefangenschaft war ein Inferno, aber das Schlimmste waren die unendlichen Transporte. In diesen Waggons zusammengepfercht, so weit fahren, nichts zu trinken. Den Hunger kannst du noch irgendwann bewältigen, wenn du zu trinken hast, aber der Durst wird zum Martyrium.“
Dilemma der Südtiroler. An die Ostfront im
Jakob Hilber erzählte 1998 seine Geschichte Sabine Peer, die mit ihm noch 13 Südtiroler Kriegsgefangene und weitere Südtiroler und Russische Zeitzeugen interviewte. Mit Hilfe dieser Zeitzeugenaussagen und Recherchen in Russland rekonstruierte die Autorin dieses in der offiziellen Südtiroler Geschichtsschreibung wenig beachtete Kapitel, das bis
deutschen Heer kamen die Südtiroler durch die Option als deutsche oder nach dem Sturz Mussolinis auch als italienische Staatsbürger. Das Polizeiregiment Brixen etwa, das sich vorwiegend aus „Dableibern“ zusammensetzte, wurde als Strafkompanie an die Ostfront abkommandiert, als es im Februar 1945 geschlossen den Eid auf Hitler verweigerte. Für die Dauer in Gefangenschaft konnte die Angabe der Staatszugehörigkeit schicksalsbestimmend sein.
Und die Südtiroler verlängerten mitunter selbst ihre Gefangenschaft, da sie bei der
Interview Frau Peer, wie wurden Sie auf dieses bisher in Südtirol wenig beachtete Thema aufmerksam? SABINE PEER: Während meines Russischstudiums in Wien lernte ich Studenten der Geschichtsfakultät kennen, die für ihren Professor über das Schicksal von österreichischen Kriegsgefangenen in Russland recherchierten. Und da überlegte ich: Was war mit den Südtirolern? Und ich stellte fest, es gab überhaupt nichts zu diesem Thema. Welche Voraussetzungen brauchten Sie, um das Thema anzupacken? Einmal die Öffnung der Staatsarchive der Russischen Föderation im Jahr 1990, meine Russischkenntnisse und natürlich die Bereitschaft der Zeitzeugen. Als ich 44
14 über Südtirol verteilt gefunden hatte, die mir ihre Geschichten erzählten, überprüfte ich diese in Archiven in Bozen, Wien, St. Petersburg, Moskau und Wolgograd auf ihren Wahrheitsgehalt und interviewte russische Zeitzeugen. Auf diese Weise gelang die Rekonstruktion dieser Zeit. Gibt es Zeugenaussagen, die Sie besonders beeindruckt haben? Davon gibt es viele. Zitieren könnte ich: „Was mich in der Gefangenschaft immer verwundert hat: Die Russen sind nicht nachtragend. Die sind ein Volk, das keinen Hass in sich trägt. Und sie hätten wirklich Grund gehabt, uns Deutsche zu hassen. Wir waren nämlich viel härter gegen die Russen als sie es jemals mit uns waren.“ Fakt ist, dass im Zeitraum von dreieinhalb Jahren von 5,7 Millionen Russen in deutscher
Gefangenschaft etwa zwei Drittel zugrunde gingen. Dagegen ist von den 3,3 Millionen Deutschen in russischer Gefangenschaft in 15 Jahren ein Drittel verstorben. Wie lautet Ihr Appell an die jüngeren Generationen? Was wollen Sie mit dem Buch bewirken? Im Buch selbst habe ich mein Anliegen so formuliert: „Es muss
unsere unbedingte Aufgabe sein, historisch unleugbare Verirrungen, wie Krieg und die nicht wiedergutzumachenden Folgen, nicht nur in den Köpfen unserer Zeitzeugen und deren Angehörigen erlebte Realität bleiben zu lassen, sondern sie auch unseren jüngeren Generationen zugänglich zu machen. Es ist das historische Erbe Südtirols; wir tragen heute dafür Verantwortung.“