Martin Luther Vom unfreien Willen

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Martin Luther Vom unfreien Willen



Martin Luther

Vom unfreien Willen


»Wer diese Schrift nicht aus der Hand legt mit der Erkenntnis, dass die evangelische Theologie mit dieser Lehre vom unfreien Willen steht und fällt, der hat sie umsonst gelesen« Hans-Joachim Iwand, in seiner Einleitung zur Münchener Ausgabe 1937

1. Auflage 2016 Originaltitel: De servo arbitrio (1525 bei Joh. Lufft, Wittenberg) © dieser deutschen Ausgabe: Betanien Verlag 2016 Postfach 1457 · 33807 Oerlinghausen www.betanien.de · info@betanien.de Basis für diese Ausgabe lieferten folgende Übersetzungen: Dr. Martin Luthers sämmtliche [sic] Schriften, nach Johann Georg Walch (Hrsg.) (Concordia Publishing House, St. Louis, Band 18, 1888) Diese Übersetzung wurde durch Joachim Schmitsdorf gründlich überarbeitet und für die erste Hälfte dieser Ausgabe verwendet. Vom verknechteten Willen, Übersetzung von Otto Scheel (Ergänzungsband II. der Braunschweiger Lutherausgabe, Berlin 1905) Diese Übersetzung wurde bearbeitet von Hans-Werner Deppe und Larissa Eliasch und für die zweite Hälfte dieser Ausgabe verwendet. Cover: Sara Pieper Satz: Betanien Verlag Druck: Druckhaus Nord, Bremen ISBN 978-3-945716-24-3


Inhalt Vorwort zur Neuausgabe 7 1 Einleitung 11 2 Antwort auf das Vorwort der Diatribe 17 3 Antwort auf die Einleitung der Diatribe 74 4 Antwort auf Argumente aus dem Alten Testament und den Apokryphen 110 5 Antwort auf Argumente aus dem Neuen Testament 161 6 Antwort auf den Umgang mit Schriftstellen, die gegen einen freien Willen sprechen 181 7 Antwort auf den Umgang mit den von Luther angefĂźhrten Schriftstellen 241 8 Die biblische Lehre vom unfreien Willen 283 9 Fazit 339



Vorwort zur Neuausgabe 500 Jahre nach der Reformation haben sich die alten Fehlentwicklungen von Kirche und Theologie in noch weit schlimmerer Weise als damals im Denken bekennender Christen ausgebreitet. Dazu zählt vor allem die humanistisch-katholische Selbstüberschätzung, dass der Mensch von Natur aus die Fähigkeit habe, sich mit seinem Willen Gott und dem Seelenheil zuzuwenden. Schließlich sei im Sünder noch diese letzte gute Fähigkeit vorhanden. Man meint, der Sünder sei zwar krank an Sünde, aber nicht tot in Sünden. Martin Luther hingegen hatte die Radikalität der Erlösungsbedürftigkeit des gefallenen Menschen klar verstanden und legt sie kraftvoll dar wie sonst kein anderer. Seine Schrift »Vom unfreien Willen«1 ist seine Antwort auf die Streitschrift »Diatribe vom freien Willen«2 des Humanisten Erasmus von Rotterdam, die Erasmus im September 1524 veröffentlichte. Luthers Antwort erschien im Dezember 1525. Erasmus vertritt die katholisch-humanistische Position, dass der Mensch in Bezug auf sein Seelenheil einen freien Willen habe; Luther verteidigt dagegen die reformatorisch-biblische Sicht, dass rettender Glaube eine Wirkung allein der Gnade Gottes sei. Dieses Werk Luthers zählt zu den bedeutendsten reformatorischen Schriften überhaupt. Als man Luther vorschlug, seine Schriften in einer Gesamtausgabe zu veröffentlichen, wies er das weit von sich, wünschte, dass man lieber die Bibel studieren solle und wollte am liebsten alle seine Bücher vergessen machen außer zweien: 1 Originaltitel De Servo Arbitrio, alternative Übersetzung: »Vom geknechteten Willensvermögen«. 2 Diatribe de libero arbitrio; im Folgenden stets kurz als »Diatribe« bezeichnet.

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Vom unfreien Willen

Ich wünschte, dass sie (meine Schriften) alle verschlungen würden. Denn ich erkenne keins als mein rechtes Werk an, außer etwa das ›Vom unfreien Willen‹ und den Katechismus.3

Das ist vielsagend, wenn man bedenkt, dass Luthers Gesamtwerk in der Weimarer Ausgabe über 100 dicke Bände umfasst. Luther hat hier zwar nicht wie sonst für ihn üblich dem »Volk aufs Maul geschaut«, sondern als Gelehrter an Gelehrte geschrieben – jedoch in seiner typisch kraftvollen Ausdrucksweise –, aber dabei geht es nicht um spitzfindige Streitigkeiten unter Theologen, sondern um die Grundlagen des christlichen Glaubens schlechthin, die auf dem Spiel standen. Am Ende dieses Werkes lobt Luther Erasmus dafür, dass er ihn nicht mit »jenen anderen Dingen über das Papsttum, das Fegefeuer, den Ablass und Ähnlichem, was mehr Lappalien als wirkliche Probleme sind« konfrontiert habe, sondern mit »dem eigentlichen Kern der Sache«, dem substantiellen Unterschied zwischen katholischem und evangelischem Glauben; Erasmus habe »den Angelpunkt der Sache gesehen und die Hauptsache selbst angegriffen«. »Vom unfreien Willen« ist ein Musterbeispiel für eine Argumentation allein auf Grundlage der Bibel. Luther legt zunächst die Absolutheit biblischer Wahrheit und die Klarheit der Schrift dar und verdeutlicht im weiteren Verlauf immer wieder das reformatorische Prinzip »allein die Schrift« im Gegensatz zum philosophisch durchtränkten und vom traditionsabhängigen Denken seiner Zeitgenossen. In der Behandlung des Themas wird die Rechtfertigung allein aus Gnade, allein durch Glauben, allein durch Christus und allein zur Ehre Gottes deutlich. Diese fünf »Allein« (lat. Sola) sind die grundlegenden Hauptwahrheiten des Christentums und des Evangeliums, die durch die Reformation wieder neu zur Geltung kamen. Der Lutherforscher Klaus Schwarzwäller sagt über »Vom unfreien Willen«: »Keine Schrift davor oder danach hat das Evangelium in solcher Konzentration 3 Kurt Aland: Luther Deutsch Band X, S. 262.

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Vorwor t zur Neuausgabe

und mit derart unausweichlichem Nachdruck zur Geltung gebracht.« Sprachlich ist diese Schrift recht anspruchsvoll und zeugt von großer Gelehrsamkeit. Die Verständlichkeit wird zudem etwas dadurch erschwert, dass Luther Erasmus’ Diatribe sorgfältig Stück für Stück abhandelt und dabei häufig daraus zitiert; nicht immer ist auf den ersten Blick klar, an welchen Stellen es sich um ein solches Zitat handelt. Außerdem verwendet Luther oft die für ihn typische beißende Ironie. Wenn man sich ein wenig an Luthers Stil gewöhnt hat, sollte die Lektüre aber keine Probleme bereiten. Zitate aus der Diatribe sind in der Übersetzung üblicherweise in Anführungszeichen gesetzt; eine indirekte, konjunktivische Wiedergabe der Diatribe macht Luther gewöhnlich durch seine Formulierung (»du schreibst / du behauptest …«) deutlich. Hintergründe und spezielle Ausdrücke sind zudem in vielen Fußnoten erklärt, die teils von uns erstellt, teils aus den älteren Ausgaben übernommen wurden. Diese Neuausgabe ist eine Überarbeitung früherer genauer Übersetzungen aus dem Lateinischen. Die erste deutsche Übersetzung durch Justus Jonas erschien bereits einen Monat nach Veröffentlichung des Originals im Januar 1526 (sechs Nachdrucke folgten noch im selben Jahr). Jonas hat aber sehr frei übersetzt und nicht unbedingt den Wortlaut, sondern mehr den Sinn Luthers wiedergegeben und mit eigenen Ergänzungen versehen. Daher schien uns für eine Neuausgabe weder der Text von Justus Jonas noch darauf beruhende Neuausgaben wie z. B. von Gogarten (München 1924) geeignet. Die Basis für diese Neuausgabe lieferte die wortgetreue Übersetzung in der Concordia-Ausgabe der Luther-Werke4 – die auf der Luther-Gesamtausgabe von Johann Georg Walch aus dem 18. Jahrhundert beruht –, außerdem die sehr genaue Übersetzung von Otto Scheel.5 Hilfreich zur Be 4 Band 18, St. Louis 1888, noch heute als Reprint erhältlich beim Verlag Lutherische Buchhandlung Harms, Groß Oesingen. 5 Braunschweiger Lutherausgabe Ergänzungsband II, 1905.

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Vom unfreien Willen

arbeitung der Übersetzung war auch die Lateinisch-Deutsche Studienausgabe Band 16 mit einer sehr getreu übersetzten deutschen Fassung, übersetzt von Athina Lexutt. Weitere berücksichtigte Ausgaben sind die von Kurt Aland in »Luther Deutsch« Band 3 (Stuttgart 1961; stark gekürzt) und die recht freie, prägnante Übertragung von Otto Schumacher (Göttingen 1937). Zur besseren Übersicht wurde das Buch von uns in Kapitel und Abschnitte unterteilt. Diese Gliederung orientiert sich an der englischen Ausgabe »The Bondage of the Will« von J. I. Packer und O. R. Johnson (Grand Rapids 1957). Hinter den Abschnitts-Überschriften sind in Klammern jeweils die entsprechenden Seitenzahlen der maßgeblichen Weimarer Ausgabe (WA) angegeben, was ein Auffinden im lateinischen Original oder einen Vergleich mit anderen Übersetzungen erleichtert. Luthers ursprünglicher Text ist äußerlich kaum gegliedert, folgt aber einer stringenten inneren Ordnung. Die zahlreichen Bibelstellenangaben im Text sind größtenteils ebenfalls nicht Bestandteil von Luthers Originaltext. Ihre Ergänzung verdeutlicht, wie schriftgebunden Luther argumentiert. Wir wünschen und beten, dass viele Leser nicht nur intellektuell Freude an diesem Werk finden, sondern ihnen die Grundwahrheiten des Evangeliums ganz neu klar und lebendig werden: Jesus Christus ist gestorben und auferstanden, nicht um kleine Sünder ein wenig zu erlösen, sondern um völlig verdorbene Sünder völlig zu erlösen und ganz neu zu machen. Dafür sei ihm allein die Ehre – ihm, der diese Erlösung zum Preis seines kostbaren Blutes erkauft hat, Gott dem Vater, der vor Ewigkeiten in seiner Gnade diesen Ratschluss gefasst hat, und dem Heiligen Geist, der die uns fehlende Kraft in der Bibel darreicht und im Herzen der Gläubigen zur Wirkung kommen lässt. Hans-Werner Deppe

6 Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006.

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Kapitel 1

Einleitung (600-602)

Dem ehrwürdigen Herrn Erasmus aus Rotterdam wünscht Martin Luther Gnade und Frieden in Christus. Dass ich so spät auf deine Diatribe vom freien Willen7 antworte, ehrwürdiger Erasmus, geschah gegen die Erwartung aller und gegen meine Gewohnheit – weiß man doch, dass ich bisher solche Gelegenheiten zu schreiben nicht nur gerne ergriffen, sondern sogar aus freien Stücken gesucht habe. Es mag sich wohl mancher über diese neue und ungewöhnliche Geduld (oder gar Furcht?) Luthers wundern, den nicht einmal die vielen prahlerischen Reden und Schriften seiner Gegner dazu aufstacheln konnten, die Erasmus zu seinem Sieg gratulierten und ihm ein Triumphlied sangen: »Hat dieser Makkabäus, der so beharrlich auf seiner Lehre bestand, endlich einen würdigen Gegner gefunden, gegen den er nicht aufzumucken wagt?« Das will ich jenen wahrhaftig nicht zum Vorwurf machen; vielmehr gestehe sogar ich selbst dir den Siegespreis zu, den ich zuvor niemandem zugestanden habe – übertriffst du mich doch bei weitem in Redekunst und Geisteskraft. (Diesen Preis gestehen wir alle dir mit Recht zu; wie viel mehr noch ich, der ich schon immer als Barbar unter Barbaren wandelte.8) Aber auch deshalb gebührt dir der Siegespreis, weil du meinen Angriffsdrang gehemmt und mich schon vor dem Kampf ermattet hast, und zwar auf zweierlei Weise: Zuerst einmal durch die Kunst, 7 Die »Abhandlung über den freien Willen«, lat. Diatribe de libero arbitrio. Nachfolgend durchgehend einfach als Diatribe bezeichnet. 8 Das heißt als völlig Unzivilisierter oder Ungebildeter. Das ist natürlich eine gewaltige selbstironische Übertreibung. Da Luther allerdings nicht die humanistische Bildung eines Erasmus hatte, verachtete Erasmus ihn jedoch tatsächlich als »Barbar«.

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Vom unfreien Willen · Kapitel 1

dass du diese Sache, in der du mir entgegentrittst, mit so wunderbarer und beständiger Zurückhaltung behandelt hast, dass es mich unmöglich gegen dich aufreizen konnte. Zum Zweiten (sei es Zufall, Schicksal oder Glück), weil du in einer so großen Sache wie dieser nichts sagst, was nicht schon gesagt wurde, und sogar noch weniger sagst und dem freien Willen mehr zuschreibst, als die Sophisten9 ihm bisher zugeschrieben haben; darüber werde ich später noch mehr sagen. So schien es mir denn auch ganz überflüssig, auf deine nichtigen Argumente zu antworten, habe ich sie doch schon so oft widerlegt. Wahrhaftig niedergetreten und geradezu vernichtet aber hat sie Philipp Melanchthon in seinem unüberwindlichen Büchlein Loci communes,10 das nach meinem Urteil nicht nur der Unsterblichkeit würdig ist, sondern auch, in der Kirche als Richtschnur zu gelten. Verglichen damit erscheint mir dein Büchlein als solcher Schmutz und Unrat, dass mich großes Mitleid mit dir ergriff, der du deine wunderschöne und geistreiche Redegabe mit solchem Schmutz besudelt hast. So wurde ich denn über diese Sache ungehalten, die gänzlich unwürdig ist, im Schmuck solch glänzender Redekunst vorgetragen zu werden – als ob man Abfall oder Mist in goldenen oder silbernen Gefäßen auftrüge. Das scheinst du auch selbst verspürt zu haben, da du dich so schwer damit getan hast, über diese Sache zu schreiben. Denn dein Gewissen hat dich gewarnt, es werde so kommen, dass du meine Augen nicht blenden könntest, mit welch großer Beredsamkeit du die Sache auch angehen magst; und sei erst der Wortschmuck entfernt, so würde ich ganz deutlich erkennen, was für ein Dreck 11 es in Wahrheit ist. 9 Als »Sophisten« bezeichnet Luther (wie auch Erasmus in seiner Diatribe) durchgehend und im abschätzigen Sinn die Vertreter der kirchlichen Scholastik, nicht etwa die gleichnamige antike griechische Philosophenschule. 10 Locci communes rerum theologicarum, etwa »Allgemeine Grundbegriffe der Theologie«), quasi die erste protestantische Dogmatik. 11 Lateinisch »feces«, was sowohl Hefen oder Bodensatz in Wein und Bier bezeichnen kann, aber auch Kot oder Fäkalien (hier wohl eher im letzteren

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Einleitung

Denn »wenn ich auch der Rede unkundig bin, so bin ich doch« – durch Gottes Gnade – »nicht unkundig in der Erkenntnis« (2Kor 11,6). So wage ich denn mit Paulus, mir die Erkenntnis zuzusprechen und sie dir zuversichtlich abzusprechen, wiewohl ich dir Beredsamkeit und Geisteskraft zubillige und sie mir willig und billig abspreche. Demnach dachte ich mir: Wenn es Leute gibt, die unsere Lehre, die wir so fest und gewaltig aufgrund der Schrift verteidigt haben, nicht besser erfasst haben und nicht stark genug festhalten, als dass die geringfügigen und nichtigen Argumente des Erasmus sie schon umwerfen, dann sind sie nicht wert, dass ihnen durch meine Antwort geholfen werde. Denn für solche Leute könnte man nie genug reden oder schreiben, selbst dann nicht, wenn man Abertausende von Büchern tausendmal wiederholte. Denn das wäre, als wolle man den Meeresstrand pflügen, in der Wüste säen oder ein löchriges Fass mit Wasser füllen. Denn denen, die sich in unseren Büchern den Heiligen Geist zum Lehrer genommen haben, haben wir mehr als genug gedient; und sie werden das, was du vorbringst, mit Leichtigkeit verachten. Über die aber, die es ohne den Geist lesen, braucht man sich nicht wundern, wenn sie von jedem Wind wie ein Schilfrohr bewegt werden. Denen könnte sogar Gott nicht genug sagen, selbst wenn er allen Kreaturen gäbe, sprechen zu können. Darum hätte ich beinahe beabsichtigt, die fahren zu lassen, die über dein Büchlein zu Fall gekommen sind, samt denen, die es rühmen und dir den Triumph zuerkennen. Doch nicht, dass ich zu beschäftigt gewesen wäre, die Sache zu schwierig, du allzu beredt oder ich dich gefürchtet hätte, nahm mir die Lust, dir zu antworten, sondern allein der Ekel, der Unwille und die Verachtung, die ich – um mein Urteil offen auszusprechen – über deine Diatribe empfinde. Indessen will ich davon schweigen, dass du, wie es deine Art ist, ganz beharrlich darauf aus bist, vage und zweideutig zu reden, und meinst, vorsichtiger als Odysseus zwiSinne gemeint; vgl. oben »Schmutz und Unrat«, »Abfall oder Mist«).

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Vom unfreien Willen · Kapitel 1

schen Skylla und Charybdis zu segeln.12 Da du nichts fest behaupten willst, umgekehrt aber als jemand gelten willst, der etwas fest behauptet: Wem, frage ich dich, kann man wohl einen solchen Menschen gleichsetzen, womit ihn vergleichen, es sei denn, man versteht, den Proteus zu fangen?13 Was ich hierin vermag und was es dir geholfen hat, will ich nachher mit Christi Hilfe zeigen. Dass ich jetzt dennoch antworte, geschieht nicht ohne guten Grund; drängen mich doch treue Brüder in Christus dazu und halten mir entgegen, dass alle es erwarten, weil das große Ansehen des Erasmus nicht zu verachten und die Wahrheit der christlichen Lehre in den Herzen vieler in Gefahr sei. Zuletzt allerdings bin auch ich auf den Gedanken gekommen, dass mein Schweigen durchaus nicht Gott wohlgefällig war; sondern die Klugheit oder vielmehr die Bosheit meines Fleisches hat mich dazu verführt, sodass ich meiner Amtspflicht nicht gerecht wurde, nach welcher ich »ein Schuldner der Weisen wie auch der Unverständigen bin« (Röm 1,14), zumal mich die Bitten so vieler Brüder dazu aufrufen. Denn unsere Sache ist zwar durchaus von der Art, dass ein nur äußerlicher Lehrer ihr nicht genügt, sondern dass sie neben 12 Sprichwörtlich für den Versuch, eine Situation möglichst unbeschadet zu überstehen, in der man nur die Wahl zwischen zwei Übeln hat. Die alten Griechen personifizierten mit den mythischen Meeresungeheuern Skylla und Charybdis die Gefahren für damalige Seefahrer bei der Passage durch die Straße von Messina, der Meerenge zwischen Sizilien und dem italienischen Festland. Dort herrschen starke Strömungen und widrige Winde vor; die Küste beiderseits ist über weite Strecken von Steilklippen geprägt. Hielt man von der einen Seite genug Sicherheitsabstand, drohte man der anderen zu nahe zu kommen und Schiffbruch zu erleiden. 13 In der griechischen Mythologie war der Meeresgott Proteus ein Seher, der sein Wissen nur ungern preisgab. Dazu war er aber gezwungen, wenn man ihn ergreifen und fesseln konnte. Um sich dem zu entziehen, wandelte er vielfach seine Gestalt. Dem, so Luther, gleiche Erasmus: Er winde sich mit mehrdeutigen Worten, um eine klare Stellungnahme zu vermeiden, sodass man ihn nur schwer zu fassen bekomme. Ein ähnlicher Ausspruch Luthers lautet: »Erasmus ist ein Aal. Niemand kann ihn ergreifen als Christus allein« (vgl. die Weimarer Ausgabe, Tischreden Bd. 1, S. 55, Nr. 131).

