Biorama #51

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Thomas Stollenwerk

Milch ist längst industrieller Rohstoff.

39,8° C

beträgt die Körper-Innentemperatur von Milchkuh Connie um 6 Uhr früh. Der pH-Wert im Pansen liegt bei 7,3. Ganze 33,7 Kilogramm Milch hat sie am Vortag gegeben, und gelaufen ist sie 750 Schritte, und das bei einer Luftfeuchtigkeit von 47 Prozent im Boxenlaufstall. Connie lebt auf dem Bauernhof der Familie Siebers am Niederrhein. In der Nähe liegt ein Ort namens Rindern. 750 Milchkühe geben auf dem Hof zusammen ungefähr 20.000 Kilogramm Milch, jeden Tag. Ein Kilogramm Milch – das entspricht fast einem Liter. In einem deutschen Supermarkt bekommt man einen Liter Milch im September 2017 ab 63 Cent. Das »Preiseinstiegssegment« – so nennt der Einzelhandel das untere Ende der Preisskala – beginnt bei 1,5 Prozent Fettgehalt. Für eine Vollmilch mit 3,5 Prozent Fettgehalt sind fünf Cent mehr zu berappen. Immer noch sehr wenig. Für die ultrahocherhitzten haltbaren Varianten wird jeweils derselbe Preis verlangt. Eine Alpenmilch, auf deren Verpackung saftiges Gras in Großaufnahme und der Schädel einer grasenden Kuh zu sehen sind, ist schon deutlich teurer: 95 Cent pro Liter. Und ein Liter Biovollmilch kostet sogar stolze 1,59 Euro. Das Milchangebot in einem durchschnittlichen Supermarkt ist groß. H-Milch, Vollmilch, Alpenmilch, Wiesenmilch, Heumilch, faire Milch, Milch aus der Region, fettarme Milch, laktosefreie Milch, Milch in Pulverform. Die weiße Flüssigkeit aus dem Euter von Kühen wird in unterschiedlichsten Preisklassen mit Differenzen von

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Milchindustrie-Verband Jakob Stark, Tiberius Film Martin Rattini, Tiberius Film

mehr als 100 Prozent angeboten. Wer eher durchschnittlich viel mit Milch zu tun hat, verliert da schon einmal den Überblick und denkt sich: »Ich will doch einfach nur Milch.« Die Zeiten, in denen Milch »einfach nur Milch« war, sind längst vorbei. »Es ist wie bei Darwin«, beschreibt Aart Jan van Triest die Entwicklung im Dokumentarfilm »Das System Milch«. Er ist Marketingchef der niederländischen Großmolkerei Friesland-Campina. »Wer sich nicht weiterentwickelt, stirbt. Wir müssen uns also ständig verändern und wachsen, um innovativ zu bleiben und weiter investieren zu können.« Dem Filmemacher Andreas Pichler gewährte der Milchvermarkter einen überraschend offenen Einblick in das Geschäft international tätiger Großmolkereien: »Wir sagen immer, bei uns geht es vom Gras ins Glas. Wir haben die Kühe, die Produktion, den Verkauf und die Produkte. Man kann uns am ehesten mit einer Raffinerie vergleichen. Wir produzieren mit unserer Milch eine extrem breite Produktpalette.«

MEHR MILCH, WENIGER BAUERN Während die Produktpalette immer breiter wird, geben europaweit Jahr für Jahr tausende Milchbauern ihre Betriebe auf. In Deutschland sinkt die Zahl der Milchbetriebe jedes Jahr um zwei bis vier Prozent. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl der deutschen Milchbetriebe fast halbiert. Heut gibt es noch rund 67.300 Milchbetriebe, die gemeinsam über vier Millionen Milchkühe halten. In Österreich ist die Zahl der Milchbauern von 134.000 im Jahr 1980 auf 30.000 im Jahr 2015 gesunken. Gleichzeitig steigen die durchschnittlichen Betriebsgrößen. In immer weniger Ställen stehen immer mehr Milchkühe, lautet der allgemeine Trend. Um als Produzent im Milchgeschäft zu bestehen, gibt es verschiedene Strategien. Milchviehhalter können wachsen und ihre Betriebe auf Leistungsfähigkeit trimmen. Sie können aber auch biologisch produzieren und ihre Milch teurer anbieten. Sie können den Weg der Selbstvermarktung wählen oder konsequent auf Regionalität setzen. Leicht ist keiner dieser Wege.

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