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Einleitung

dem, der äußerlich pflanzt und begießt, auch den Geist Gottes erfordert, der das Wachstum geben und das Lebendige lebendig innerlich lehren muss (dieser Gedanke drängte sich mir auf); jedoch hätte ich, weil dieser Geist frei ist und nicht dort weht, wo wir wollen, sondern wo er will, mich nach der Regel des Paulus richten sollen: »Predige das Wort, steh dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit« (2Tim 4,2), denn wir wissen nicht, zu welcher Stunde der Herr kommt (Mt 24,42). Nun mag es ja Leute geben, die noch nicht erkannt haben, dass der Heilige Geist der Lehrer in meinen Schriften ist, und die durch die Diatribe niedergestreckt sind; vielleicht ist ihre Stunde noch nicht gekommen. Und wer weiß, ob es Gott nicht beliebt, auch dich, bester Erasmus, durch mich elendes und zerbrechliches Gefäß heimzusuchen, sodass ich zu glücklicher Stunde mit diesem Büchlein zu dir kommen und einen gar teuren Bruder gewinnen möge. Darum bitte ich von Herzen den Vater der Barmherzigkeit durch Jesus Christus, unseren Herrn. Denn wenn du auch schlecht vom freien Willen denkst und schreibst, so bin ich dir doch nicht geringen Dank dafür schuldig, dass du mich in meiner Meinung noch weit mehr bestärkt hast, als ich sah, wie ein solcher und so großer Mann die Sache des freien Willens mit aller Macht vorantrieb und doch gar nichts ausgerichtet wurde, sodass es jetzt um die Sache schlechter steht als zuvor. Das ist ein handgreiflicher Beweis dafür, dass der freie Wille nichts als eine Lüge ist, der es wie jener Frau im Evangelium ergeht (Lk 8,43): Je mehr die Ärzte sie behandeln, desto schlimmer wird es. Darum werde ich dir noch viel dankbarer sein, wenn du durch mich zu größerer Gewissheit gelangst, so wie ich durch dich weit mehr gefestigt wurde; aber beides ist eine Gabe des Heiligen Geistes und kein Werk, das wir tun könnten. Deshalb muss Gott gebeten werden, dass er mir den Mund öffne, dir aber und allen das Herz, und er selbst als Lehrer mitten unter uns sei, der unter uns rede und auf den man höre. Das aber, lieber Erasmus, lass mich von dir erlangen: So, wie ich dir deine Unwissenheit in diesen Dingen nachsehe, so mögest auch du wiederum 15


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mir mein kindliches Lallen nachsehen. Weder gibt Gott einem alles, noch können wir alle alles, sondern wie Paulus sagt: »Es sind verschiedene Gaben, aber es ist ein Geist« (1Kor 12,4). Also bleibt nur der Schluss, dass die Gaben einander dienen und einer mit seiner Gabe des anderen Last und Mangel trage; so werden wir das Gesetz Christi erfüllen (Gal 6,2).

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Kapitel 2

Antwort auf das Vorwort der Diatribe 1.) Die Notwendigkeit von fester Behauptung (assertio) im Christentum (603-605) Zu Beginn will ich einige Hauptpunkte deines Vorworts kurz durchgehen, in denen du unsere Sache ziemlich herabsetzt und deine Sache schönfärbst. Zuerst: Wie auch in anderen Schriften tadelst du an mir, dass ich beharrlich feste Behauptungen aufstelle. So sagst du in diesem Büchlein: »Und so groß ist mein Missvergnügen an festen Behauptungen, dass ich unbedenklich mich der Ansicht der Skeptiker anzuschließen pflege, wo immer es die unverletzliche Autorität der Heiligen Schrift und die Entscheidungen der Kirche erlauben, denen ich mein Urteil in allen Stücken gern unterordne, einerlei, ob ich ihre Anordnungen verstehe oder nicht« – und ein solcher Wesenszug gefalle dir. Dies fasse ich (wie es billig ist) so auf, dass du es wohlwollend meinst, und zwar als jemand, der den Frieden liebt. Hätte es aber ein anderer gesagt, so würde ich ihn nach meiner Gewohnheit energisch angreifen. Aber ich darf auch nicht dulden, dass du in dieser Meinung irrst, wenn auch in bester Absicht. Denn das ist kein christlicher Wesenszug, wenn einem feste Behauptungen missfallen; vielmehr muss man an festen Behauptungen Gefallen haben, oder man kann kein Christ sein. Eine feste Behauptung [assertio]14 aber nenne ich (damit wir nicht mit Worten spielen), 14 Assertio omnium articulorum M. Lutheri per Bullam Leonis X. novissimam damnatum (»Bekräftigung [oder »Verteidigung«, »feste Behauptung«] al-

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wenn man einer Sache beständig anhängt, sie bekräftigt, bekennt, verteidigt und unerschütterlich darin verharrt; und etwas anderes, glaube ich, bedeutet dieses Wort auch weder bei den Lateinern noch im Sprachgebrauch unserer Zeit. Ferner rede ich davon, dass man fest bei den Dingen bleiben muss, die Gott uns in den Heiligen Schriften überliefert hat. Sonst hätten wir weder Erasmus noch irgendeinen anderen Lehrer nötig, der uns erst lehren müsste, dass feste Behauptungen in zweifelhaften, unnützen oder unnötigen Dingen sowie Zank und Streit darüber nicht nur töricht, sondern auch gottlos sind, was Paulus an vielen Stellen verdammt. Auch du, glaube ich, redest an dieser Stelle nicht von solchen Dingen – es sei denn, dass du dir nach der Weise eines lächerlichen Redners vornimmst, über eine Sache zu reden, dann aber etwas anderes behandelst, oder dass du im Wahn eines gottlosen Schriftstellers dafür eintreten wolltest, der Artikel vom freien Willen sei zweifelhaft oder unnötig. Fern von uns Christen seien die Skeptiker und Akademiker;15 nahe aber seien uns die, die doppelt so stur wie selbst die Stoiker auf einem festen Standpunkt beharren! Wie oft, frage ich dich, fordert der Apostel Paulus jene Plerophorie [Glaubensgewissheit; 1Thes 1,5], das heißt, mit gutem Gewissen etwas aufs Sicherste und Festeste zu behaupten? In Römer 10,10 nennt er es ein Bekenntnis: »Wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.« Und Christus sagt: »Wer nun mich bekennt vor ler Artikel Martin Luthers, die durch die jüngste Bulle Leos X. verurteilt wurden«) ist der lateinische Titel der Schrift, die Luther Anfang Januar 1521 veröffentlichte, um seine in der Bannandrohungsbulle des Papstes verurteilten Lehrsätze zu verteidigen. Die deutsche Fassung der Assertio erschien zeitgleich unter dem Titel Grund und Ursache aller Artikel D. Martin Luthers, so durch die römische Bulle unrechtlich verdammt sind. Erasmus greift das Stichwort assertio und verwandte Wörter in seiner Diatribe wiederholt auf; so auch Luther hier. 15 Mit »Akademikern« sind die Nachfolger Platos gemeint, des Gründers der »Akademie« genannten Philosophenschule von Athen.

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Antwor t auf das Vorwor t der Diatribe

den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater« (Mt 10,32). Petrus befiehlt, dass wir Rechenschaft geben sollen von der Hoffnung, die in uns ist (1Petr 3,15). Was soll ich viele Worte machen? Nichts ist unter Christen bekannter und gebräuchlicher als die feste Behauptung. Nimmst du die feste Behauptung weg, so nimmst du den christlichen Glauben weg. Ja, selbst der Heilige Geist ist vom Himmel gegeben, damit man Christus verherrliche und bis in den Tod bekenne. Heißt das denn nicht, etwas fest zu behaupten, wenn man wegen des Bekenntnisses und der festen Behauptung stirbt? Zuletzt aber beharrt auch der Heilige Geist so sehr auf seiner festen Meinung, dass er von sich aus die Welt angreift und wegen der Sünde verklagt, wie einer, der jemand zum Kampf auffordert. Und Paulus befiehlt dem Timotheus, zu ermahnen und auch zur Unzeit für das Wort einzutreten (2Tim 4,2). Das aber wäre mir ein feiner Ermahner, der selber weder das fest glaubt noch stets dafür eintritt, wozu er ermahnt! Den würde ich nach Antikyra schicken.16 Aber ich bin ein großer Tor, dass ich für eine Sache, die klarer ist als die Sonne, Zeit und Worte verschwende. Welcher Christ würde das ertragen, dass feste Behauptungen zu verachten seien? Das wäre nichts anderes, als allen Glauben insgesamt und die Gottesfurcht zu leugnen, oder zu behaupten, Glaube und Frömmigkeit, ja, jegliche Lehre [dogma] seien nichts. Warum also behauptest auch du so fest, dass du an festen Behauptungen keinen Gefallen hast und dass dir eine solche Haltung lieber sei als eine andere? Doch mit Recht gemahnt man mich, dass du hiermit nichts über das Bekenntnis Christi und seine Lehre sagen willst. Und ich will dir zu Gefallen von meinem Recht und meiner Gewohnheit abstehen und nicht über dein Herz richten, sondern mir dies für einen anderen Zeitpunkt vorbehalten oder es anderen überlassen. Fürs Erste ermahne ich dich, deine Rede- und Schreib 16 Eine Insel in der Ägäis, wo viel Nieswurz wuchs. Dieser Pflanze schrieb man Heilkraft gegen Geisteskrankheiten zu.

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Vom unfreien Willen · Kapitel 2

weise zu verbessern und dich künftig solcher Worte zu enthalten; denn wie rechtschaffen und aufrichtig dein Herz auch sein mag, so doch nicht deine Rede, die zeigt, von welchem Wesen das Herz ist, wie es heißt (Mt 12,34). Denn wenn du meinst, man müsse nicht wissen, was es mit dem freien Willen auf sich hat, und er habe mit Christus nichts zu schaffen, so redest du recht,17 hast aber eine gottlose Meinung. Meinst du hingegen, es sei nötig, so redest du gottlos,18 hast aber die rechte Meinung. Aber selbst dann wäre es nicht angebracht gewesen, von unnützen Behauptungen und Zänkereien so groß zu klagen und zu übertreiben; denn was trägt das zur Sache bei? Was aber willst du zu deinen eigenen Worten sagen, wo du nicht bloß vom freien Willen sprichst, sondern allgemein von allen Dogmen des Glaubens: »Wo immer es die unverletzliche Autorität der Heiligen Schrift und die Entscheidungen der Kirche erlauben«, würdest du dich »unbedenklich … der Ansicht der Skeptiker« anschließen und hättest »Missvergnügen an festen Behauptungen«? Welcher Proteus steckt doch in den Worten »unverletzliche Autorität« und »Entscheidungen der Kirche«! Denn es sieht so aus, als ob du die Schrift und die Kirche in hohen Ehren hältst, und doch gibst du zu verstehen, du wünschst die Freiheit, ein Skeptiker zu sein. Welcher Christ würde so reden? Wenn du das über unnütze und gleichgültige Lehrsätze sagst, was bringst du da Neues vor? Wer sollte hier nicht die Freiheit wünschen, etwas skeptisch zu hinterfragen? Ja, welcher Christ macht von dieser Freiheit tatsächlich nicht unumschränkt Gebrauch und verurteilt die, die Sklaven und Gefangene irgendeiner Meinung sind? Es sei denn (so klingen deine Worte fast), du hieltest die Christen insgesamt für solche Leute, deren Lehrsätze unnütz sind, über die sie törichterweise streiten und feste Standpunkte verfechten. 17 Das heißt, »sagst du das, was du denkst«. 18 Das heißt, »redest du anders, als du denkst«, und daher heuchlerisch = gottlos.

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Antwor t auf das Vorwor t der Diatribe

Wenn du aber von notwendigen Lehrsätzen redest, was könnte man Gottloseres behaupten, als zu wünschen, man hätte die Freiheit, hierin nichts Festes behaupten zu müssen? Ein Christ redet vielmehr so: »Die Meinung der Skeptiker ist mir so sehr zuwider, dass ich, wo immer nur angesichts der Schwachheit meines Fleisches möglich, nicht nur beständig, überall und in allen Stücken an der Heiligen Schrift festhalten und durch sie gefestigt werden möchte; sondern auch in den Dingen, die nicht nötig sind und außerhalb der Schrift liegen, möchte ich so gewiss wie möglich sein.« Denn was ist elender als Ungewissheit? Was sollen wir auch dazu sagen, dass du dem noch anfügst: »denen ich mein Urteil in allen Stücken gern unterordne, einerlei, ob ich ihre Anordnungen verstehe oder nicht«? Was sagst du da, Erasmus? Genügt es nicht, den Verstand der Schrift unterzuordnen? Ordnest du ihn auch den Entscheidungen der Kirche unter? Was kann denn sie entscheiden, was nicht die Schrift entschieden hat? Ferner: Wo bleibt die Freiheit und die Vollmacht, die zu beurteilen, die solches entschieden haben? Wie Paulus sagt: »Die anderen lasst urteilen« (1Kor 14,29). Gefällt es dir nicht, dass jemand über die Lehrsätze der Kirche urteilt, was Paulus doch befiehlt? Was ist das für eine neue Religion und Demut, dass du uns die Vollmacht nimmst, Menschenlehren zu beurteilen, und uns Menschen unterwirfst, ohne sie beurteilen zu dürfen? Wo schreibt uns Gottes Wort das vor? Ferner: Welcher Christ schlägt die Vorschriften der Schrift und der Kirche derart in den Wind, dass er sagen mag: »Ob ich es begreife oder nicht, ist einerlei«? Du unterwirfst dich, und dennoch liegt dir nichts daran, ob du es begreifst oder auch nicht? Wahrhaftig sei der Christ verflucht, der sich nicht sicher ist und nicht begreift, was ihm verordnet ist! Denn wie kann er glauben, was er nicht begreift? Denn du wirst das hier »begreifen« [assequi] nennen, was jemand sicher erfasst hat und nicht nach der Weise der Skeptiker anzweifelt. Was nämlich könnte ein Mensch an irgendeinem Geschöpf begreifen, wenn begreifen dasselbe wäre, wie etwas vollkommen zu erkennen und zu durchschauen? Denn dann wäre es auch unmöglich, 21


Vom unfreien Willen · Kapitel 2

dass jemand etwas begreifen und zugleich nicht begreifen kann; sondern wer nur irgendein Ding begriffen hätte, der hätte alle Dinge begriffen, nämlich in Gott. Wer den nicht begreift, der begreift auch nie einen Teil der Schöpfung. Kurz gesagt: Deine Worte klingen so, als ob dir gar nichts daran liegt, was wer auch immer glauben mag, wenn nur der Weltfriede erhalten bleibt – als sei es erlaubt, wenn Leben, guter Ruf, Vermögen und Gunst bei Menschen in Gefahr stehen, den nachzuahmen, der da spricht: »Sagen die Leute ja, sage auch ich ja; sagen sie nein, sage auch ich nein.«19 Nach deinen Worten scheinst du die christlichen Lehren für nichts Besseres zu halten als für die der Philosophen und sonstige Menschenmeinungen. Über diese zu zanken, zu streiten und sie fest zu behaupten, sei überaus töricht, weil daraus nichts als Streit und Störung des äußeren Friedens komme: »Was über uns steht, geht uns nichts an.«20 So willst du unseren Streit schlichten, indem du als Mittler daherkommst, beide Seiten in der Schwebe hältst und uns überreden willst, wir stritten über törichte und unnütze Dinge. Wie ich schon sagte: So klingen deine Worte. Und ich glaube, lieber Erasmus, du verstehst, was ich hier nur andeutungsweise sage. Aber wie bereits erwähnt, will ich die Worte einstweilen übersehen und dein Herz entschuldigen, sofern du dich nicht weiter darüber auslässt, wie ich auch den Geist Gottes fürchte, der Herzen und Nieren erforscht und sich durch geschickte Worte nicht täuschen lässt. Dies aber habe ich deswegen gesagt, damit du künftig aufhören mögest, uns der Störrigkeit und Hartnäckigkeit zu beschuldigen. Denn mit diesem Vorhaben tust du nichts anderes, als zu offenbaren, dass du im Herzen den Lukian21 oder ein anderes 19 Terenz, Der Eunuch, 2,2,21. 20 Ein Sokrates zugeschriebenes Sprichwort; vgl. Minucius Felix, Octavius 13,1. 21 Lukian von Samosata, ein griechisch-heidnischer Schriftsteller des zweiten Jahrhunderts n.Chr., den Erasmus sehr schätzte und an den er sich in seiner Satire Das Lob der Torheit (Erstausgabe Paris 1511) stark anlehnt.

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Antwor t auf das Vorwor t der Diatribe

»Schwein aus der Herde Epikurs«22 nährst, der – weil er selbst nicht glaubt, dass es einen Gott gibt23 – heimlich alle die verlacht, die das glauben und bekennen. So wollen wir nur feste »Behaupter« sein, die eifrig etwas fest behaupten und Gefallen daran haben; du aber halte es mit den Skeptikern und Akademikern, bis Christus auch dich zum Heil berufe. Der Heilige Geist aber ist kein Skeptiker und hat in unser Herz weder Zweifel noch bloße Meinungen geschrieben, sondern feste Behauptungen, die gewisser und fester sind als das Leben selbst und als alle Erfahrung. 2.) I st die Heilige Schrift klar oder nicht? (606-609) Damit komme ich zum zweiten Hauptpunkt im Vorwort der Diatribe, der hiermit zusammenhängt. Wo du christliche Lehrsätze voneinander unterscheidest, erdichtest du, bei einigen sei es nötig, sie zu wissen, bei anderen nicht; einige seien verborgen, sagst du, andere deutlich. So treibst du entweder ein Spiel mit Worten anderer, die dich betört haben, oder übst dich selbst in einem Kunststück der Rhetorik. Du führst aber für diese Meinung den Vers des Paulus an (Röm 11,33): »O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!« Ebenso den Vers Jesajas (40,13): »Wer unterrichtet den Geist des Herrn, und welcher Ratgeber unterweist ihn?« Das hast du leicht sagen können, da du ja wusstest, dass du nicht an Luther schreibst, sondern für die breite Masse. Oder du hast nicht daran gedacht, gegen Luther zu schreiben, dem du doch (wie ich hoffe) zugestehst, die Heilige Schrift einigermaßen erforscht zu haben und beurteilen zu können. Wenn nicht: Was soll’s, dann werde ich es dir schon abnötigen! 22 So wörtlich die Selbstbezeichnung des römischen Dichters Horaz (Episteln 1,4,16). 23 Epikur war Materialist.

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Damit auch ich ein wenig Rhetorik und Dialektik treibe – so sieht es aus, wie ich die Dinge unterscheide: Gott und die Heilige Schrift sind zwei verschiedene Dinge, nicht weniger als der Schöpfer und die Schöpfung Gottes zwei verschiedene Dinge sind. Niemand bezweifelt, dass in Gott vieles verborgen ist, was wir nicht wissen; so sagt er selbst über den Jüngsten Tag: »Von dem Tage aber weiß niemand, sondern allein mein Vater« (Mt 24,36; Mk 13,32), und: »Es gebührt euch nicht, zu wissen Zeit oder Stunde« (Apg 1,7); und wiederum: »Ich weiß, welche ich erwählt habe« (Joh 13,18); und Paulus sagt: »Der Herr kennt die Seinen« (2Tim 2,19), und dergleichen. Dass aber in der Heiligen Schrift uns einiges verborgen sei, verkünden zwar die gottlosen Sophisten, mit deren Worten auch du hier redest, Erasmus; aber sie haben noch keine einzige Schriftstelle vorgezeigt noch vorzeigen können, durch die sie diesen ihren Wahn bewiesen hätten. Durch solche Täuschung hat der Teufel vom Lesen des göttlichen Wortes abgeschreckt und die Heilige Schrift verächtlich gemacht, damit er seine verderblichen Lehren aus der Philosophie in der Kirche zur Herrschaft brächte. Das freilich gestehe ich zu, dass viele Stellen in der Schrift dunkel und verborgen sind – nicht weil ihr Inhalt zu erhaben wäre, sondern weil wir die Vokabeln und die Grammatik nicht kennen; aber das heißt durchaus nicht, dass wir deshalb gar nichts in der Schrift erkennen könnten. Denn was könnte in der Schrift sonst noch Erhabeneres verborgen sein, nachdem die Siegel an der Tür des Grabes gebrochen sind, der Stein weggewälzt wurde und jenes allerhöchste Geheimnis offenbart ist, dass Christus, Gottes Sohn, Mensch geworden; dass Gott dreifaltig ist und doch nur einer; und dass Christus für uns gelitten hat und ewig herrschen wird? Ist das nicht wohlbekannt und wird überall besungen? Nimm Christus aus der Schrift hinweg, was kannst du dann noch in ihr finden? Daher ist alles, was die Schrift enthält, deutlich offenbart, mögen auch einzelne Stellen dunkel sein, weil die Worte noch 24


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unbekannt sind. Wenn man aber weiß, dass alles in der Schrift im hellsten Lichte steht, dann ist es töricht und gottlos, wegen weniger dunkler Worte die Sache an sich für dunkel zu erklären. Wenn die Worte an einer Stelle dunkel sind, so sind sie doch anderweitig klar. Ein und dieselbe Sache aber, die der ganzen Welt aufs Deutlichste dargelegt wurde, wird in der Schrift einmal mit klaren Worten besagt, ein anderes Mal ist sie durch dunkle Worte verborgen. So schadet es nicht, wenn eine Sache im Licht ist, ob etwas an ihr dunkel ist, während doch vieles andere an ihr deutlich ist. Wer wird schon sagen, ein öffentlicher Brunnen sei verborgen, weil ihn die nicht sehen, die in einer Nebenstraße sind? Sehen ihn doch alle, die auf dem Markt sind! Darum ist nichtig, was du über die Höhle von Korykos anführst;24 so steht es nicht mit der Schrift! Auch sind die erhabensten und dunkelsten Geheimnisse nicht ferne und verborgen, sondern in aller Öffentlichkeit vorgeführt und dargelegt (vgl. 5Mo 30,11-14).25 Christus nämlich hat unseren Verstand erleuchtet, damit wir die Schrift verstehen können. Auch ist »das Evangelium aller Kreatur gepredigt« worden (Mk 16,15) und sein »Schall in 24 Erasmus schreibt dazu (Diatribe I a 7): »Es gibt nämlich in der Heiligen Schrift gewisse allerheiligste [= unzugängliche] Stellen, in die wir nach Gottes Willen nicht tiefer eindringen dürfen; und wenn wir es dennoch wagen, umfängt uns immer mehr Dunkelheit, damit wir wohl so auch erkennen mögen, dass Gottes Weisheit erhaben und unergründlich ist, der menschliche Geist aber beschränkt. Es ist wie mit jener Höhle von Korykos, über die Pomponius Mela berichtet: ›Zunächst übt sie einen gewissen angenehmen Reiz aus, bis die immer tiefer Eingedrungenen schließlich ein solches Grauen überfällt, dass die Majestät der dort wohnenden Gottheit sie vertreibt.‹« Die antike Stadt Korykos lag an der Küste Kilikiens und bestand bis zum Ende des 15. Jahrhunderts; nahe ihrer Ruinen befindet sich das heutige Kizkalesi. 25 Eben diese Bibelstelle zitiert Erasmus wörtlich (Diatribe I a 9) als Beleg für »klare« Schriftstellen im Gegensatz zu vermeintlich dunklen; dabei macht gerade hier der Kontext deutlich, dass das geoffenbarte Wort Gottes klar ist und dunkel nur das, was Gott nicht offenbart hat (5Mo 29,28). Luther geht nachfolgend darauf ein.

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alle Lande ausgegangen« (Röm 10,18 zit. Ps 19,5); und alles, »was geschrieben ist, ist uns zur Lehre geschrieben« (Röm 15,4), ebenso 2. Timotheus 3,16: »Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre.« Darum, du und alle Sophisten: Auf, nennt auch nur ein einziges Geheimnis, das in der Schrift noch verborgen wäre! Dass aber vielen vieles verborgen bleibt, kommt nicht daher, dass die Schrift dunkel wäre, sondern von ihrer Blindheit und Gedankenlosigkeit, weil sie sich nicht daran machen, die hellste Wahrheit zu sehen, wie Paulus von den Juden sagt: »Die Decke hängt vor ihrem Herzen« (2Kor 3,15); und wiederum: »Wenn aber unser Evangelium doch verdeckt ist, so ist es nur bei denen verdeckt, die verloren gehen, den Ungläubigen, bei denen der Gott dieser Welt den Sinn verblendet hat« (2Kor 4,3-4). Mit derselben Dreistigkeit könnte jemand die Sonne und den Tag der Finsternis bezichtigen, der sich die Augen verhüllt oder vom Licht ins Dunkel geht und sich verbirgt. Darum hört auf, ihr elenden Menschen, mit gotteslästerlicher Verkehrtheit der mehr als klaren Schrift Gottes die Finsternis und Dunkelheit anzulasten, die aus eurem eigenen Herzen kommt! Wenn du daher Paulus anführst, der spricht: »Wie unbegreiflich sind seine Gerichte« (Röm 11,33), so scheinst du das Pronomen »seine« auf die Schrift zu beziehen. Aber Paulus sagt nicht: »unbegreiflich sind die Gerichte der Schrift«, sondern »Gottes«. So sagt auch Jesaja 40,13 nicht: »Wer hat den Sinn der Schrift erkannt«, sondern »den Sinn des Herrn«, obwohl Paulus behauptet, dass den Christen der Sinn des Herrn bekannt sei – aber in dem, was uns offenbart ist, wie er ebenda sagt (1Kor 2,16). Du siehst also, wie unachtsam du diese Schriftstellen betrachtest, die du als passend anführst – wie auch fast alles, was du sonst noch für den freien Willen vorbringst. So sind auch deine Beispiele nicht sachdienlich, die du nicht unverdächtig und nicht ohne scharfen Stachel anfügst – wie die vom Unterschied der Personen des dreieinigen Gottes, von der Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur in Christus und von der un26


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verzeihlichen Sünde [gegen den Heiligen Geist; Mt 12,31], deren Zweideutigkeit, wie du sagst, noch nicht entschieden sei. Wenn du dabei an die Fragen denkst, welche die Sophisten über diese Dinge aufgeworfen haben, was hat dir denn die völlig unschuldige Schrift getan, dass du ihrer Reinheit vorwirfst, dass verbrecherische Menschen sie missbrauchen? Die Schrift offenbart schlicht die Dreieinigkeit Gottes, die Menschheit Christi und die unverzeihliche Sünde. Hier ist nichts dunkel oder zweideutig. Wie es aber damit zugehe, sagt die Schrift nicht, wie du vorgibst, und man muss es auch nicht wissen. Die Sophisten behandeln hier ihre Träume; sie magst du verklagen und verdammen, die Schrift aber sprich frei! Wenn du aber verstehst, wie die Sache an sich beschaffen ist, so beschuldige wiederum nicht die Schrift, sondern die Arianer und diejenigen, denen das Evangelium verhüllt ist, sodass sie die klarsten Zeugnisse von der Dreieinigkeit Gottes und der Menschheit Christi durch das Wirken Satans, ihres Gottes, nicht erkennen. Und dass ich es kurz sage: Die Klarheit der Schrift ist eine zweifache, wie auch ihre Dunkelheit eine zweifache ist. Die eine, die äußere, ist Sache des Dienstes am Wort, die andere Sache der Herzenserkenntnis. Wenn du von der inneren Klarheit sprichst, so versteht kein Mensch auch nur ein Jota in der Schrift, wenn er Gottes Geist nicht hat; denn alle haben ein verfinstertes Herz, sodass sie zwar alles sagen und vortragen können, was die Schrift lehrt, und doch nichts davon vernehmen oder wahrhaft erkennen. Auch glauben sie nicht, dass es Gott gibt und dass sie Geschöpfe Gottes sind, noch irgendetwas anderes, wie Psalm 14,1 sagt: »Der Tor spricht in seinem Herzen: Es ist kein Gott!« Denn der Heilige Geist ist nötig, um die ganze Schrift oder auch nur irgendeinen Teil davon zu verstehen. Wenn du von der äußeren Klarheit sprichst, so ist durchaus nichts dunkel oder zweifelhaft geblieben, sondern alles ist durch das Wort an das hellste Licht hervorgebracht und in der ganzen Welt kundgetan, was auch immer in der Schrift enthalten ist. 27


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3.) Ist es heilsam oder vorwitzig, Klarheit über den freien Willen gewinnen zu wollen? (609-614) Aber das ist noch unerträglicher, dass du diese Sache vom freien Willen zu den Dingen zählst, die vorwitzig und überflüssig seien. Stattdessen zählst du uns auf, was deiner Meinung nach für die christliche Frömmigkeit genüge. Einen solchen Lebenswandel könnte sicher leicht jeder Jude oder Heide vorweisen, der von Christus ganz und gar nichts weiß; denn du erwähnst Christus mit keinem einzigen Jota, als ob du der Meinung wärst, es könne christliche Frömmigkeit auch ohne Christus geben, wenn man nur dem von Natur grundgütigen Gott mit allen Kräften dient. Was soll ich hierzu sagen, Erasmus? Lukian spricht ganz und gar aus dir, und mir weht dein Hauch vom großen Rausch des Epikur entgegen.26 Wenn du diese Sache für Christen als nicht notwendig erachtest, dann bitte ich dich: Tritt vom Kampfplatz ab; du und wir haben nichts miteinander zu schaffen. Wir aber halten diese Sache für notwendig. Wenn es gottlos ist, wenn es vorwitzig ist, wenn es überflüssig ist, wie du sagst, zu wissen, ob Gott zufällig im Voraus weiß, ob etwas geschieht; ob unser Wille in den Dingen, die das ewige Heil betreffen, irgendetwas bewirkt oder sich gegenüber der wirkenden Gnade nur passiv verhält; ob wir alles Gute oder Böse, das wir ausüben, zwingend notwendig tun oder es eher erleiden: Was, frage ich, heißt dann noch gläubig zu sein? Was ist bedeutend? Was nützlich zu wissen? Das taugt ganz und gar nichts, Erasmus; das ist zu viel! 27 Es fällt schwer, dies dem zuzuschreiben, dass du es nicht wüsstest. Weil du schon ein alter Mann bist und unter Christen gelebt und lange über die Heilige Schrift nachgedacht hast, lässt 26 Epikur sah den Lebenssinn in der Lust. Er schränkte dies insofern ein, dass man sich dabei mäßigen solle. 27 Tatsächlich im Original Deutsch: »Das ist zu viel« – hier sind Luther die einzigen deutschen Worte im sonst lateinischen Text, entfahren.

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du uns keinen Raum übrig, dich zu entschuldigen oder gut von dir zu denken. Und doch verzeihen dir die Papisten diese Ungeheuerlichkeiten und ertragen sie deshalb, weil du gegen Luther schreibst; sonst aber, wenn Luther nicht wäre und du solche Dinge schreiben würdest, würden sie dich zerfleischen. »Plato ist mein Freund, Sokrates ist mein Freund – aber vor allem muss man die Wahrheit ehren!«28 Denn selbst wenn du die Schrift und die christliche Frömmigkeit zu wenig kennen würdest: Das hätte doch sicherlich selbst ein Feind der Christen wissen müssen, was die Christen für notwendig und nützlich halten und was nicht! Du aber bist ein Theologe und Lehrer der Christen, willst ihnen eine Form des Christentums vorschreiben und zweifelst nicht einmal nach deiner skeptischen Weise daran, was für sie notwendig und nützlich sei, sondern verfällst ganz ins Gegenteil und urteilst sogar, indem du ganz gegen deine Wesensart eine unerhört feste Behauptung aufstellst: Das sei nicht notwendig. Wenn das nicht notwendig und sicher zu erkennen ist, dann bleibt weder Gott, noch Christus, noch das Evangelium, noch der Glaube oder irgendetwas übrig, ja, noch nicht einmal etwas vom Judentum, geschweige denn vom Christentum! Beim unsterblichen Gott: Erasmus, welch großes Fenster,29 ja welch großes Feld tust du auf, gegen dich vorzugehen und zu schreiben! Was könntest du wohl Gutes oder Richtiges vom freien Willen schreiben, der du mit diesen deinen Worten eine so große Unkenntnis der Schrift und des Glaubens offenbarst? Aber ich will die Segel einziehen und hier nicht mit meinen Worten gegen dich vorgehen (was ich vielleicht noch weiter unten tun werde), sondern mit deinen eigenen Worten. Die Form des Christentums, die du beschreibst, beinhaltet unter anderem auch dies: Dass wir uns mit allen Kräften anstrengen sollen, zum Mittel der Buße greifen und auf jede Wei 28 Ein seit der Antike gebräuchliches, Aristoteles zugeschriebenes Sprichwort, in verschiedenen Varianten überliefert. 29 Eine Anspielung auf Diatribe I a 10, weiter unten im Wortlaut zitiert.

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se Gottes Barmherzigkeit zu erlangen suchen, ohne die weder der menschliche Wille noch Bemühen etwas vermag. Ebenso schreibst du, es dürfe niemand an der Gnade Gottes verzweifeln, der von Natur aus grundgütig sei. Diese deine Worte sind ohne Christus, ohne den Heiligen Geist, ja, kälter als Eis, dass sogar die Schönheit deiner Redekunst darunter leidet. Vielleicht hat ja die Furcht vor Päpsten und Tyrannen dir armem Mann mit Mühe diese Worte abgepresst, damit du nicht ganz und gar als Atheist erscheinst. Das aber behaupten diese Worte dennoch: dass Kräfte in uns seien, dass man sich mit allen Kräften anstrengen könne, dass es eine Barmherzigkeit Gottes gebe, dass man sich auf verschiedene Weise um Gottes Barmherzigkeit bemühen könne, dass Gott von Natur aus gerecht sei, dass Gott von Natur aus grundgütig sei usw. Wenn aber nun jemand nicht weiß, was das für Kräfte sind, was sie vermögen, worin sie passiv sind, worum sie sich bemühen können, was sie bewirken können und was nicht, was soll der tun? Was willst du ihn zu tun lehren? Gottlos sei es, wie du sagst, vorwitzig und überflüssig, wenn man wissen will, ob unser Wille in Dingen, die das ewige Heil betreffen, etwas bewirkt oder gegenüber der wirkenden Gnade nur passiv ist. Hier aber sagst du das Gegenteil: Es sei christliche Frömmigkeit, dass man sich mit allen Kräften anstrenge, und ohne Gottes Barmherzigkeit könne der Wille nichts bewirken. Hier behauptest du ganz deutlich, dass der Wille in den Dingen, die das ewige Heil betreffen, etwas bewirkt – stellst du ihn doch so dar, dass er sich um Gottes Barmherzigkeit bemüht. Dann wieder sagst du umgekehrt, er sei passiv, weil er ohne Gottes Barmherzigkeit nichts bewirken könne. Freilich erklärst du nicht, wie weit dieses Wirken und diese Passivität zu verstehen seien, und gibst dir Mühe, die Leute darin unwissend zu machen, was die göttliche Barmherzigkeit vermöge und was unser Wille vermöge – gerade durch das, was du darüber lehrst, was unser Wille tue und was die Barmherzigkeit Gottes. So dreht deine Klugheit sich im Kreis, nach der du beschlossen hast, keiner Par30


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tei anzuhängen und zwischen Skylla und Charybdis sicher davonzukommen: Auf hoher See wirst du von Fluten überschüttet und verwirrt und behauptest alles fest, was du leugnest, und leugnest, was du fest behauptest. Ich will dir deine Theologie mit ein paar Gleichnissen vor Augen stellen. Jemand will ein gutes Gedicht oder eine gute Rede machen. Jedoch bedenkt und fragt er nicht, wie es um seine Begabung steht (Was kann er und was nicht, und was verlangt der Stoff, den er in Angriff nimmt?), und missachtet gänzlich jene Mahnung des Horaz: »Wägt gründlich ab, was wohl die Schultern tragen können und was zu schultern sie sich weigern!«30 Vielmehr geht er nur ungestüm ans Werk und denkt: »Die Sache muss zustande kommen; zu fragen, wie es geschehen soll, ist vorwitzig und überflüssig!« Oder jemand will von seinem Acker reiche Frucht ernten, ist aber so vorwitzig, dass er es für überflüssig hält, die Art des Bodens zu erkunden, wie Vergil in seinen Georgica sorgfältig,31 doch hier vergeblich lehrt. Stattdessen geht er auf gut Glück ans Werk, denkt an nichts anderes als die Arbeit, pflügt das Gestade und streut die Saat wohin auch immer, sei es in den Sand oder den Schlamm. Oder jemand will Krieg führen und einen herrlichen Sieg erringen oder strebt irgendein Amt im Staate an, bedenkt aber nicht sorgfältig,32 was er vermag, ob die Staatskasse genug gefüllt ist, die Soldaten bereit stehen, ob überhaupt genügend Truppen da sind, und missachtet völlig, was jener Historiker schreibt: »Ehe du handelst, beratschlage es; hast du es beraten, dann handle sogleich!«33 Stattdessen stürzt er sich hinein – die Augen blind, die Ohren taub –, schreit nichts als: »Krieg, Krieg!«, und geht ans Werk. 30 Ars poetica 39. 31 Im Lateinischen ein Wortspiel; für »vorwitzig« und »sorgfältig« steht jeweils dasselbe mehrdeutige Wort curiosus. 32 Erneut dasselbe Wortspiel wie oben. 33 Sallust, De coniuratione Catilinae (»Die Verschwörung des Catilina«) 1,6.

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Ich frage dich, Erasmus: Wie würdest du wohl über solche Dichter, Bauern, Feldherren und Fürsten urteilen? Ich will noch das Wort aus dem Evangelium hinzufügen (Lk 14,28): »Denn wer ist unter euch, der einen Turm bauen will und setzt sich nicht zuvor hin und überschlägt die Kosten, ob er genug habe, um es auszuführen?« Wie urteilt Christus wohl über einen solchen? So schreibst auch du uns nur vor, was zu tun ist, verbietest uns aber, zuvor zu prüfen und ermessen, was wir vermögen (was wir tun können und was nicht), als ob dies vorwitzig, überflüssig und gottlos wäre. Da du aus allzu großer Vorsicht den Vorwitz verabscheust und Besonnenheit vorgibst, kommst du dahin, dass auch du höchst Vorwitziges lehrst. Denn wenn auch die Sophisten verwegen sind und wahrhaftig mit Wahn geschlagen, während sie Vorwitz treiben, so sündigen sie damit doch nicht so schlimm wie du, weil du sogar lehrst und gebietest, wahnsinnig und vorwitzig zu handeln. Und damit der Wahn noch überströme, willst du uns einreden, dieser Vorwitz sei die schönste christliche Frömmigkeit, Besonnenheit, christlicher Ernst und diene zum Heil. Wenn wir nicht so handelten, behauptest du, handelten wir gottlos, vorwitzig und nichtig. So behauptest du fest, der du doch ein so großer Feind fester Behauptungen bist! Und so bist du gar fein der Skylla entronnen und hast zugleich die Charybdis gemieden. Aber dazu treibt dich das Vertrauen auf deine Gaben, der du glaubst, du könntest durch deine Beredsamkeit alle anderen Verständigen täuschen, damit keiner bemerken könne, was du im Schilde führst und was du mit deinen schlüpfrigen Schriften vorhast. »Gott aber lässt sich nicht spotten« (Gal 6,7), und gegen ihn anzugehen ist nicht gut. Ferner: Hättest du uns solchen Vorwitz gelehrt, wenn es um die Dichtkunst, den Anbau von Früchten, den Krieg, die Amtsführung oder den Hausbau ginge, so hätte man dir gegenüber (obwohl auch das unerträglich wäre, zumal bei einem so großen Mann) einige Nachsicht walten lassen können – zumindest vo Seiten der Christen, die das Vergängliche geringschätzen. Aber da du selber den Christen vorschreibst, vorwitzige Werke zu tun, 32


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und ihnen verbietest, sorgfältig zu bedenken, wie sie ihr ewiges Heil bewirken, so ist das durchaus eine wahrlich unverzeihliche Sünde. Sie wissen nämlich nicht, was sie tun sollen, weil sie nicht wissen, was und wie viel sie tun können; da sie aber nicht wissen, was sie tun sollen, können sie (wenn sie irregehen) nicht Buße tun; Unbußfertigkeit aber ist eine Sünde, die nicht vergeben werden kann. Und genau dahin führt uns diese deine »gemäßigte« skeptische Theologie. Es ist daher nicht gottlos, vorwitzig oder überflüssig, sondern vor allem heilsam und notwendig für einen Christen, dass er weiß, ob der Wille in Sachen des ewigen Heils etwas bewirkt oder nicht. Vielmehr, damit du es weißt: Hier liegt der Dreh- und Angelpunkt in unserm Streit, hierum dreht sich alles! Denn darum geht es uns: zu untersuchen, was der freie Wille vermag, worin er passiv ist und wie er sich zur Gnade Gottes verhält. Wenn wir das nicht wissen, dann wissen wir überhaupt nichts vom christlichen Glauben und werden schlimmer dran sein als die Heiden. Wer dies nicht versteht, gibt damit zu, dass er kein Christ ist; wer es aber tadelt oder verachtet, soll wissen, dass er der schlimmste Feind der Christen ist. Denn wenn ich nicht weiß, was, wieweit und wieviel ich imstande bin, vor Gott zu tun, dann wird mir ebenso ungewiss und unbekannt sein, was Gott in mir zu tun vermag und auch tut, da Gott »alles in allen wirkt« (1Kor 12,6). Wenn ich aber Gottes Werke und Macht nicht kenne, dann kenne ich Gott selbst nicht; kenne ich aber Gott nicht, so kann ich Gott nicht verehren, loben, danksagen und dienen, weil ich nicht weiß, wieviel davon ich mir zuschreiben kann und für wie viel ich Gott Dank schulde. Wenn wir gottgefällig leben wollen, müssen wir daher aufs Deutlichste zwischen Gottes Leistung und der unsrigen unterscheiden, zwischen Gottes Werken und den unsrigen. So siehst du denn, dass dieses Problem der eine von zwei Hauptteilen ist, die Inbegriff des ganzen christlichen Glaubens sind; hiervon hängt unsere Selbsterkenntnis ab, unsere Gotteserkenntnis sowie Gottes Ehre – und diese steht und fällt damit. 33


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Darum ist nicht zu dulden, lieber Erasmus, wenn du sagst, dies wissen zu wollen sei gottlos, vorwitzig und nichtig. Wir verdanken dir viel, aber der Gottesfurcht verdanken wir alles. Ja, du selbst bist der Meinung, dass wir alles Gute, das wir haben, Gott zuschreiben müssen, und behauptest das fest in deiner Darstellung des christlichen Glaubens. Da du aber dies fest behauptest, behauptest du zweifellos auch ebenso fest, dass Gottes Barmherzigkeit allein alles wirkt und dass unser Wille nichts wirkt, sondern vielmehr passiv ist; sonst würde Gott nicht alles zugeschrieben. Trotzdem bestreitest du kurz danach, dass es fromm, gottgefällig und heilsam sei, dies zu behaupten oder wissen zu wollen. Doch so zu reden ist ein Geist gezwungen, der mit sich selbst nicht einig ist und in Sachen Gottesfurcht unsicher und unerfahren. 4.) Weiß Gott alles nur passiv voraus oder bestimmt er es aktiv voraus? (614-618) Der andere von zwei Hauptteilen, die Inbegriff des ganzen christlichen Glaubens sind, ist zu wissen: Weiß Gott nur zufällig im Voraus, ob etwas geschieht, oder tun wir alles, was wir ausüben, zwingend notwendig? Und das erklärst du ebenfalls für gottlos, vorwitzig und nichtig, wie es auch alle Gottlosen tun, wie auch alle Teufel und Verdammten es für hassenswert und abscheulich erklären. Du bist auch nicht dumm, wenn du diese Fragen so weit wie möglich umgehst. Indes bist du als Redner und als Theologe nicht gut genug, wenn du dir vornimmst,34 unter Umgehung dieser beiden Teile vom freien Willen zu reden und zu lehren [dicere et docere]. Ich will dir als Wetzstein dienen [vgl. Spr 27,17] und, obwohl kein Lehrer der Rhetorik, den großen Redner35 seiner Pflicht ge 34 Oder »wenn du dir anmaßt«; das lateinische praesumere ist mehrdeutig. 35 Im Lateinischen ein Wortspiel; rhetor kann sowohl einen Lehrer der Redekunst als auch einen Redner bezeichnen.

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mahnen. Gesetzt den Fall, Quintilian36 schriebe von der Redekunst wie folgt: »Nach meinem Urteil muss man alles Törichte und Überflüssige weglassen, nämlich Themenfindung, Gliederung, Redestil, das Auswendiglernen der Rede sowie den Vortrag selbst; es genügt zu wissen: Die Redekunst ist die Kunst, gut zu reden« – würdest du einen solchen Künstler nicht auslachen? Nicht anders handelst hier auch du: Du willst vom freien Willen schreiben und verwirfst zuerst den Gesamtgegenstand und stößt dann alle Teile des Kunstwerks von dir, über das du schreiben willst. Denn unmöglich kannst du wissen, was der freie Wille sei, wenn du nicht weißt, was der menschliche Wille vermag, was Gott tut und ob er es zwingend notwendig im Voraus weiß. Sagen denn nicht auch deine Lehrer der Rhetorik: Wenn jemand über eine Sache reden will, muss er zuerst sagen, ob es sie gibt; dann, was sie ist; aus welchen Teilen sie besteht; was ihr Gegenteil ist; was ihr verwandt, was ihr ähnlich ist usw.? Du aber beraubst diesen an sich schon armseligen freien Willen all dieser Dinge und erklärst keine einzige Frage, die ihn betrifft, außer der ersten: ob es ihn gibt. Und das mit so schwachen Argumenten, dass (wie wir noch sehen werden) ich noch kein Buch vom freien Willen erblickt habe, das unbrauchbarer wäre – abgesehen von der Anmut der Rede. Wenigstens treiben die Sophisten hier ihre Dialektik besser, wenn sie schon von Rhetorik nichts verstehen. Zwar bringen auch sie nicht zustande, was sie versuchen; doch wo sie sich an den freien Willen machen, erörtern sie alle ihn betreffenden Fragen. Darum werde ich mit diesem Büchlein dich und alle Sophisten solange bedrängen, bis ihr mir definiert, was die Wirkkraft und Werke des freien Willens sind. Und ich will euch (mit 36 Marcus Fabius Quintilianus (ca. 35-96 n.Chr.), ein bedeutender römischer Lehrer der Rhetorik, der in Mittelalter und Renaissance hohes Ansehen genoss. Luther spielt hier auf dessen Hauptwerk an, die Institutio oratoria (»Unterweisung in der Redekunst«).

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Christi Beistand) so bedrängen, dass ich hoffe, dich dahin zu bringen, die Veröffentlichung deiner Diatribe zu bereuen. Es ist darum auch das für einen Christen besonders notwendig und heilsam, dass er wisse: Gott weiß nichts zufällig voraus, sondern sieht alles voraus, nimmt es sich vor und tut es nach seinem unwandelbaren, ewigen und unfehlbaren Willen. Dieser Donnerschlag streckt den freien Willen nieder und zermalmt ihn ganz und gar. Darum müssen die, die behaupten wollen, der Wille sei frei, diesen Donnerschlag entweder leugnen, stillschweigend übergehen oder auf andere Weise loswerden. – Ehe ich aber diesen Punkt durch meine Darlegung und durch die Autorität der Schrift untermaure, will ich ihn zuvor mit deinen eigenen Worten behandeln. Bist du es nicht, lieber Erasmus, der kurz zuvor behauptet hat, Gott sei von Natur aus gerecht und der Grundgütige? Wenn das wahr ist, folgt daraus nicht, dass er unveränderlich gerecht und gnädig ist? Denn wie sein Wesen sich in Ewigkeit nicht ändert, so auch nicht seine Gerechtigkeit und Güte. Was man aber von der Gerechtigkeit und Güte sagt, das muss man auch von seinem Wissen, seiner Weisheit, Rechtschaffenheit, seinem Willen und allen anderen seiner Eigenschaften sagen. Wenn man daher dies auf gläubige, fromme und heilsame Weise fest von Gott behaupten kann, wie du schreibst, was ist dann in dich gefahren, dass du jetzt dir selbst widersprichst und behauptest, es sei gottlos, vorwitzig und nichtig zu sagen, Gott wisse voraus, dass etwas zwingend notwendig geschehe? Du predigst, man müsse lernen, dass Gottes Wille unveränderlich sei, verbietest aber zu wissen, dass sein Vorherwissen unveränderlich sei. Oder glaubst du, dass er etwas im Voraus weiß, das er nicht will, oder dass er etwas will, das er nicht kennt? Wenn er aber im Voraus weiß, was er will, dann ist sein Wille ewig und unveränderlich (weil sein Wesen so beschaffen ist); wenn er will, was er im Voraus weiß, dann ist sein Wissen ewig und unveränderlich (weil sein Wesen so beschaffen ist). Daraus folgt unwiderlegbar: Alles, was wir tun, und alles, was geschieht, scheint uns zwar veränderlich und zufällig zu gesche36


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hen; doch in Wahrheit geschieht es zwingend notwendig und unabänderlich, wenn man Gottes Willen betrachtet. Denn der Wille Gottes ist wirksam und kann nicht gehindert werden, weil er von Natur aus Gottes Macht selbst ist. Ferner ist er auch weise, sodass er nicht getäuscht werden kann. Da aber der Wille nicht gehindert werden kann, so auch nicht sein Zustandekommen – wo, wann, wie und in welchem Maße er selbst es vorsieht und will. Was, wenn Gottes Wille so wäre wie der menschliche Wille? Der hört ja auf, nachdem das Werk vollbracht ist und dieses bleibt – etwa, wenn man ein Haus bauen will und es errichtet ist, oder wenn der Wille beim Tod erlischt. Dann könnte man wahrhaftig sagen, dass etwas zufällig oder veränderlich geschehe. Hier aber, bei Gottes Willen, geschieht das Gegenteil: Das Werk hört auf, der Wille bleibt. Darum ist es weit gefehlt, dass sein Werk zufällig geschehen oder bestehen bleiben kann, da es doch geschieht und bleibt. »Zufällig geschehen« [contingenter fieri] aber heißt im Lateinischen nicht (damit wir die Ausdrücke nicht missbrauchen), dass das Werk selbst zufällig geschehe, sondern dass es nach einem zufälligen und veränderlichen Willen geschieht, den Gott nicht hat. Ferner kann man ein Werk nur dann ›zufällig‹ nennen, wenn es uns zufällig und gleichsam unabsichtlich widerfährt. Unser Wille nämlich oder unsere Hand ergreift es wie etwas, das uns zufällig dargeboten wird; wir aber haben vorher weder daran gedacht noch es gewollt.37 37 In der Wittenberger Ausgabe seiner Werke (1539 – 1545) fügt Luther hier noch folgende Anmerkung hinzu: Ich wünschte in Wahrheit, es gäbe für diesen Disput ein anderes, besseres Wort als das hier gebräuchliche »Notwendigkeit«. Dieses bezeichnet weder den göttlichen noch den menschlichen Willen richtig. Es hat nämlich eine für diese Lehre sehr unangenehme und unpassende Bedeutung, weil es uns gleichsam die Vorstellung von einem gewissen Zwang aufdrängt und überhaupt von dem, was dem Willen entgegensteht; und das passt doch gar nicht zur hier behandelten Sache. Denn der Wille – der göttliche wie auch der menschliche – handelt nicht aus Zwang, sondern nur

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Hier haben sich die Sophisten nun schon viele Jahre lang abgemüht; und nachdem sie schließlich bezwungen wurden, mussten sie zugeben: Alles geschieht zwingend notwendig – aus »Notwendigkeit der Folge«, wie sie es nennen, aber nicht aus »Notwendigkeit des Folgenden«38. So weichen sie dieser gewaltigen Frage aus [eluserunt], betrügen sich [illuserunt] damit aber nur selbst. Denn dass dies nichtig ist, kann ich sehr leicht aufzeigen. Was sie »Notwendigkeit der Folge« nennen, will ich grob so nennen: Wenn Gott etwas will, dann muss es zwingend notwendig geschehen; aber das heißt nicht, dass etwas, das geschehen kann, auch zwingend notwendig existieren muss. Denn Gott allein existiert zwingend notwendig; alles andere kann auch nicht sein, wenn Gott will. So sagen sie, das Tun Gottes sei notwendig, wenn er will; die Tatsache selbst aber sei nicht notwendig. Was aber bringen sie mit solchen Wortklaubereien zustande? Das: Die Tatsache sei nicht zwingend notwendig, das heißt, sie besitze kein zwingend notwendiges Wesen. Das ist nichts anderes als zu sagen: Die Tatsache ist nicht Gott selbst. Nichtsdestoweniger bleibt das: Wenn Gottes Tun notwendig oder eine »Notwendigkeit der Folge« ist, geschieht alles zwingend notwendig; schon die Tatsache an sich ist durchaus nicht zwinaus Gefallen oder Belieben [cupiditate], als ob er in seinem Tun wirklich frei wäre, sei es gut oder böse. Aber Gottes Wille ist dennoch unwandelbar und unfehlbar, und er herrscht über unseren veränderlichen Willen, wie Boëthius singt: »Unveränderlich bleibst du, gibst allem Bewegung.« Und unser Wille, zumal böse, kann von sich aus nichts Gutes tun. Was daher das Wort selbst nicht ausdrückt, muss der Leser sinngemäß ergänzen und unter »Notwendigkeit« das verstehen, was man damit bezeichnen wollte: den unwandelbaren Willen Gottes und die Unfähigkeit unseres bösen Willens. Manche nennen dies »Notwendigkeit der Unveränderlichkeit«; aber das genügt weder der Sprachlehre noch der Theologie. 38 Lat. necessitate consequentiae, sed non necessitate consequentis. Kann auch so übersetzt werden: »aus bedingter Notwendigkeit, aber nicht aus unbedingter Notwendigkeit«, so teilweise im weiteren Verlauf des Buches aus sprachlichen Gründen wiedergegeben.

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gend notwendig, das heißt, sie ist nicht Gott oder besitzt kein zwingend notwendiges Wesen. Wenn nämlich ich zwingend notwendig entstehe, so kümmert es mich wenig, dass mein Sein oder Werden veränderlich ist; nichtsdestoweniger entstehe ich, der ich Zufall und Veränderung unterworfen und nicht der zwingend notwendig existierende Gott bin. Deshalb bedeutet die Wortklauberei jener, alles geschehe aus »Notwendigkeit der Folge«, aber nicht aus »Notwendigkeit des Folgenden«, nichts anderes als dies: Alles geschieht zwar zwingend notwendig, aber das so Gewordene ist nicht Gott selbst. War das nun wirklich nötig uns zu sagen? Als ob zu befürchten wäre, wir würden behaupten, das Gewordene wäre Gott oder hätte eine göttliche und zwingend notwendige Natur? So weit steht der Satz fest und bleibt unwiderlegt, dass alles zwingend notwendig geschieht. Hieran nämlich ist nichts dunkel oder zweifelhaft. In Jesaja 46,10 heißt es: »Mein Ratschluss wird bestehen und mein Wille wird geschehen.« Denn welches Kind verstünde nicht, was diese Wörter bedeuten: Ratschluss, Wille, geschehen, bestehen? Warum aber sollten diese Dinge uns Christen so verborgen sein, dass es gottlos, vorwitzig und überflüssig wäre, sie untersuchen und wissen zu wollen? Führen doch selbst die heidnischen Dichter sie stets im Munde, ja sogar das gemeine Volk im gewöhnlichsten Sprachgebrauch! Wie oft erwähnt allein Vergil das ›Schicksal‹? »Alles hat durch ein Gesetz Bestand«;39 ebenso: »Einem jeden ist sein Todestag bestimmt«;40 ebenso: »Wenn dich das Schicksal ruft«;41 ebenso: »O könntest du dem grausig Schicksal nur entrinnen!«42 Nichts anderes bezweckt dieser Dichter, als an Trojas Untergang und dem Aufstieg des Römischen Reiches zu zeigen, dass das Schicksal mehr vermag als alles 39 Statt bei Vergil findet sich dieses Zitat bei Manilius (Astronomica 4,14). 40 Vergil, Aeneis 10,467. 41 Aeneis 7,314. 42 Aeneis 6,882.

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Vom unfreien Willen · Kapitel 2

menschliche Bemühen und daher Dingen wie auch Menschen eine Notwendigkeit aufzwingt. Zuletzt unterwirft er auch seine unsterblichen Götter dem Schicksal, vor dem selbst Jupiter und Juno vergehen müssen.43 Daher hat man die drei Parzen erdichtet, die unveränderlichen, unversöhnlichen und unerbittlichen Schicksalsgöttinnen. Jene Weisen erkannten, was die Sache selbst samt der Erfahrung lehrt: Nie ist einem Menschen sein Vorhaben geglückt, sondern stets anders ausgegangen, als man dachte. Hektor sagt bei Vergil: »Hätte man Pergamon mit bloßer Faust verteidigen können, so wäre es durch meine Hand geschehen.«44 Daher ist auch das geflügelte Wort in aller Munde: »Was Gott will, das geschehe«; ebenso: »So Gott will, wollen wir tun« (vgl. Jak 4,15). Ebenso sagt Vergil: »Gott hat es so gewollt«; »So haben die Götter beschlossen«; und: »So habt ihr Götter es gewollt.« Daran sollen wir erkennen, dass im einfachen Volk ein Wissen um die Vorherbestimmung und das Vorherwissen Gottes nicht weniger übrig geblieben ist als das Wissen um die Existenz der Gottheit selbst. Die aber, die weise erscheinen wollten, sind durch ihre Überlegungen dahin abgeirrt, dass ihr Herz verfinstert und sie selbst zu Narren wurden (Röm 1,21f); sie leugneten oder verheimlichten das, was die Dichter und das Volk sowie ihr eigenes Gewissen für das Selbstverständlichste, Sicherste und Wahrhaftigste hielten. 5.) Wie wichtig ist es zu wissen, dass Gott alle Dinge vorherbestimmt? (618-620) Darüber hinaus sage ich nicht nur, wie wahr dies ist (darüber werden wir später noch ausführlicher anhand der Heiligen Schrift 43 Jupiter und dessen Frau Juno waren die höchsten Götter der heidnischen Römer. 44 Aeneis 2,291f.

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reden), sondern auch, wie gottesfürchtig, fromm und notwendig es ist, dies zu wissen. Denn wenn man dies nicht weiß, kann weder der Glaube noch irgendeine Verehrung Gottes bestehen bleiben. Das hieße nämlich in der Tat, Gott nicht zu kennen; wenn man aber ihn nicht kennt, gibt es bekanntlich auch kein Heil. Denn wenn du bezweifelst oder verachtest, dass Gott alles nicht zufällig, sondern notwendig und unwandelbar im Voraus weiß und will, wie könntest du seinen Verheißungen glauben, fest darauf vertrauen und dich darauf verlassen? Denn wenn er etwas verheißt, dann musst du sicher sein, dass er es auch zu erfüllen weiß, vermag und will; sonst kannst du ihn nicht für wahrhaftig und treu halten. Das aber ist Unglaube und die größte Gottlosigkeit und Verleugnung des höchsten Gottes. Wie aber kannst du gewiss und sicher sein, wenn du nicht weißt, dass er gewiss, unfehlbar, unabänderlich und zwingend notwendig weiß, will und tun wird, was er verheißt? Denn wir müssen nicht nur gewiss sein, dass Gott alles zwingend notwendig und unabänderlich will und wirkt, sondern uns gerade dessen auch rühmen, wie Paulus sagt: »Gott ist wahrhaftig und alle Menschen sind Lügner« (Röm 3,4); und wiederum: »Nicht, dass Gottes Wort hinfällig geworden sei« (Röm 9,6); und anderswo: »Der feste Grund Gottes besteht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt die Seinen« (2Tim 2,19); ferner: »was Gott, der nicht lügen kann, vor ewigen Zeiten verheißen hat« (Tit 1,2); und schließlich: »Wer zu Gott kommen will, der muss glauben, dass er ist und dass er denen, die ihn suchen, ihren Lohn gibt« (Hebr 11,6). Darum wäre der christliche Glaube völlig ausgelöscht, Gottes Verheißungen und das ganze Evangelium völlig hinfällig, wenn wir glaubten, was man uns lehrt: dass wir nichts über das zwingend notwendige Vorherwissen Gottes wissen brauchten und über die Notwendigkeit dessen, was geschieht. Denn dies ist der einzige und höchste Trost der Christen in allen Widerwärtigkeiten: zu wissen, dass Gott nicht lügt, sondern unwandelbar alles tut, und dass niemand seinem Willen widerstehen, niemand ihn ändern oder hindern kann. 41


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Siehst du nun, lieber Erasmus, wohin uns deine überaus »gemäßigte«, den Frieden über alles liebende Theologie führt? Du hältst uns davon ab und verbietest uns, das Vorherwissen Gottes und die Notwendigkeit bei Dingen und Menschen zu erforschen; vielmehr rätst du uns, solches zu lassen, zu meiden und zu verachten. Durch solch unbedachtes Bemühen lehrst du uns zugleich, die Unkenntnis Gottes zu suchen, die schon von selbst kommt und uns dazu noch angeboren ist, den Glauben zu verachten, die Verheißungen Gottes fahren zu lassen, alle Tröstungen des Geistes und die Gewissheit des Gewissens für nichts zu achten. So etwas würde selbst Epikur kaum lehren. Ferner: Damit noch nicht zufrieden, nennst du es gottlos, vorwitzig und nichtig, wenn einer sich bemüht, diese Dinge zu erkennen; den jedoch, der sie verachtet, nennst du christlich, fromm und nüchtern. Was aber bringst du mit diesen Worten anderes zustande, als dass Christen vorwitzig, nichtig und gottlos wären oder das Christentum völlig belanglos, nichtig, töricht und gottlos? So geschieht es wiederum, dass du uns zwar nach allen Kräften von der Vermessenheit abschrecken willst, es dich aber nach Art der Toren ins Gegenteil verschlägt: Du lehrst nichts anderes als höchste Vermessenheit, Gottlosigkeit und Verderbnis. Merkst du nicht, dass dein Büchlein an dieser Stelle derart gottlos, verrucht und lästerlich ist, dass es nirgends seinesgleichen hat? Wie schon gesagt, ich rede nicht von deinem Herzen; denn ich halte dich nicht für so verdorben, dass du dies von Herzen lehren oder wünschen würdest, dass man so handle. Vielmehr will ich dir zeigen, was für abscheuliche Dinge der zu schwatzen gezwungen ist, der sich vornimmt, eine schlechte Sache zu vertreten. Ferner will ich dir zeigen, was es heißt, auf Gottes Werke und Worte einzuprügeln, während wir anderen zuliebe eine Rolle annehmen und gegen das Gewissen einem fremden Schauspiel dienen.45 Es ist weder ein Spiel noch ein Scherz, die Heilige 45 Eine Anspielung darauf, dass Erasmus von weltlichen und kirchlichen Fürsten zur Abfassung der Diatribe gezwungen wurde.

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Schrift und den Glauben zu lehren; denn sehr leicht ereilt einen hier das, wovon Jakobus (2,10) spricht: »Wer das ganze Gesetz hält, sich aber in einem verfehlt, der ist in allem schuldig geworden.« Denn so geschieht es, wenn wir nur ein wenig scherzen wollen und die Heilige Schrift nicht gebührend in Ehren halten: Sogleich werden wir in Gottlosigkeit verstrickt und fallen in Gotteslästerungen, wie es auch dir hier geschehen ist, Erasmus. Der Herr verzeihe dir und erbarme sich deiner. Dass aber die Sophisten in dieser Sache eine solche Unzahl von Fragen aufgeworfen und untersucht haben und viele andere unnütze Dinge mehr, von denen du viele anführst, das wissen wir und gestehen dir gerne zu. Wir haben es auch heftiger und mehr angegriffen als du. Du aber handelst unweise und unbesonnen, indem du die reinen, heiligen Dinge mit den profanen und törichten Fragen der Gottlosen vermischst, vermengst und sie ihnen gleichstellst. Jene haben »das Gold verdunkelt und dessen schöne Farbe entstellt«, wie Jeremia sagt (Klgl 4,1 nach der Vulgata); Gold aber kann man nicht mit Mist vergleichen und wie diesen wegwerfen, wie du es tust. Gold ist von jenem Dreck zu befreien und die reine Schrift vom Unflat und Schmutz jener Sophisten zu scheiden. Darum habe ich stets allen Fleiß aufgewendet, dass man die Heilige Schrift von den Possen jener getrennt behandle. Auch darf uns nicht verwundern, dass durch solche Fragen nichts gewonnen ist – außer, dass wir der Eintracht der Christen großen Schaden zufügen, indem wir weniger Liebe üben, während wir so viel klüger sein wollen. Uns stellt sich nicht die Frage, was die Sophisten aus der Schrift folgern oder foltern,46 sondern wie wir gute Christen werden; was die Gottlosen Böses tun, darfst du nicht der christlichen Lehre anlasten. 46 In Nachempfindung des Wortspiels, das hier im Lateinischen vorliegt: »Nobis non est quaestio, quod Sophistae quaestionarii profecerint«, wörtlich: »Uns stellt sich nicht die Frage, was die Sophisten durch ihre Fragerei erreicht haben«, oder: »was die Folterknechte von Sophisten erreicht haben«. Ein quaestionarius verhörte Verdächtige und war zugleich Scharfrichter. Beides war oft auch mit Folter verbunden.

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Denn das hat nichts mit unserem Thema zu tun, und du hättest das bei anderer Gelegenheit sagen und dir das Papier hier sparen können. 6.) Ist es nützlich, bestimmte Wahrheiten zu unterdrücken? (620-630) Im dritten Hauptpunkt des Vorwortes der Diatribe fährst du fort, uns zu jenen maßvollen und gelassenen Epikureern zu machen – durch eine andere Art von Rat, der aber auch nicht klüger ist als die vorherigen beiden, nämlich: »Es gibt einige Dinge, die von solcher Art sind, dass es nicht ratsam wäre, sie den Ohren des gemeinen Volkes preiszugeben – selbst wenn sie wahr wären und man sie wissen könnte.« Und hier vermengst und vermischst du wiederum alles nach deiner Gewohnheit, dass du ohne jede Unterscheidung das Heilige dem Profanen gleichsetzt und wiederum der Verachtung und Verunehrung der Schrift und Gottes anheimfällst. Ich habe oben gesagt, dass das, was in der Heiligen Schrift entweder gelehrt oder bewiesen wird, nicht nur klar, sondern auch heilsam ist; deshalb kann, ja muss man mit Sicherheit verkündigen, lernen und wissen, dass das falsch ist, was du sagst, man solle es nicht »den Ohren des gemeinen Volkes preisgeben« – wenn du von dem redest, was in der Heiligen Schrift steht. Denn wenn du von anderen Dingen geredet haben willst, so geht uns das nichts an und du hast nicht zur Sache geredet, sondern mit deinen Worten Papier und Zeit vergeudet. Ferner weißt du, dass ich mit den Sophisten in nichts übereinstimme. So hättest du mich mit Recht damit verschonen sollen, mir ihren Missbrauch vorzuwerfen; denn in deiner Schrift hättest du gegen mich reden sollen. Ich weiß, worin die Sophisten irren und brauche dich nicht als Lehrer; sie sind von mir schon genug getadelt worden. Das will ich ein für allemal gesagt haben, so oft du mich mit den Sophisten zusammenwirfst und meiner 44


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Sache ihre Torheit zur Last legst. Denn daran tust du Unrecht, was du sehr wohl weißt. Nun wollen wir die Begründung deines Rates ansehen: Gott sei seiner Natur gemäß in einer Mistkäferhöhle oder sogar in einer Kloake (was du dich zu sagen scheust und die Sophisten beschuldigst, so zu schwatzen) nicht weniger gegenwärtig als im Himmel. Selbst wenn das wahr wäre, meinst du doch, es sei unvernünftig, darüber öffentlich zu disputieren. Zuerst: Lass die schwatzen, die so schwatzen; wir disputieren hier nicht darüber, was Menschen tun, sondern über Recht und Gesetz – nicht wie wir leben, sondern wie wir leben sollen. Denn wer von uns lebt und handelt in allem richtig? Aber darum werden Recht und Lehre nicht verdammt, sondern sie verdammen vielmehr uns. Du aber schweifst weit umher und kratzt von überall her vieles zusammen, weil dich dieser eine Artikel vom Vorherwissen Gottes schwer verdrießt. Da du den mit keinem Vernunftgrund widerlegen kannst, versuchst du derweil, den Leser mit viel leerem Geschwätz zu ermüden. – Doch sei’s drum, zurück zur Sache. Worauf zielst du also damit ab, dass du meinst, einiges solle nicht öffentlich gelehrt werden? Gilt das auch für die Frage des freien Willens? Dann wird alles gegen dich gelten, von dem ich oben sagte, dass man es vom freien Willen wissen muss. Ferner: Warum folgst du nicht deinem eigenen Rat und verzichtest auf deine Diatribe? Wenn du gut daran tust, den freien Willen zu behandeln, warum tadelst du es, wenn andere es tun? Wenn es böse ist, warum tust du es selbst? Wenn du ihn aber nicht zu diesen Dingen zählst, so gehst du der Sachfrage erneut aus dem Weg, schweifst wie ein Redner wortreich vom Thema ab und behandelst Dinge, die nicht zur Sache gehören. Doch auch dieses Beispiel behandelst du nicht recht und verdammst es als unnütz, darüber öffentlich zu disputieren – ob Gott in einer Höhle oder in einer Kloake sei; denn du denkst zu menschlich von Gott. Ich gestehe zwar, dass es einige leichtfertige Prediger gibt, die ohne Gottesfurcht und Frömmigkeit 45


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höchst leichtfertig schwatzen oder scherzen – sei es aus Ruhmsucht oder dem Bestreben, etwas Neues hervorzubringen, oder weil sie schlicht den Mund nicht halten können. Solche Leute aber gefallen weder Gott noch Menschen, selbst wenn sie fest behaupten würden, dass Gott im höchsten Himmel sei. – Wo aber ernste und fromme Prediger mit bescheidenen, reinen und vernünftigen Worten lehren, da ist es ohne Gefahr, sondern von großem Nutzen, wenn sie solches öffentlich lehren. Müssen wir nicht alle lehren, dass der Sohn Gottes im Schoß der Jungfrau gewesen ist und aus ihrem Unterleib geboren wurde? Inwieweit aber unterscheidet sich der menschliche Unterleib von irgendeinem anderen unreinen Ort? Und wer könnte nicht schändlich oder schmutzig davon reden? Solche Leute aber verdammen wir mit Recht, denn es gibt mehr als genug reine Worte, um von diesem notwendigen Vorgang auch mit Würde und Anstand zu reden. Auch Christi Leib war ein menschlicher Leib wie der unsrige; was aber ist unreiner als dieser? Sollten wir deshalb etwa leugnen, dass Gott leibhaftig in ihm gewohnt habe, was Paulus doch sagt (Kol 2,9)? Was ist unreiner als der Tod? Was schrecklicher als die Hölle?47 Aber der Prophet rühmt sich, dass Gott sogar im Tod bei ihm sei und ihm in der Hölle beistehe (Ps 139,8). Darum scheut sich ein frommes Herz nicht zu hören, dass Gott im Tode oder in der Hölle sei, was beides schrecklicher und unreiner ist als eine Höhle oder eine Kloake. Vielmehr: Wenn die Heilige Schrift bezeugt, dass Gott überall ist und alles erfüllt (Jer 23,24; Eph 1,23), dann sie sagt nicht nur, dass er an jenen Orten sei; sondern notwendigerweise erfährt und erkennt man dadurch auch, dass er dort ist. Was etwa, wenn ein Tyrann mich gefangen nähme und ins Gefängnis oder eine Kloake würfe, was vie 47 Während man heute mit »Hölle« umgangssprachlich fast nur den Ort der ewigen Verdammnis bezeichnet, verwendet Luther das Wort hier noch im älteren, weiteren Sinn, der auch »Unterwelt« oder »Totenreich« einschließt. Letzteres ist in den zitierten Bibelstellen gemeint.

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len Heiligen widerfahren ist? Wäre mir dann nicht erlaubt, dort Gott anzurufen oder zu glauben, das s er bei mir sei? Müsste ich dazu erst in einen geschmückten Tempel gehen? Wenn du uns lehren willst, solche Possen mit Gott zu treiben, und an den Orten Anstoß nimmst, wo er gegenwärtig ist, wirst du uns am Ende auch nicht mehr gestatten, dass er im Himmel wohnt; denn auch der höchste Himmel kann ihn nicht fassen und ist seiner nicht würdig (1Kö 8,27). Aber wie ich schon sagte: Du stichelst nach deiner Gewohnheit so gehässig, um unsere Sache schlecht und völlig verhasst zu machen; du hast nämlich erkannt, dass du sie weder überwinden noch widerlegen kannst. Zu dem anderen Beispiel, dass es drei Götter gebe. Ich gebe zu, dass es anstößig ist, wenn das gelehrt wird. Es ist auch nicht wahr und die Heilige Schrift lehrt das nicht; doch die Sophisten reden so und haben eine neue Dialektik erdichtet. Aber was geht uns das an? Ferner: Es ist schon erstaunlich, wie überaus klug du deine Meinung in Sachen Beichte und Buße darlegst und welchen Eier­ tanz du dabei ganz nach deiner Gewohnheit aufführst. Schließlich willst du nicht, dass es so aussieht, als würdest du unsere Lehre einfach verdammen, noch des Papstes Tyrannei angreifen, was für dich höchst gefährlich wäre. Darum schiebst du Gott und Gewissen vorerst beiseite (denn was schert es den Erasmus, was Gottes Wille darüber sei und was dem Gewissen nützt?), ziehst dir schnell eine fremde Maske über und klagst das gemeine Volk an, dass es die Predigt von der freiwilligen Beichte und Buße in seiner Bosheit zur Freiheit des Fleisches missbrauche. Das aber würde, wie du sagst, durch den Beichtzwang immerhin verhindert. O welch trefflicher und herrlicher Grund! Heißt etwa das, Theologie zu lehren, wenn man die Seelen mit Gesetzen bindet und (wie Hesekiel 13,19 sagt) »tötet«, an die sie doch von Gott nicht gebunden sind? Mit dieser Begründung freilich richtest du die ganze Tyrannei der päpstlichen Gesetze für uns wieder auf, dass sie nützlich und heilsam wären, weil auch sie die Bosheit des Pöbels im Zaum halten. 47


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Aber ich will darauf nicht so ausführlich eingehen, wie es die Sache verdient, sondern mich kurzfassen. Ein guter Theologe lehrt so: Das Volk muss durch die äußerliche Gewalt des Schwertes im Zaum gehalten werden, wenn es böse handelt, wie Paulus lehrt (Röm 13,4); sein Gewissen aber darf nicht in falsche Gesetze verstrickt werden, sodass man es mit Sünden quält, die doch vor Gott gar keine Sünden sind. Das Gewissen ist nämlich allein an Gottes Gebot gebunden. Dadurch wird die Tyrannei der Päpste ganz und gar aus dem Weg geräumt, die sich zwischen Gott und Menschen drängt, innerlich die Seele zu Unrecht erschreckt und tötet und äußerlich den Leib vergeblich schindet. Denn wenn sie auch äußerlich zur Beichte und anderen Lasten zwingt, so wird doch dadurch das Herz nicht in Schranken gehalten, sondern nur noch stärker zum Hass gegen Gott und Menschen gereizt. Vergeblich peinigt die Tyrannei der Päpste den Leib in äußerlichen Dingen und bringt nur Heuchler hervor, sodass die Tyrannen, die derartige Gesetze machen, nichts anderes sind als reißende Wölfe (Mt 7,15), Diebe und Seelenmörder (Joh 10,8). Und solche empfiehlst du uns wiederum, du »guter Seelsorger«! Das heißt, du bist Gewährsmann der grausamsten Seelenmörder,48 dass sie die Welt mit Heuchlern füllen, die Gott lästern und im Herz verachten, wenn sie auch äußerlich halbwegs im Zaum gehalten werden – als ob es kein anderes Mittel dazu gäbe, das keine Heuchler macht und die Gewissen nicht verdirbt, wie ich schon sagte. Hier führst du nun Gleichnisse an und willst als jemand scheinen, der sie in reichem Maße hat und höchst zutreffend gebraucht, nämlich: »Es gibt Krankheiten, die man mit geringerem Schaden erträgt als kuriert«, wie den Aussatz usw.49 Desglei 48 So nach der Weimarer Ausgabe: »auctor es crudelissimorum animicidarum« = »Gewährsmann bist du der grausamsten Seelenmörder«. Nach anderer Textfassung: »auctores crudelissimorum animicidarum« = »sie sind die Meister [oder Urheber, Vollbringer] grausamster Seelenmorde«. 49 Erasmus nennt hierzu als Beispiel den Aberglauben, dass man »im noch warmen Blut geschlachteter Kinder badet, um Aussatz zu heilen« (Diatribe I a 9).

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chen fügst du das Beispiel des Paulus hinzu, der zwischen dem zu unterscheiden wisse, was erlaubt sei, und dem, was nützlich sei (1Kor 6,12; 10,23). So sei es erlaubt, sagst du, die Wahrheit zu sagen, aber sie sei weder allen, noch jederzeit oder auf jede Weise nützlich. Welch wortreicher Redner bist du doch – aber du verstehst nichts von dem, was du sagst! Kurz gesagt: Du behandelst diese Sache so, als ob bei diesem Streit zwischen dir und mir um eine Geldsumme ginge, die man leicht ersetzen könnte, oder um irgendeine andere ganz geringfügige Sache. Deren Verlust (da er doch weit weniger wert sei als der äußere Friede) dürfe niemand dazu bewegen, nicht nachzugeben, zu handeln oder zu erdulden, je nachdem, was gerade erforderlich sei, damit die Welt nicht in Aufruhr versetzt werde. Du gibst also offen zu, dass dir dieser Friede und die Ruhe des Fleisches weit vorzüglicher scheinen als der Glaube, das Gewissen, das Heil, das Wort Gottes, die Ehre Christi, ja sogar als Gott selbst. Darum sage ich dir und bitte dich, dir dessen bewusst zu werden: Mir geht es hierbei um eine ernste, notwendige und ewige Sache – und sie ist derart erheblich, dass man sie auch bis in den Tod geltend machen und verteidigen muss, und wenn die ganze Welt darüber nicht nur in Streit und Aufruhr versetzt, sondern sogar in ein einziges Chaos stürzen und untergehen würde. Wenn du das nicht begreifst und dich das nicht bewegt, dann kümmere dich um deine Sachen und lass es die begreifen und davon bewegt werden, denen Gott es gegeben hat. Denn ich bin durch Gottes Gnade nicht so töricht und von Sinnen, als dass ich um des Geldes willen (das ich weder habe noch wünsche), um des Ruhmes willen (den ich in einer Welt, die mich derart anfeindet, nie erlangen könnte, selbst wenn ich es wollte) oder um des irdischen Lebens willen (dessen ich mir keinen Augenblick sicher sein kann) mit so großem Mut oder so großer Beständigkeit (die du Starrsinn nennst) durch so viel Lebensgefahr, Hass, Nachstellung – kurz: durch alle Wut von Menschen und Teufeln hindurch diese Sache so lange führen und aufrecht erhalten wollte. Oder meinst du, dieser Unfriede würde 49


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allein dein Herz schmerzlich berühren? Auch wir sind nicht aus Stein oder aus dem Marpesischen Felsen geboren.50 Aber wenn es nicht anders sein kann, dann wollen wir lieber – froh in der Gnade Gottes – um des Wortes Gottes willen, an dem man mit unüberwindlichem und unvergänglichem Mut festhalten muss [asserendum], durch zeitlichen Unfrieden geplagt werden, als in ewigem Unfrieden unter dem Zorn Gottes mit unerträglicher Qual gepeinigt werden. Christus gebe, dass es um dein Herz nicht so stehe (was ich wünsche und hoffe); deine Worte aber klingen ganz so, als ob du mit Epikur das Wort Gottes und das künftige Leben für Fabeln hältst, da du uns durch deine Belehrung veranlassen willst, um der Päpste und Fürsten oder um jenes zeitlichen Friedens willen das mehr als gewisse Wort Gottes aufgeben und in dieser Sache nachgeben sollen. Wenn wir aber das aufgeben, dann geben wir auch Gott auf, den Glauben, das Heil und alles, was Christentum heißt. Wie viel richtiger ist es da, dass Christus uns ermahnt, besser die ganze Welt zu verachten! Du aber sagst solche Dinge, weil du nicht liest oder vielmehr nicht beachtest: Dies ist das beständige Los des Wortes Gottes, dass darüber die Welt in Aufruhr gerät. Und das bekräftigt [asserit] Christus unverhohlen: »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert« (Mt 10,34), und: »Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden« (Lk 12,49). Ebenso schreibt Paulus (2Kor 6,5): »in Unruhen« usw. Auch der Prophet im zweiten Psalm bezeugt ausführlich und macht geltend, dass die Heiden toben, die Völker lärmen, die Könige sich auflehnen und die Fürsten Verschwörungen gegen den Herrn und seinen Gesalbten anzetteln (Ps 2,1-2) – als ob er 50 Eine Anspielung an Vergil, Aeneis 6,471. Dort sucht Aeneas in der Unterwelt seine ehemalige Geliebte Dido auf, die sich umbrachte, nachdem er sie verlassen hatte. Dido würdigt ihn keines Blickes und »steht da, als ob sie harter Kieselstein wäre oder Marpesischer Fels«. – Aus dem Berg Marpesus auf der Kykladeninsel Paros gewann man den sog. Parischen Marmor, einen feinkörnigen, weißen Stein, der begehrter Rohstoff für Statuen war.

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sagen will: Die Volksmasse, der Adel, die Mächtigen, die Weisen, die Justiz und was auch immer in der Welt etwas gilt, lehnen sich gegen Gottes Wort auf. Sieh in der Apostelgeschichte nach: Was geschah in der Welt allein schon aufgrund der Predigt des Paulus (von den anderen Aposteln ganz zu schweigen)! Sieh, wie nur dieser eine Mensch Heiden wie auch Juden erregte, oder wie ebenda seine Feinde selbst sagten: »der Aufruhr erregt auf dem ganzen Erdkreis« (Apg 24,5). Unter Elia wurde das Königreich Israel in Aufruhr versetzt, wie sich König Ahab beklagt (1Kö 18,17). Wie groß war der Aufruhr unter den anderen Propheten, als sie alle getötet oder gesteinigt wurden, als Israel nach Assyrien gefangen geführt wurde und gleicherweise, als Juda nach Babel in Gefangenschaft geführt wurde? Die Welt und ihr Gott können und wollen das Wort des wahren Gottes nicht ertragen, der wahre Gott will und kann nicht schweigen: Was sollte dann, da schon diese beiden Götter gegeneinander Krieg führen, in der ganzen Welt anderes sein als Aufruhr? Diesen Aufruhr stillen zu wollen ist daher nichts anderes, als das Wort Gottes wegnehmen und verbieten zu wollen. Denn so oft Gottes Wort ergeht, ergeht es, um die Welt zu verändern und zu erneuern. Aber auch heidnische Schriftsteller bezeugen, dass die Welt nicht ohne Erregung und Aufruhr, ja, nicht ohne Blutvergießen verändert werden kann. Den Christen nun gebührt, dies mit wachem Geist zu erwarten und zu ertragen, wie Christus spricht (Mt 24,6): »Ihr werdet aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören. Seht zu, erschreckt nicht! Denn es muss geschehen, aber es ist noch nicht das Ende.« Auch ich würde sagen, dass das Wort Gottes nicht in der Welt sei, wenn ich nicht diesen Aufruhr sähe. Da ich ihn aber jetzt sehe, freue ich mich von Herzen und achte ihn gering; denn ich bin mehr als gewiss, dass das Reich des Papstes mit seinen Anhängern stürzen wird – hat dieses doch besonders heftig das Wort Gottes angegriffen, das jetzt die Welt durchläuft. 51


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Ich sehe sehr wohl, lieber Erasmus, dass du dich in vielen Büchern über diesen Aufruhr beklagst, dass nun Friede und Eintracht verloren seien. Ferner versuchst du vielerlei, um dies zu heilen – mit guter Absicht, wie ich meine; aber diese Krankheit spottet deiner heilenden Hände. Hier nämlich ist wahr, was du sagst: Du schwimmst gegen die Strömung an, ja, willst ein Feuer mit Stroh löschen. Hör auf zu klagen, hör auf zu heilen; dieser Aufruhr ist von Gott ausgegangen [vgl. 1Kö 12,24], wird von ihm geführt und wird nicht aufhören, bis dass er alle Feinde des Wortes dem »Kot auf der Gasse« gleichgemacht hat (2Sam 22,43; Ps 18,43). Gleichwohl ist es bedauerlich, dass man dich, einen so großen Theologen, wie einen Schüler daran erinnern muss, der du doch ein Lehrer anderer sein solltest. Das betrifft auch deinen recht hübschen Ausspruch: »Es gibt Krankheiten, die man mit geringerem Schaden erträgt als kuriert.« Doch du wendest ihn nicht richtig an, denn du solltest sagen: Diese Krankheiten, die man mit geringerem Schaden erträgt, sind gerade jener Aufruhr, jene Erregung, Wirren, Aufstände, Sekten, Zwietracht, Kriege und dergleichen mehr, durch die um des Wortes Gottes willen die ganze Welt erschüttert und entzweit wird. Das, so sage ich, ist das geringere Übel; man kann es, weil es zeitlich ist, besser ertragen als jene alten und bösen Sitten, durch die alle Menschen zwingend verderben müssen, wenn sie nicht durch Gottes Wort verwandelt werden. Wenn das weggenommen würde, würden auch das ewige Leben, Gott, Christus und der Heilige Geist weggenommen. Wie viel besser ist es aber, die Welt zu verlieren statt Gott, den Schöpfer der Welt, der unzählige Welten von neuem schaffen kann und besser ist als unendliche Welten? Wie nämlich könnte man Zeitliches und Ewiges miteinander vergleichen? Dieser Aussatz zeitlicher Übel ist daher besser zu ertragen, als dass die Welt von diesem Aufruhr geheilt und befriedet würde, indem das Blut jener vergossen und sie getötet, indem alle Menschen abgeschlachtet und ewig verdammt werden – kann doch um den Preis der ganzen Welt nicht eine einzige Seele erkauft werden (Ps 49,8-10; Mt 16,26). 52


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Du hast schöne und beeindruckende Gleichnisse und Sprüche, aber wenn du die heiligen Dinge behandelst, so wendest du sie kindisch, ja, verkehrt an; denn du kriechst auf dem Boden und denkst in nichts über das menschliche Fassungsvermögen hinaus. Denn was Gott wirkt, ist weder kindisch noch bürgerlich oder menschlich, sondern göttlich und übersteigt das menschliche Fassungsvermögen (vgl. Phil 4,7). Zum Beispiel erkennst du nicht, dass diese Aufstände und Sekten durch Gottes Ratschluss und Wirken über die Welt ausgehen, und fürchtest, der Himmel könnte einstürzen. Ich aber erkenne das dank Gottes Gnade sehr wohl, weil ich andere, größere Übel in der künftigen Welt sehe; verglichen mit denen erscheinen diese wie ein sanftes Säuseln eines Lüftchens oder wie ein leises Gemurmel des Wassers. Die Lehre aber, dass Beichte und Buße freiwillig sind, streitest du entweder ab oder weißt nicht, dass sie Gottes Wort gemäß ist. Das ist eine andere Frage; wir aber wissen und sind dessen gewiss, dass es Gottes Wort ist, durch welches die christliche Freiheit fest gegründet wird [asseritur], damit wir uns nicht durch menschliche Überlieferungen und Gesetze in Knechtschaft verstricken. Das haben wir anderswo ausführlich gelehrt; und wenn du es anfechten willst, so sind wir bereit, es auch dir zu sagen oder uns auf einen Streit einzulassen. Unsere Bücher hierüber sind nicht wenige. »Aber«, magst du sagen, »zugleich sind auch die Gesetze der Päpste in Liebe zu erdulden und zu halten, wenn so vielleicht ohne Aufruhr sowohl das ewige Heil durch das Wort Gottes als auch der Friede der Welt bestehen bleiben können.« Wie schon gesagt: Das ist unmöglich. Der Fürst dieser Welt gestattet es dem Papst und seinen Bischöfen nicht, dass man ihre Gesetze aus freien Stücken hält, sondern hat damit im Sinn, das Gewissen einzufangen und zu binden; das kann der wahre Gott nicht leiden. So stehen denn das Wort Gottes und die Überlieferungen der Menschen in unversöhnlicher Feindschaft miteinander im Krieg – das ist nichts anderes, als ob Gott selbst und der Satan einander entgegentreten und einer des anderen Werke 53


Vom unfreien Willen · Kapitel 2

zerstört und einer des anderen Lehren umstößt, als ob zwei Könige gegenseitig ihre Reiche verwüsten. »Wer nicht mit mir ist«, spricht Christus, »der ist gegen mich« (Mt 12,30). Was aber die Befürchtung betrifft, dass viele, die zu Schandtaten neigen, diese Freiheit missbrauchen werden: Das gehört zu dem Aufruhr, von dem oben die Rede war; es ist Teil des zeitlichen Aussatzes, den man ertragen, und des Übels, das man erdulden muss. Man darf es nicht für so schwerwiegend halten, dass man, um solchem Missbrauch zu wehren, das Wort Gottes wegnimmt. Wenn auch nicht alle errettet werden können, so doch einige, um derer willen das Wort Gottes gekommen ist; diese lieben umso eifriger und halten umso fester zusammen. Denn was für Übeltaten haben gottlose Menschen nicht schon zuvor getan, ehe Gottes Wort offenbart war? Ja, was haben sie Gutes getan? War denn die Welt nicht schon immer voll Krieg, Betrug, Gewalttat, Zwietracht und Verbrechen aller Art, sodass Micha den Besten unter ihnen mit einem Dornstrauch vergleicht (Mi 7,4)? Wie, meinst du, würde er wohl die anderen nennen? Nun aber, da das Evangelium wieder an den Tag gekommen ist, beginnt man ihm zur Last zu legen, dass die Welt böse ist; denn durch das gute Evangelium kommt erst recht ans Licht, wie böse sie war, als sie ohne Evangelium in der ihr eigenen Finsternis lebte. Ebenso mögen es auch die Ungebildeten der Wissenschaft zur Last legen, dass durch deren Aufblühen ihr Unwissen bekannt wird.51 – So also danken wir Gott für sein Wort des Lebens und des Heils! Wie groß aber wird wohl, meinst du, die Furcht bei den Juden gewesen sein, als das Evangelium alle vom Gesetz Moses freisprach? Was schien diese so große Freiheit bösen Menschen nicht alles zu erlauben? Aber deshalb hat man das Evangelium nicht 51 Die Herausgeber der Weimarer Ausgabe merken hierzu an: »Ein feiner Schachzug Luthers; denn eben in dieser Sache hatte ja Erasmus fortwährend zu kämpfen.« (WA I,18, S. 628, Fußn. 1.)

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verschwiegen; sondern die Gottlosen ließ man fahren, den Gläubigen aber wurde gesagt (Gal 5,13): »Seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht dem Fleisch Raum gebt!« Auch dieser Teil deines Rates oder Heilmittels taugt nichts, wo du sagst: »Es ist erlaubt, die Wahrheit zu sagen, aber sie ist weder allen, noch jederzeit oder auf jede Weise nützlich.« Und reichlich unpassend führst du Paulus an, der sagt: »Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist nützlich« (1Kor 6,12). Paulus spricht dort nämlich nicht von der Lehre oder vom Lehren der Wahrheit, wie du seine Worte verdrehst und willkürlich deutest. Vielmehr will er, dass die Wahrheit überall, jederzeit und auf jede Weise geredet werde, sodass er sich selbst dann freut, wenn nur Christus gepredigt wird, sei es »in guter Absicht« oder »aus Neid und Streit« (Phil 1,15). Das bezeugt er auch unverhohlen mit diesem Wort (V. 18): »Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise … so freue ich mich darüber.« Paulus spricht in 1. Korinther 10 von Anwendung und Gebrauch der Lehre, nämlich von denen, die sich der christlichen Freiheit rühmten, aber das Ihre suchten und keine Rücksicht darauf nahmen, dass sie bei den Schwachen Anstoß und Ärgernis erregten. Die Wahrheit, das ist die christliche Lehre, muss zu allen Zeiten, unverhohlen und beharrlich gepredigt werden; sie darf nie gebeugt oder verheimlicht werden, denn sie ist »ein Zepter der Aufrichtigkeit« (Ps 45,7). Wer aber hat dir Vollmacht oder Recht verliehen, die christliche Lehre an Ort, Personen, Zeit oder Umstände zu binden? Will Christus doch, dass sie völlig ungehindert in aller Welt bekannt gemacht werden und herrschen soll! Denn »Gottes Wort ist nicht gebunden«, wie Paulus sagt (2Tim 2,9); Erasmus aber will das Wort binden? Gott hat uns nicht sein Wort gegeben, dass man sich Ort, Person und Zeit aussuche; denn Christus sagt: »Geht hin in alle Welt« (Mk 16,15). Er sagt nicht wie Erasmus: »Geht hierhin, aber dorthin nicht.« Ebenso sagt Christus: »Predigt das Evangelium aller Kreatur«; er sagt nicht: Predigt es den einen, den anderen nicht. 55


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Kurz: Du schreibst uns vor, bei der Verkündigung des Wortes Gottes auf die Person, den Ort, die Art und Weise sowie die gelegene Zeit Rücksicht zu nehmen. Dabei gehört doch gerade das zum größten Ruhm des Wortes Gottes, dass »bei ihm kein Ansehen der Person ist«, wie Paulus sagt (Eph 6,9; Kol 3,25), und: »Gott achtet das Ansehen der Menschen nicht« (Gal 2,6). – Du siehst erneut, wie unbesonnen du dich auf Gottes Wort stürzt, als ob du deine Gedanken und Überlegungen diesem bei weitem vorziehst. Nun, wenn wir dich bäten: »Zeige uns, wem, wo, wie und wann die Wahrheit gesagt werden darf!« – wann würdest du es wohl genau erklären? Eher wäre längst die Zeit vergangen, hätte die Welt ihr Ende gefunden,52 bis du auch nur eine feste Regel aufgestellt hättest. Wo bliebe bis dahin das Lehramt? Wo die zu belehrenden Seelen? Und wie könntest du es auch, da du nicht eine feste Regel über Person, Zeit, Art und Weise kennst? Und selbst wenn du sie reichlich kennen würdest, so kennst du doch nicht das menschliche Herz. Es sei denn, du meinst mit Rücksicht auf Art und Weise sowie Zeit und Person, wir sollten die Wahrheit so lehren, dass sich der Papst nicht entrüstet, der Kaiser nicht zürnt und Bischöfe und Fürsten sich nicht ärgern; ferner, dass kein Aufruhr und keine Unruhe auf Erden aufkomme und dass nicht viele Anstoß nehmen und noch schlimmer werden. – Was das für ein Ratschlag ist, hast du schon oben gesehen; doch du wolltest lieber mit unnützen Worten beweisen, wie groß deine Redekunst ist, damit du nicht dazu verstummen musst. Wie viel mehr aber sind wir elende Menschen schuldig, diese Ehre Gott zu geben! Er kennt das Herz aller Menschen, sodass er selbst vorschreiben kann, wie, wem und wann die Wahrheit zu sagen sei. Denn er weiß selbst am besten, was, wann, wie und wem gesagt werden muss. – Nun aber hat er es so vorgeschrieben: Sein 52 Lateinisch: Ante suum clauso componet tempore finem mundus. Eine Anspielung auf Vergil, Aeneis I,375: »Ante diem clauso componet Vesper Olympus« = »ehe Vesper [die Abendgottheit] den Tag beendet und den Olymp verschlossen hätte«, könne Aeneas seine Geschichte nicht vollständig erzählen.

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Evangelium, das für alle zum Heil notwendig ist, darf nicht auf bestimmte Orte oder Zeiten beschränkt werden, sondern muss allen zu jeder Zeit und an jedem Ort gepredigt werden. Und oben habe ich bewiesen: Was in der Schrift geschrieben steht, ist so beschaffen, dass es nötig und nützlich ist, dass man es allen darlegt und öffentlich verkündigt. Dazu hast du auch in deiner »Paraclesis«53 damals besser als jetzt geraten und es selber gelehrt. Denen, die nicht wollen, dass Seelen gerettet werden, wie der Papst und die Seinen, mag es gebühren, das Wort Gottes zu binden und die Menschen vom ewigen Leben und vom Himmelreich abzuhalten, damit sie selbst nicht hineingehen, noch andere hineinlassen (Mt 23,13); ihrem Wüten dienst du, Erasmus, mit deinem verderblichen Ratschlag. Mit derselben Klugheit rätst du danach, man dürfe nicht öffentlich kritisieren, wenn auf Konzilien ein falscher Lehrentscheid getroffen wurde, damit kein Anlass gegeben würde, die Autorität der Väter zu verachten. Natürlich gefällt es dem Papst, dass du solches redest, und das hört er lieber als das Evangelium. Er wäre äußerst undankbar, wenn er wiederum dich dafür nicht mit dem Kardinalshut samt dessen Pfründen belohnen würde.54 Was aber, Erasmus, sollen unterdessen die Seelen tun, die durch jene ungerechte Verordnung gebunden und getötet wurden? Geht dich das nichts an? Du aber meinst beständig (oder tust so, als ob du es meinst), man könne neben dem reinen Wort Gottes auch gefahrlos Menschensatzungen einhalten. Könnte man das, würde ich mich dieser deiner Meinung bereitwillig anschließen. Falls du es nicht erkannt hast, sage ich darum noch einmal: Man kann nicht gleichzeitig Menschensatzungen und Gottes Wort halten. Jene nämlich binden das Gewissen, dieses aber 53 Das heißt, »Ermahnung«; Titel des ersten Vorworts des Erasmus zu dem von ihm herausgegebenen lateinisch-griechischen Novum Testamentum (Basel 1519). 54 Tatsächlich bot Papst Paul III. kurz nach seiner Wahl zum Papst 1534 dem Erasmus die Kardinalswürde an; dieser lehnte sie jedoch ab.

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macht es frei; und beide streiten gegeneinander wie Wasser und Feuer, wenn man sie nicht freiwillig hält, das heißt, als unverbindliche Gebote. Gerade das will der Papst nicht und kann es nicht wollen, wenn er nicht will, dass seine Herrschaft vernichtet und ihr ein Ende gemacht werden soll. Sie besteht nur aus Fesseln und Stricken für das Gewissen, während doch das Evangelium fest zusichert [asserit], dass es davon frei sei. Darum ist die Autorität der Väter für nichts zu achten, und man muss ihre Satzungen niederreißen und verwerfen, wo sie irren – wie alles, was ohne Gottes Wort beschlossen wurde. Christus nämlich steht über der Autorität der Väter. Kurz gesagt: Wenn du so über Gottes Wort denkst, ist deine Meinung gottlos; denkst du aber so über andere Dinge, dann interessiert uns nicht, wie wortreich du disputierst und uns Ratschläge erteilst. Wir disputieren hier über Gottes Wort. 7.) Ist es unnütz, Gottes Vorherbestimmung aller Dinge zu verkünden? (630-634) Im letzten Teil deines Vorworts, der uns von derartiger Lehre ernsthaft abschreckt, meinst du, schon fast den Sieg davongetragen zu haben: »Was könnte unnützer sein«, sagst du, »als dieses Paradoxon in der Welt zu verbreiten: Was wir tun, geschehe nicht durch unseren freien Willen, sondern durch bloße Notwendigkeit? Und den Ausspruch des Augustinus: Gott wirke das Gute und das Böse in uns; er belohne in uns seine guten Werke und strafe an uns seine bösen Werke.« Wortreich gibst du, oder besser, verlangst du hier Rechenschaft: »Wenn man eine solche Lehre öffentlich verkündigte«, sagst du, »würde das nicht unter den Sterblichen der Bosheit ein Fenster öffnen? Welcher Böse würde sein Leben bessern wollen? Wer würde glauben, dass er von Gott geliebt sei? Wer gegen sein Fleisch kämpfen?« Mich wundert, dass du derart heftig und leidenschaftlich wirst und gar nicht mehr daran denkst, worum es geht, statt zu 58


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fragen: Wo bleibt denn da noch der freie Wille? Lieber Erasmus, ich sage es zum wiederholten Mal: Wenn du diese Paradoxa für menschliche Erfindungen hältst, warum streitest du dann? Was ereiferst du dich? Gegen wen redest du? Gibt es denn heutzutage irgendwen auf Erden, der Menschenlehren schärfer angreift als Luther? Darum betrifft uns deine Ermahnung nicht. Wenn du aber glaubst, dass diese Paradoxa Gottes Wort sind, wo bleibt da dein Anstand, wo deine Scham? Wo bleibt da (ich will es gar nicht mehr jene berühmte Bescheidenheit des Erasmus nennen) die Ehrfurcht, die man dem wahren Gott schuldet? Wie kannst du sagen, man könne nichts Nutzloseres reden als dieses Wort Gottes? Aber sicher: Dein Schöpfer soll von dir, seinem Geschöpf, lernen, was nützlich oder unnütz zu predigen sei; und dieser törichte und ahnungslose Gott wird bisher wohl nicht gewusst haben, was gepredigt werden muss, bis du als sein Lehrer ihm vorgeschrieben hast, auf welche Weise man Einsicht erlangen und Imperative geben muss – als ob er, wenn du ihn nicht belehrt hättest, von sich aus nicht erkannt hätte, dass aus jenem Paradoxon das folgen würde, was du daraus schließt! Wenn aber Gott will, dass solches unverhohlen und öffentlich geredet werde und man nicht darauf achten solle, was daraus folgt, wer bist denn du, dass du es verbieten willst? Der Apostel Paulus erörtert dasselbe im Brief an die Römer nicht heimlich, sondern öffentlich und völlig unverblümt vor aller Welt. Er sagt es sogar mit noch weit härteren Worten: »Er verstockt, wen er will« (Röm 9,18), und wiederum (V. 22): »Da Gott seinen Zorn erweisen wollte« usw. Was aber ist härter (das heißt, für das Fleisch) als jenes Wort Christi (Mt 22,14): »Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt«? Und wiederum: »Ich weiß, welche ich erwählt habe« (Joh 13,18). Freilich: Wenn es nach dir ginge, wären all diese Bibelworte so beschaffen, dass man nichts Nutzloseres reden kann, weil gottlose Menschen dadurch in Verzweiflung, Hass und Gotteslästerung fallen. Wie ich sehe, bist du hier der Meinung, dass Wahrheit und Nutzen der Schrift gemäß dem Empfinden der Menschen ab59


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zuwägen und zu beurteilen sei – und zwar nach dem Empfinden der Gottlosesten. So darf erst das wahr, göttlich und heilsam sein, was ihnen gefällt oder erträglich scheint; was aber dem entgegensteht, muss alsbald nutzlos, falsch und gefährlich sein. Was kannst du mit diesem Rat wohl anderes bezwecken, als dass Gottes Wort in der Schwebe bleibt und nach Willen und Macht der Menschen steht und fällt? Die Schrift hingegen sagt: Alles steht und fällt nach Gottes Macht und Willen; ansonsten gilt: »Sei stille vor ihm, alle Welt!« (Hab 2,20). So, wie du empfiehlst, müsste wohl jemand reden, der sich einbildet, der lebendige Gott sei nichts anderes als ein unbedachter hohler Schwätzer, der auf irgendeiner Tribüne eine Rede hält. Dessen Worte könnte man, wenn man wollte, beliebig auslegen, annehmen oder ablehnen – je nachdem, ob die Gottlosen dadurch bewegt oder berührt würden. Hier zeigst du offen, Erasmus, mit welcher Herzenshaltung du zuvor geraten hast, man solle die Erhabenheit der göttlichen Gerichte ehren. Dort nämlich, wo es um die Lehren der Schrift geht und es durchaus nicht nötig ist, völlig Verborgenes zu verehren, weil es solches dort nicht gibt, da drohst du uns mit vielen frommen Worten über die Höhle von Korykos, nicht vorwitzig in sie einzudringen. Damit hättest du uns ja beinahe gänzlich davon abgeschreckt, die Schrift zu lesen! Sie zu lesen aber drängen und raten uns Christus und die Apostel, wie auch du selbst an anderer Stelle.55 Hier aber, wo man zu mehr als nur den allgemeinen Lehren der Schrift oder zur Höhle von Korykos kommt, sondern tatsächlich [revera] zu den ehrwürdigen [reverenda] Geheimnissen der göttlichen Majestät (nämlich warum Gott so handelt, wie es von ihm heißt), da durchbrichst du alle Schranken und stürzt dich wild darauf. Zwar kannst du es gerade noch vermeiden zu lästern; aber welchen Unwillen zeigst du nur gegen Gott, weil er uns keinen Einblick darin erlaubt, was Grund und Ursache für seinen Ratschluss ist? Warum redest du dich nicht auch hier 55 U.a. in der bereits erwähnten »Paraclesis«.

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mit Dunkelheit und Mehrdeutigkeit heraus? Warum enthältst du dich hier nicht selbst, diese Dinge zu erforschen, und schreckst andere nicht ebenfalls davon ab, da Gott doch gewollt hat, dass sie uns verborgen sein sollen, und sie in der Schrift nicht offenbart hat? Hier hätte man den Finger auf den Mund legen müssen, das respektieren, was er verbirgt, die Geheimnisse seiner göttlichen Majestät verehren und mit Paulus ausrufen: »Ja, wer bist denn du, o Mensch, dass du mit Gott rechten willst?« (Röm 9,20). »Wer«, fragst du, »wird sich bemühen, sein Leben zu bessern?« Ich antworte: Kein einziger Mensch! Auch ist kein einziger Mensch dazu fähig [vgl. Röm 8,7]. Gott nämlich schert sich nicht um deine geistlosen Menschen-Verbesserer, weil sie Heuchler sind. Bessern lassen sich aber die Erwählten und Frommen durch den Heiligen Geist; die anderen werden ungebessert verloren gehen. Denn auch Augustinus sagt nicht, dass niemandes oder aller Menschen gute Werke belohnt würden, sondern »einiger«. Darum ist es nicht so, dass niemand sein Leben bessern würde. »Wer«, fragst du, »wird glauben, dass er von Gott geliebt wird?« Ich antworte: Kein einziger Mensch wird glauben; er kann es auch nicht. Die Auserwählten aber werden glauben; die anderen werden ungläubig verloren gehen. Sie werden unwillig sein und lästern, wie auch du hier tust. Demnach ist es nicht so, dass niemand glauben würde. Was aber das betrifft, dass diese Lehre »der Gottlosigkeit ein Fenster öffnet«: Dann sei es so! Das gehört zu dem Aussatz, von dem ich oben gesagt habe, man müsse ihn als das geringere Übel ertragen. Nichtsdestoweniger öffnet eben diese Lehre für die Frommen und Auserwählten die Pforte zur Gerechtigkeit, den Eingang zum Himmel und den Weg zu Gott. Was aber, wenn wir uns nun nach deinem Rat dieser Lehre enthielten und den Menschen dieses Wort Gottes verbergen würden? Dann würde ein jeder durch seine falsche Überzeugung ums Heil betrogen, würde nicht lernen, Gott zu fürchten und sich zu demütigen; durch solche Furcht aber hätte er zur Gnade und Liebe gefunden. Dann hätten wir zwar dein Fenster fein 61


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geschlossen, stattdessen aber für uns und für alle Scheunentore, ja Schlünde und Abgründe nicht nur zur Gottlosigkeit geöffnet, sondern in die Tiefen der Hölle. So würden wir selbst nicht in den Himmel gelangen und auch andere daran hindern hineinzugehen. Was nützt es also oder warum ist es notwendig, solche Lehren zu verbreiten, da doch so viele Übel daraus zu erwachsen scheinen? Darauf entgegne ich: Es würde schon genügen zu sagen, Gott habe gewollt, dass es öffentlich gelehrt werde. Nach dem Grund des göttlichen Willens aber darf man nicht fragen; sondern man muss einfach anbeten und Gott die Ehre dafür geben, dass er gerecht und allein weise ist (Röm 16,27) und deshalb niemand Unrecht tut (vgl. Hiob 34,10-12). So kann er auch nichts aus Torheit oder unbesonnen tun, selbst wenn es uns ganz anders scheinen mag. Mit dieser Antwort sind die Frommen zufrieden. Doch zu allem Überfluss will ich noch dies hinzufügen: Zwei Gründe erfordern, dass dies gepredigt werden muss. Der erste ist, dass unser Stolz gedemütigt und Gottes Gnade recht erkannt werden muss; der andere ist der christliche Glaube selbst. Zuerst einmal sagt Gott denen seine Gnade fest zu, die sich demütigen (Spr 3,34) – das heißt, denen, die ihre Sünde beklagen und an sich selbst verzweifeln. Kein Mensch aber kann sich gründlich genug demütigen, ehe er nicht weiß, dass sein Heil völlig außerhalb seiner eigenen Kräfte, Überlegungen, Bemühungen, Entschlüsse und Werke steht, sondern ganz und gar vom Willen, Ratschluss, Entschluss und Werk eines anderen abhängt – nämlich Gottes allein. So lange nämlich ein Mensch überzeugt ist, er könne zu seinem Heil auch nur das Geringste beitragen, bleibt er voll Selbstvertrauen, statt an sich selbst völlig zu verzweifeln. Darum demütigt er sich auch nicht vor Gott, sondern nimmt sich Ort, Zeit oder irgendein Werk vor, durch das er hofft oder wenigstens wünscht, am Ende das Heil zu erlangen. Wer aber nicht im Geringsten daran zweifelt, dass alles von Gottes Willen abhängt, der verzweifelt völlig an sich selbst, erwählt sich nichts als Mittel zum Heil, sondern erwartet, dass Gott handelt. Ein solcher 62


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Mensch ist der Gnade am nächsten, durch die man das Heil erlangt. Darum werden diese Dinge um der Auserwählten willen öffentlich gelehrt, damit sie – derart gedemütigt und zunichte gemacht – gerettet werden. Die anderen widerstehen dieser Demütigung; ja, sie verdammen es, dass gelehrt wird, man müsse derart an sich selbst verzweifeln. Vielmehr wollen sie etwas übrig behalten, das sie selbst tun können, und sei es noch so gering. Diese bleiben insgeheim stolz und der Gnade Gottes feindlich gesinnt. Das ist, wie ich sagte, der eine Grund: Die Frommen sollen gedemütigt werden, um die Verheißung der Gnade zu erkennen, Gott anzurufen und die Gnade anzunehmen. Der andere Grund ist: Beim Glauben geht es um Dinge, die man nicht sieht (Hebr 11,1). Damit es also Raum für den Glauben gebe, ist es nötig, dass alles, was geglaubt wird, verborgen werde. Nichts aber kann tiefer verborgen werden, als wenn es all unserer Wahrnehmung und Erfahrung schnurstracks widerspricht. Wenn daher Gott lebendig macht, dann indem er tötet; wenn er rechtfertigt, dann indem er schuldig spricht; wenn er in den Himmel bringt, dann indem er zur Hölle führt, wie die Schrift sagt: »Der Herr tötet und macht lebendig, führt in die Hölle und wieder heraus« (1Sam 2,6). Hier ist jetzt kein Raum, um darüber ausführlicher zu sprechen. Wer unsere Schriften gelesen hat, dem ist dies bestens bekannt. – So verbirgt Gott seine ewige Güte und Barmherzigkeit unter dem ewigen Zorn, seine Gerechtigkeit aber unter der Ungerechtigkeit. Dies ist die höchste Stufe des Glaubens: zu glauben, jener sei gütig, der doch so wenige rettet und so viele verdammt; zu glauben, jener sei gerecht, der uns kraft seines Entschlusses verdammenswert macht – sodass es scheint (wie Erasmus es darstellt), ihm würden die Qualen der Verdammten Vergnügen bereiten und er sei mehr wert, gehasst zu werden als geliebt. Wenn ich also auf irgendeine Weise begreifen könnte, wie dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der solchen Zorn und Ungerechtigkeit zeigt, dann wäre kein Glaube nötig. Nun aber, da man das nicht begreifen kann, wird dem Glauben Raum gegeben, indem 63


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solches gepredigt und verkündigt wird, nämlich: Wenn Gott tötet, übt man im Tode den Glauben an das Leben aus. – Das nun soll dazu vorläufig genügen. Auf diese Weise wird denen, die sich in Disputen über diese Paradoxa ergehen, ein besserer Rat erteilt als durch den deinen, der du ihrer Gottlosigkeit durch Schweigen und Enthalten begegnen willst. Doch dadurch erreichst du nichts. Denn es ist so: Glaubst du oder vermutest du auch nur, dass es wahr ist? (Diese Paradoxa sind nämlich durchaus von Bedeutung.) Und wie unersättlich ist das Verlangen der Sterblichen, Geheimnisse zu erforschen, besonders dann, wenn man sie verbergen will! Dann wirst du durch deine öffentliche Warnung vielmehr bewirken, dass jetzt alle wissen wollen, ob diese Paradoxa wahr sind; denn dein Widerspruch reizt sie erst dazu an. Keiner von uns hat bisher einen so starken Anlass gegeben, es öffentlich zu machen, wie du durch diese heftige Warnung, die du voller Bedenken äußerst. Viel klüger hättest du gehandelt, wenn du ganz davon geschwiegen hättest, statt vor diesem Paradox zu warnen. Nun ist es geschehen! Da du nicht völlig abstreitest, dass diese Dinge wahr sind, können sie nicht verborgen bleiben; der Verdacht aber, es könnte doch wahr sein, wird nun alle verlocken, es selbst zu erforschen. Wenn du darum willst, dass andere schweigen sollen, so leugne entweder, dass jene Dinge wahr sind, oder schweige du zuerst! 8.) Die Spontaneität vorherbestimmter Taten (634-635) Zum anderen Paradox: Was auch immer von uns aus geschieht, geschieht nicht aus freiem Willen, sondern aus reiner Notwendigkeit. Betrachten wir es kurz; denn wir wollen nicht hinnehmen, dass man sagt, dies sei eine höchst schädliche Lehre. Hierzu sage ich: Wenn das bewiesen ist, dass unser Heil nicht von unsren Kräften und Entschlüssen abhängt, sondern allein von Gottes Werk – was ich später im Hauptteil dieser Abhandlung zu bewei64


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sen hoffe –, folgt dann daraus nicht eindeutig: Wenn Gott nicht in uns wirkt, ist alles böse, was wir tun, und: Was wir notwendigerweise wirken, trägt nichts zum Heil bei? Denn wenn nicht wir, sondern Gott allein das Heil in uns wirkt, so rettet nichts, was wir vor seinem Werk tun – ob wir es wollen oder nicht. »Notwendigerweise« sage ich, nicht »gezwungenermaßen«; sondern es wie jene nennen: »aus unveränderlicher Notwendigkeit, nicht aus erzwungener«. Das heißt: Wenn der Mensch den Geist Gottes nicht hat, wird er freilich nicht mit Gewalt, gleichsam an der Gurgel gepackt hingerissen, und tut gegen seinen Willen Böses, als ob man einen Dieb oder Räuber gegen dessen Willen seiner Strafe zuführt; sondern er tut es freiwillig und gerne. Diese Lust aber oder dieser Wille, Böses zu tun, kann er nicht aus eigenen Kräften unterlassen, im Zaum halten oder ändern, sondern fährt willentlich und gerne damit fort. Wenn er auch äußerlich mit Gewalt gezwungen werden sollte, anders zu handeln, so bleibt doch der Wille innerlich dem feindlich gesinnt und entrüstet sich über den, der ihn zwingt oder hindert. Er würde sich aber nicht entrüsten, wenn er verändert würde und der Gewalt freiwillig folgte. Eben das nennt man »unveränderliche Notwendigkeit«, das heißt: Der Wille kann sich unmöglich ändern oder anderswohin wenden, sondern man reizt ihn nur noch mehr zum Wollen, wenn man ihm Widerstand leistet; das beweist seine Entrüstung. Das geschähe nicht, wenn er frei wäre oder der Mensch einen freien Willen hätte. Du weißt ja aus Erfahrung, wie unmöglich die zu überzeugen sind, die leidenschaftlich einer Meinung anhängen. Wenn sie von ihr weichen, dann weichen sie nur der Gewalt oder wenn ihnen daraus ein größerer Vorteil erwächst, doch niemals freiwillig. Wenn sie aber nicht so leidenschaftlich gesinnt sind, dann lassen sie alles gehen und geschehen, was auch immer gehen und geschehen mag. Andererseits wiederum: Wenn Gott in uns wirkt, dann will und handelt der Wille, der durch den Heiligen Geist verändert und sanft angehaucht wurde – nicht gezwungen, sondern aus 65


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reiner Lust und Neigung, sodass ihn keine Widerwärtigkeit jemals ändern kann. Selbst die Pforten der Hölle können ihn nicht überwinden oder zwingen, sondern er fährt fort, das Gute zu wollen, daran Gefallen zu haben und es zu lieben – so, wie er vorher das Böse gewollt, daran Gefallen gehabt und es geliebt hat. Das beweist erneut die Erfahrung, wie unüberwindlich und standhaft die heiligen Männer sind, wenn man sie mit Gewalt zu etwas anderem zwingen will: Sie werden dadurch nur noch mehr dazu gereizt, das Gute zu wollen, so wie das Feuer durch den Wind vielmehr angefacht statt ausgelöscht wird. Somit gibt es auch hier weder eine Freiheit noch eine freie Wahl, sich anderswohin zu wenden oder etwas anderes zu wollen, solange der Geist und die Gnade Gottes im Menschen dauerhaft bleiben. Kurz: Wenn wir ohne das Werk und den Geist des wahren Gottes unter dem Gott dieser Welt stehen, dann werden wir gefangen gehalten, um dessen Willen zu tun, wie Paulus an Timotheus schreibt (2Tim 2,26). Dann können wir nur das wollen, was er will; denn er ist der »starke Gewappnete«. Er bewacht sein Haus so, dass die Seinen in Frieden sind (Lk 11,21), damit in ihnen keinerlei Erregung oder Empfindung gegen ihn aufkomme. (Sonst wäre das Reich Satans zerteilt und bliebe nicht bestehen, wogegen doch Christus versichert, dass es Bestand habe, V. 18.) Und das tun wir willig und gerne, wie es der Natur des Willens entspricht; denn würde er gezwungen, dann wäre er kein Wille mehr [voluntas], weil Zwang vielmehr sozusagen ein Nicht-Wollen ist [noluntas]. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt, ihn besiegt und uns als Beute wegführt (V. 22), sind wir wiederum durch den Heiligen Geist dessen Sklaven und Gefangene – was aber eine königliche Freiheit ist, sodass wir gerne wollen und tun, was er will. So ist der menschliche Wille mittendrein gestellt wie ein Maultier:56 Wenn Gott ihn reitet, will und geht er, wie Gott will, 56 Nach Hypomnesticon contra Pelagianos et Caelestianos 3,11,20 (»Kommentar gegen die Pelagianer und Coelestinianer«), lange Zeit fälschlich Augustinus zugeschrieben.

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wie ein Psalm sagt (Ps 73,22f): »Ich war wie ein Tier vor dir. Dennoch bleibe ich stets an dir …« Wenn ihn der Teufel reitet, will und geht er, wie der Teufel will, und er hat nicht die freie Wahl, zu einem der beiden Reiter zu laufen oder ihn zu suchen; sondern die Reiter selbst kämpfen darum, ihn zu erlangen und zu besitzen. 9.) Ein Wille, der ohne Gnade keine Macht hat, ist nicht frei (635-638) Was aber, wenn ich beweisen werde, dass es keinen freien Willen gibt – aus deinen eigenen Worten, mit denen du fest behauptest [asseris], es gebe ihn? Wenn ich dich überführe, dass du dummerweise genau das leugnest, was du mit so großer Klugheit zu behaupten versuchst? Freilich: Wenn ich das nicht zustande bringe, dann schwöre ich, dass alles widerrufen sein soll, was ich in diesem ganzen Büchlein gegen dich schreibe, und alles bestätigt, was deine Diatribe gegen mich behauptet wie erstrebt. Du billigst der Macht des freien Willens derart wenig zu, dass sie ohne Gottes Gnade ganz und gar nichts vermag. Musst du das nicht zugestehen? Nun frage und bitte ich dich: Wenn Gottes Gnade nicht da ist oder von jener ganz geringen Fähigkeit57 getrennt ist, was kann diese dann tun? Sie vermag nichts, sagst du, und tut nichts Gutes. Also wird sie nicht tun, was Gott oder seine Gnade will; denn wir haben ja oben vorausgesetzt, dass Gottes Gnade davon getrennt ist. Was aber Gottes Gnade nicht tut, ist nicht gut. Daraus folgt, dass der freie Wille ohne Gottes Gnade durchaus nicht frei ist, sondern unabänderlich ein Gefangener und Sklave des Bösen, weil er nicht fähig ist, sich von selbst dem Guten zuzuwenden. 57 Für »Macht«, »Kraft« und »Fähigkeit« steht hier im Lateinischen jeweils dasselbe Wort. Der deutsche Sprachgebrauch zwingt zu einer differenzierten Übersetzung; oft von anderen auch mit »Vermögen« übersetzt.

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Wenn dies feststeht, dann will ich dir zubilligen, dass du die Fähigkeit des freien Willens nicht nur für sehr gering hältst; mache sie doch zu einer engelgleichen Kraft, ja mache sie, wenn du kannst, zu einer ganz göttlichen; doch wenn du ihr diesen armseligen Zusatz beifügst und sagst, sie könne ohne Gottes Gnade nichts bewirken, dann hast du ihr sogleich alle Kraft genommen. Denn was ist eine Fähigkeit, die nichts kann, anderes als Unfähigkeit? Darum: zu sagen, es gebe einen freien Willen, und er habe eine Kraft, die aber unwirksam sei, ist das, was die Sophisten einen Widerspruch in sich selbst nennen – als ob du sagen würdest: »Es gibt einen freien Willen, der nicht frei ist«, oder als ob du Feuer kalt nennen würdest und die Erde warm.58 Denn wenn auch das Feuer die Kraft der Hitze oder gar der Hölle besäße, aber weder heiß wäre noch brennen würde, sondern kalt wäre und kalt machte, dann soll es mir niemand Feuer nennen, noch weniger »warm«, es sei denn, du willst etwas Gemaltes oder Eingebildetes für Feuer halten. Aber wenn wir das die Fähigkeit des freien Willens nennen würden, aufgrund derer der Mensch befähigt ist, von Gottes Geist ergriffen und mit Gottes Gnade erfüllt zu werden (wie ein jeder entweder zum ewigen Leben oder zum ewigen Tod geschaffen ist), so wäre das recht geredet. Denn diese Kraft, das heißt, Fähigkeit oder – wie es die Sophisten nennen – »verordnete Eigenschaft« [dispositivam qualitatem] und »passive Fähigkeit« [passivam aptitudinem], gestehen auch wir dem Menschen zu. Denn wer wüsste nicht, dass sie weder den Bäumen noch den Tieren gegeben ist? Denn »nicht für die Gänse hat er den Himmel geschaffen«, wie man sagt. Fest steht also auch nach deinem eigenen Zeugnis: Wir Menschen tun alles aus Notwendigkeit und nichts aus freiem Willen; denn die Kraft des freien Willens ist nichts, wirkt nichts und 58 In der antiken Vier-Elemente-Lehre ordnete man dem »Element« Erde die Eigenschaft »kalt« zu.

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Antwor t auf das Vorwor t der Diatribe

vermag nichts Gutes, wenn die Gnade Gottes nicht da ist. Es sei denn, du wolltest (was ich aber nicht glaube) dem Wort »Wirksamkeit« eine neue Bedeutung im Sinne von »vollkommenem Vollbringen« geben, so als ob der freie Wille zwar etwas anfangen und wollen, aber nicht vollbringen könne. – Darüber werde ich später noch ausführlicher reden. Hieraus folgt nun: »Freier Wille« ist eine rein göttliche Bezeichnung, die keinem anderen zustehen kann als allein der Majestät Gottes; denn wie der Psalm besingt: »Alles, was er will, das tut er, im Himmel und auf Erden« (Ps 135,6). Wenn man dies dem Menschen zuschreiben würde, dann wäre es nicht weniger recht, ihm auch gleich die Gottheit selbst zuzuschreiben. Eine größere Gotteslästerung als diese könnte es nicht geben. Deshalb hätte es den Theologen gebührt, auf dieses Wort zu verzichten, wenn sie von einer menschlichen Fähigkeit reden wollten, und es allein Gott vorzubehalten. Daraufhin hätten sie es aus dem Mund und Sprachgebrauch der Menschen entfernen und als heiligen, ehrwürdigen Ausdruck für ihren Gott geltend machen sollen. Und wenn sie den Menschen überhaupt irgendeine Fähigkeit zubilligen wollten, dann hätten sie lehren sollen, es mit einem anderen Wort als »freier Wille« zu benennen – zumal uns bekannt ist und vor Augen steht, dass das Volk mit diesem Wort jämmerlich betrogen und verführt wird; denn es versteht und begreift es ganz anders, als es die Theologen meinen, wenn sie darüber disputieren. Es ist nämlich das Wort »freier Wille« überaus herrlich, äußerst schwerwiegend und bedeutsam; das Volk versteht darunter, dass es die Fähigkeit bezeichnet (wie denn auch Inhalt und Wesen des Wortes erfordern), sich frei hierhin oder dorthin wenden zu können, und die von niemand abhängig oder niemand unterworfen ist. Wenn nun das Volk wüsste, dass sich dies anders verhält, dass kaum auch nur ein Fünkchen davon gemeint ist und dass der freie Wille an sich völlig unwirksam ist, ein Gefangener und Sklave des Teufels: dann wundert es schon, dass sie uns nicht als Verführer und Betrüger steinigen, die ganz anders re69


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den, als sie es meinen, ja, wobei noch nicht einmal feststeht oder Einigkeit besteht, was wir meinen. Denn wer wie ein Sophist redet, sagt der Weise, ist hassenswert (vgl. Spr 6,16-19) – besonders, wenn er dies in Sachen des Glaubens tut, wo das ewige Heil in Gefahr steht. Da wir also die Bedeutung und den Inhalt eines so herrlichen Wortes verloren, ja, niemals gehabt haben (was die Pelagianer59 haben wollten, die ebenfalls durch dieses Wort betrogen wurden), warum halten wir dann noch so hartnäckig an an einem leeren Wort fest, wodurch das gläubige Volk gefährdet und betrogen wird? Das ist keine andere Weisheit als die von Königen und Fürsten, die leere Titel von Reichen und Regionen beibehalten, für sich in Anspruch nehmen oder sich ihrer rühmen, während sie indes fast bettelarm sind und kaum mehr besitzen als eben jene Reiche und Regionen. Aber das ist erträglich, weil sie niemand täuschen oder trügen, sondern sich selbst an diesem Nichtigen ergötzen, freilich ohne Gewinn. – Hier aber steht das Heil in Gefahr, und es handelt sich um den verbrecherischsten Betrug. Wer würde einen solchen stümperhaften Worterneuerer nicht verlachen oder vielmehr hassen, der gegen den allgemeinen Sprachgebrauch eine solche Redeweise einzuführen versuchte, dass er einen Bettler reich nennen würde – nicht etwa, weil er irgendwelchen Reichtum hätte, sondern weil vielleicht irgendein König ihm etwas aus seinem Besitz schenken könnte? Und er würde das ganz ernst meinen, nicht als rhetorisches Stilmittel, etwa als Antiphrase60 oder Ironie? Oder wenn er einen Todkranken vollkommen gesund [sanum] nennen würde, das allerdings [sane], weil irgendein anderer ihm Gesundheit verleihen könnte? 59 Der Pelagianismus, benannt nach dem Augustinus-Gegner Pelagius (ca. 350 – 420), lehrt, dass der Mensch von Natur aus nicht durch die Erbsünde verdorben sei und deshalb einen unbeeinträchtigten freien Willen habe. Eine abgemilderte, heute unterschwellig stark verbreitete Auffassung ist der Semipelagianismus, der zwar die Erbsünde anerkennt, aber eine völlige Verdorbeneheit des Menschen ablehnt. 60 Rhetorische Stilfigur, die das genaue Gegenteil des Gesagten meint.

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Antwor t auf das Vorwor t der Diatribe

Desgleichen, wenn er einen völlig ungelehrten Laien hochgebildet nennen würde, weil irgendein anderer ihm vielleicht Wissen vermitteln könnte? So klingt es auch hier: Der Mensch hat einen freien Willen – das allerdings nur, wenn Gott ihm den seinigen abtreten würde. Durch diesen Missbrauch der Sprache könnte sich jeder Beliebige aller beliebigen Dinge rühmen, wie etwa, er sei Herr des Himmels und der Erde – wenn Gott ihm das schenken würde. Aber so etwas steht Theologen nicht zu, sondern Gauklern und Betrügern. Unsere Worte müssen zuverlässig, rein und nüchtern sein, und, wie Paulus sagt, »heilsam und untadelig« (Tit 2,8). Wenn wir nun diesen Begriff [»freier Wille«] nicht völlig aufgeben wollen (was am sichersten und am frömmsten wäre), dann müssen wir lehren, dass man ihn nur gewissenhaft verwenden kann, insofern man sagt: Dem Menschen ist eine Wahlfreiheit zuzugestehen, doch nicht bei Dingen, die über ihm stehen, sondern nur bei Dingen, die ihm untergeordnet sind. Das heißt: Er soll wissen, dass er das Recht hat, sein Vermögen und Besitz nach seinem freien Willen zu gebrauchen, zu erwerben und loszulassen (obwohl auch selbst das durch Gottes freien Willen regiert wird, wie es ihm gefällt). Aber Gott gegenüber oder in den Dingen, die Heil und Verdammnis betreffen, hat er keinen freien Willen, sondern ist gefangen, unterworfen und ein Sklave – entweder des Willens Gottes oder des Willens des Teufels. 10.) Schluss dieses Abschnittes (638-639) Das habe ich über die Hauptpunkte deines Vorworts gesagt, die beinahe den gesamten Gegenstand umfassen, fast mehr noch als nachher der Hauptteil des Buches. Aber dennoch ist es insgesamt so beschaffen, dass man es mit dieser Zwickmühle [dilemma]61 61 Ein rhetorisches Mittel, das den Gegner zur Wahl zwischen zwei Alternativen zwingt, von denen ihn jede widerlegt.

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kurz erledigen kann: Entweder beklagt sich dein Vorwort über Gottes Worte oder über Menschenworte. Wenn über Menschenworte, dann wurde es ganz vergeblich geschrieben und geht uns nichts an; wenn über Gottes Worte, dann ist es von Anfang bis Ende gottlos. Deshalb wäre es nützlicher gewesen, es hätte davon gesprochen, ob wir hier über Worte Gottes oder Menschenworte disputieren. Aber vielleicht werden das ja die nachfolgende Einleitung der Diatribe und der Hauptteil selbst behandeln. Was du aber am Ende deines Vorwortes wiederholst, richtet nichts aus. So etwa nennst du unsere Lehren »Fabeln« und »unnütz«; man müsse dem Vorbild des Paulus folgen und Christus als den Gekreuzigten predigen; die Weisheit sei unter den Vollkommenen zu lehren. Die Schrift passe ihre Ausdrucksweise der Art ihrer Zuhörer an; daraus ziehst du den Schluss, es sei der Weisheit und Liebe des Lehrenden überlassen, dass er lehre, was dem Nächsten nützt. Das alles redest du töricht und ignorant.62 Denn auch wir lehren nichts außer Jesus als den Gekreuzigten; der gekreuzigte Christus aber bringt all das mit sich, und zwar bis hin zu jener »Weisheit unter den Vollkommenen«. Denn es ist keine andere Weisheit unter den Christen zu lehren als die, die im Geheimnis verborgen ist und den Vollkommenen gehört, nicht den Kindern des jüdischen Volkes, das dem Gesetz nacheifert und sich ohne Glaube seiner Werke rühmt, wie Paulus sagt (1Kor 2,6) – es sei denn, du wolltest unter »Christus als gekreuzigt zu lehren« nichts anderes verstehen, als dass diese Worte erschallen: »Christus ist gekreuzigt.« Ferner sagst du: Dass Gott zürne, vor Wut rase, hasse, betrübt sei, sich erbarme, dass ihn etwas gereue – von alledem treffe eigentlich nichts auf Gott zu. Das nenne ich Probleme suchen, wo 62 Andere übers. »unwissend«; lat. ignorans. Luther benutzt dieses Wort bereits im heute gebräuchlichen Sinne von »ignorant«, das heißt, neben »(unverschuldet) unwissend« auch »absichtlich unwissend« oder »nicht wahrhaben wollend« (nachweisbar ab dem frühen 16. Jh.).

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Antwor t auf das Vorwor t der Diatribe

keine sind.63 Denn weder verdunkeln diese Dinge die Schrift, noch muss man sie verschiedenen Hörern anpassen – es sei denn, man schaffe gerne Dunkelheit, wo keine ist. Es sind nämlich Dinge, die die Grammatik betreffen, Komposita und Redewendungen, die jedes Kind kennt. Wir aber behandeln hier nicht Gebilde der Grammatik, sondern Fragen der Dogmatik.

63 Wörtl. »einen Knoten in der Binse suchen«; eine lateinische Redewendung aus Terenz, Andria 5,4,38. Im Gegensatz zu den Süßgräsern sind die Halme der Binsen, die zu den Sauergräsern gehören, nicht durch Knoten geteilt.

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Kapitel 3

Antwort auf die Einleitung der Diatribe 1.) Die Autorität der Kirchenväter kann den freien Willen nicht beweisen (639-649) In der Einleitung deiner Diatribe versprichst du, allein anhand der kanonischen Schriften zu argumentieren, weil Luther sich an keines anderen Schriftstellers Autorität binden lassen will. Das gefällt mir, und ich nehme diese Zusage an. Du gibst sie zwar nicht deshalb, weil du der Ansicht wärst, dass diese Schriftsteller zur Sache nicht dienlich seien, sondern weil du keine vergebliche Mühe auf dich nehmen willst. Meine »Kühnheit« (oder wie man meinen Grundsatz [»allein die Heilige Schrift«] auch sonst nennen mag) schätzt du nämlich nicht hoch genug. Denn es bewegt dich doch gewaltig »die sehr lange Reihe höchst gelehrter Männer, die man jahrhundertelang einstimmig anerkannt hat; unter ihnen waren die besten Kenner der Schrift, ebenso die heiligsten Männer, einige davon Märtyrer, viele berühmte Wundertäter«; dazu die neueren Theologen, so viele Hochschulen, Konzilien, Bischöfe, Päpste – kurz: Auf deiner Seite stehen Gelehrsamkeit, hohe Begabung, Menge, Größe, Höhe, Tapferkeit, Heiligkeit, Wunder, und was auch immer noch. Auf meiner Seite aber steht allein Wyclif, außerdem noch Laurentius Valla – obwohl auch Augustinus, den du übergehst, ganz der Meine ist. Aber diese fallen gegenüber jenen gar nicht ins Gewicht. Übrig bleibt nur Luther – ein Privatmann [privatus],64 ein neugebore 64 Das heißt, Luthers Meinung sei nur eine vereinzelte Privatmeinung im Gegensatz zum allgemeinchristlichen Konsens.

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nes Kindlein [nuper natus],65 samt seinen Freunden, die weder so hoch gebildet sind, noch so hoch begabt, zahlreich oder bedeutend, weder so heilig noch solche Wundertäter, »dass sie nicht einmal ein lahmes Pferd heilen können«. Sie verwiesen ebenso wie ihre Gegner auf die Schrift, obwohl sie diese für zweifelhaft hielten; daraufhin bemühten sie den Geist, den sie doch nirgends erweisen könnten; und noch sehr viel mehr könntest du geltend machen, wenn du es aufzählen wolltest. So gehst du mit uns nicht anders um als der Wolf mit der Nachtigall, der zu ihr sagt, nachdem er sie verschlungen hat: »Schön singen kannst du, weiter nichts.« Sie reden nämlich, sagst du, allein zu dem Zweck, dass man ihnen glaube. Ich gestehe, lieber Erasmus, dass all das dich nicht ohne Grund beeindruckt; hat doch eben das mich über zehn Jahre so beeindruckt, dass ich glaube, es gibt niemand anderen, der davon ebenso beeindruckt worden ist. Es schien selbst mir unglaublich, dass dieses unser Troja, das so lange Zeit in so vielen Kriegen unbesiegt geblieben war, jemals besiegt werden könne. Und ich rufe Gott zum Zeugen gegen meine Seele an: Ich hätte darin verharrt und es würde mich noch heute derart beeindrucken, wenn nicht mein Gewissen und die Beweislage mich zwängen, auf die Gegenseite zu wechseln. Du magst freilich denken, dass ich kein Herz aus Stein habe; und wenn es aus Stein wäre, so hätte es erweichen können, als so große Fluten und Brandungen darauf einstürmten und es bedrängten. Als ich es nämlich wagte, musste ich anschließend erkennen, dass alle Autorität jener, die du aufzählst, wie eine Sintflut über mein Haupt hereinbrechen würde. Doch hier ist nicht der rechte Ort, um die Geschichte meines Lebens und meiner Werke zu erzählen, noch sich selbst zu empfehlen, sondern um die Gnade Gottes zu preisen. Wer ich bin, durch welchen Geist und nach wessen Ratschluss ich in diese 65 Im Gegensatz zur (vorgeblich oder tatsächlich) Jahrhunderte alten Tradition der römischen Kirche.

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Sache hineingerissen wurde – das befehle ich dem an, der weiß, dass all dies nach seinem und nicht nach meinem Willen geschehen ist (obgleich auch die Welt das schon längst gemerkt haben sollte). Du bringst mich aber durch dieses Vorwort in die unangenehme Lage, dass ich mich kaum herauswinden kann, ohne mich selbst zu rühmen und so viele Väter zu tadeln; doch kurz gesagt: An Gelehrsamkeit, Verstand, Menge, Ansehen und allem anderen stehe ich ihnen nach, wie auch du urteilst. Was aber der Erweis des Geistes sei, was Wunderwerke, was Heiligkeit – soweit ich dich aus deinen Briefen und Büchern kenne, würdest du dich als zu unerfahren und unwissend erweisen, um dazu auch nur eine Silbe sagen zu können. Oder wenn ich hartnäckig verlangen würde, dass du mir sicher zeigst, wer von den Genannten ein Heiliger war oder noch ist, oder dass er den Heiligen Geist gehabt oder wahre Wunder gewirkt habe, dann glaube ich, würdest du dich reichlich, aber vergeblich mühen. Du redest vieles, was man üblicherweise und allgemein annimmt; du glaubst aber nicht, wie viel das an Glaubwürdigkeit und Ansehen verliert, wenn es vor den Richterstuhl des Gewissens gestellt wird. Das Sprichwort ist wahr: »Auf Erden gilt gar mancher heilig, der längst schon in der Hölle schmort.« Aber wenn du willst, lass uns annehmen, dass sie alle heilig waren, dass sie alle den Geist hatten und dass sie alle Wunder wirkten (was du noch nicht einmal verlangst). Dann sage mir doch dies: War irgendeiner von ihnen im Namen oder kraft des freien Willens heilig, ein Geistbegabter oder Wundertäter? »Das sei ferne«, wirst du sagen; »sondern im Namen Jesu Christi und für die Lehre Christi ist all das geschehen.« – Warum führst du dann ihre Heiligkeit, Geistbegabung und Wundertaten als Beleg für die Lehre vom freien Willen an, wenn sie dafür weder gegeben noch gewirkt wurden? Die Wunder, Geistbegabung und Heiligkeit jener Männer sprechen darum für uns, die wir Jesus Christus predigen, nicht aber Kräfte oder Werke von Menschen. Was wundert es, wenn die, die heilig, geistlich und Wundertäter waren, zuweilen unversehens vom Fleisch übereilt wurden 76


Antwor t auf die Einleitung der Diatribe

und nach dem Fleisch redeten und handelten, wie es sogar den Aposteln widerfuhr, die unter Christus selbst waren, und das mehr als einmal? Denn auch du leugnest nicht, sondern bekräftigst [asseris], dass der freie Wille keine Frage des Geistes oder Christi sei, sondern eine menschliche; somit kann jedenfalls der Geist, der verheißen wurde, damit Christus verherrlicht werde, unmöglich den freien Willen predigen. Wenn daher die Väter manchmal den freien Willen gepredigt haben, dann haben sie (da sie ja Menschen waren) mit Sicherheit aus dem Fleisch geredet, nicht aus dem Geist; noch weit weniger haben sie ihn mit Wundern bestätigt. Darum ist töricht,66 was du von der Heiligkeit, dem Geist und den Wundern der Väter bemühst; denn es beweist nicht die Lehre vom freien Willen, sondern die Lehre Jesu Christi gegen den freien Willen. Doch nun kommt her, ihr Vertreter des freien Willens, die ihr behauptet, eine derartige Lehre sei wahr, das heißt, vom Geist Gottes: Beweist noch mehr, dass ihr den Geist habt; wirkt Wunder; erweist eure Heiligkeit! Zweifellos seid ihr das uns schuldig, die wir den freien Willen bestreiten. Von uns, die wir ihn bestreiten, darf man Geist, Heiligkeit und Wunder nicht zum Beweis fordern; von euch aber, die ihr ihn bekräftigt [asseritis], muss man solches fordern. Denn die verneinende Seite stellt nichts auf, ist nichts und trägt nicht die Beweislast; das aber obliegt der Seite, die etwas behauptet. Ihr behauptet, dass der freie Wille Kraft besitze und ein menschliches Ding sei; aber bis jetzt hat man noch nie gesehen oder gehört, dass Gott ein Wunder geschehen lassen hätte, um irgendeine Lehre über menschliche Dinge zu bestätigen, sondern allein, um eine Lehre in göttlichen Dingen zu bestätigen. Uns aber ist geboten, keinerlei Lehre anzunehmen, die nicht zuvor durch göttliche Zeichen bewiesen wurde (5Mo 18,22). Ja, die Schrift bezeichnet den Menschen sogar als Nichtigkeit und Lüge, was nichts anderes heißt, als dass alle Menschen 66 Lateinisch mehrdeutig ineptus = töricht, dumm, unbrauchbar, ungeeignet, unpassend, unsinnig.

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Lügner und vergänglich sind.67 Wohlan denn: Macht euch dran, sage ich; beweist, dass eure Lehre über die menschliche Nichtigkeit und Lüge die Wahrheit ist! Wo ist hier ein Erweis des Geistes? Wo die Heiligkeit? Wo die Wunder? Hohe Begabung, Gelehrsamkeit und Ansehen sehe ich; aber das hat Gott auch den Heiden gegeben. Doch wollen wir euch nicht zu großen Wunderwerken zwingen, auch nicht einmal, ein lahmes Pferd zu heilen; nicht, dass ihr eure Unfähigkeit dazu damit begründet, es sei eine »fleischliche Zeit«. Gott aber pflegt ohne Rücksicht auf fleischliche Zeiten seine Lehren mit Wundern zu bestätigen; denn er lässt sich nicht dadurch beeinflussen, was fleischliche Zeiten vermögen oder nicht vermögen, sondern allein durch reine Barmherzigkeit, Güte und Liebe zu den Menschen, die durch die feststehende Wahrheit befestigt werden sollen – zu seiner Ehre. Euch sei die Wahl gegeben: Wirkt ein Wunder, irgendeines, und sei es noch so klein! Ja, ich will euren Baal reizen, verspotten und herausfordern: Erschafft im Namen und in der Kraft des freien Willens auch nur einen Frosch, von denen doch die heidnischen und gottlosen Zauberer in Ägypten so viele hervorbringen konnten (2Mo 8,1-3)! Denn mit dem Läusemachen will ich euch verschonen, weil auch jene sie nicht zuwege bringen konnten (2Mo 8,14).68 Ich will euch etwas Leichteres bitten: Fangt nur einen Floh oder nur eine Laus! (Denn ihr versucht und verspottet unseren Gott damit, dass wir ein lahmes Pferd heilen sollen.) Und wenn ihr mit allen vereinten Kräften unter Aufbietung aller Anstrengung (sowohl der eures Gottes als auch von euch allen) dieses Tierchen im Namen und in der Kraft des freien Willens töten könnt, dann sollt ihr gewonnen haben und eure Sache soll erwiesen sein. Dann wollen wir kommen und jenen Gott anbeten, den wunderbaren Läusetöter. Nicht, dass ich in Abrede 67 Pred 1,9; 3,19; 12,8; Ps 116,11; Röm 3,4. 68 Neuere Bibelausgaben übersetzen statt »Läuse« korrekter »Mücken« (so auch die Lutherbibel seit der Revision von 1912).

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stellen wollte, dass ihr auch Berge versetzen könnt; aber es ist eine Sache, zu sagen, dass etwas in der Kraft des freien Willens geschehen sei, und eine andere, das auch zu beweisen. Was ich aber von den Wunderwerken gesagt habe, dasselbe sage ich auch von der Heiligkeit. Wenn ihr in einer so großen Reihe von Jahrhunderten, von Männern und von allem, was du erwähnt hast, auch nur ein Werk aufzeigen könnt (sei es auch nur, einen Strohhalm von der Erde aufzuheben), ein Wort (sei es auch nur die Silbe »my«) oder nur einen Gedanken aus der Kraft des freien Willens (sei es auch nur der schwächste Seufzer), wodurch sie sich der Gnade zugewandt, den Geist verdient, Vergebung der Sünde erlangt oder mit Gott verhandelt hätten, und sei es auch noch so wenig (ganz zu schweigen davon, wodurch sie geheiligt sein sollen): dann sollt ihr gewonnen haben und wir verloren. Ich sage: »im Namen und in der Kraft des freien Willens«; was nämlich im Menschen kraft göttlicher Schöpfung geschieht, davon legt die Schrift im Überfluss Zeugnis ab. Und sicherlich seid ihr schuldig, dies zu beweisen, damit man euch nicht als lächerliche Lehrer ansieht, die ihr voller Stolz und Autoritätsgehabe Dogmen darüber in der Welt verbreitet, für die ihr keinerlei Beweis erbringen könnt. Denn diese Lehren wird man Träume nennen, die nichts zur Folge haben – was doch für die gelehrtesten, heiligsten und wundertätigen Leute so vieler Jahrhunderte die allergrößte Schande wäre. Dann werden wir euch die Stoiker vorziehen, die zwar ebenfalls einen idealen Weisen beschrieben, wie sie ihn nie gesehen haben; dennoch haben sie sich zum Teil reichlich bemüht, ihn anschaulich darzustellen. Ihr aber könnt nichts, nicht einmal einen Schatten eurer Lehre beweisen. So sage ich vom Heiligen Geist her: Wenn ihr von allen Verfechtern [assertoribus] des freien Willens auch nur einen vorweisen könnt, der so viel Geisteskraft oder so wenig Begierde hätte, dass er im Namen und in der Kraft des freien Willens auch nur einen Heller [obolus] hätte verachten können, einen guten Fang [bolus] entbehren, ein Wort oder eine Geste der Beleidigung hätte 79


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ertragen können (denn von der Verachtung des Reichtums, des Lebens und des guten Rufs will ich nichts sagen), dann sollt ihr wiederum den Sieg haben und wir wollen uns gerne geschlagen geben. Und ausgerechnet ihr müsst uns das entgegenhalten, die ihr den Mund so voll nehmt und die Kraft des freien Willens rühmt! So müsst ihr wiederum als solche erscheinen, die entweder um des Kaisers Bart streiten, oder wie jemand, der in einem leeren Theater Spiele ansehen will. Ich aber kann euch leicht das Gegenteil beweisen: So oft nämlich die heiligen Männer, derer ihr euch rühmt, vor Gott traten, um zu ihm zu beten oder mit ihm zu verhandeln, kamen sie in völligem Vergessen ihres freien Willens daher, verzweifelten sie an sich selbst und erbaten für sich nichts als nur die reine Gnade, da sie bei weitem anderes verdient hätten. Das hat Augustinus oft getan, und so hat es Bernhard von Clairvaux gemacht, der kurz vor seinem Tode sagte: »Ich habe meine Zeit vertan [perdidi], denn ich habe verdammenswert [perdite] gelebt.«69 Ich kann nicht erkennen, dass hier eine Fähigkeit geltend gemacht würde, kraft derer man sich der Gnade zuwendet; sondern alle Fähigkeiten werden verdammt, weil sie nur von Gott abgewendet waren. Doch selbst jene Heiligen haben manchmal bei der Disputation über den freien Willen anders geredet. So scheint mir, dass sie allesamt andere sind, wenn sie auf Worte und Disputationen aus sind, als wenn sie es mit den Gesinnungen und Werken zu tun haben: Dort reden sie anders, als sie vorher gesinnt waren, hier werden sie anders gesinnt, als sie vorher geredet haben. Menschen müssen aber mehr nach der Gesinnung beurteilt werden als nach ihren Worten, Fromme ebenso wie Gottlose. Doch lasst uns euch noch mehr zugestehen: Verzichten wir auf Wunderwerke, Geist und Heiligkeit, und kommen auf die Lehre selbst zurück. Das allein begehren wir: Zeigt uns wenigstens, welches Werk, welches Wort, welchen Gedanken jene 69 Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica canticorum (»Predigten über das Hohelied«) 20,1.

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Kraft des freien Willens anstoße, versuche oder wirke, um sich der Gnade zuzuwenden! Denn es genügt nicht zu sagen: »Es gibt die Kraft, es gibt die Kraft, es gibt irgendeine Kraft des freien Willens!« Denn was ist leichter, als das zu sagen? Das gehört sich auch nicht für die gelehrtesten und heiligsten Männer, denen man so viele Jahrhunderte hindurch Beifall gespendet hat; sondern (wie eine deutsche Redewendung lautet) man muss das Kind beim Namen nennen; man muss definieren, was für eine Kraft das ist, was sie bewirkt, was sie hinnimmt, was an ihr geschieht. Dazu beispielsweise, nur sehr grob gesagt, diese Frage: Muss diese Kraft beten, fasten, Werke tun, den Leib kasteien, Almosen geben oder irgendetwas anderes derartiges vollbringen oder versuchen? Denn wenn es eine Kraft ist, dann muss sie mit irgendeinem Werk zu tun haben. Aber hier seid ihr stummer als die Frösche von Serifos70 und als die Fische. Und wie könntet ihr es auch definieren? Seid ihr doch nach eurem eigenen Zeugnis noch unsicher über die Kraft an sich, untereinander uneins, und jeder widerspricht sich selbst! Was sollte wohl aus der Definition werden, wenn gerade das, was zu definieren ist, im Fluss bleibt? Doch angenommen, nach hunderttausend Jahren71 würdet ihr endlich einig, was die Kraft an sich sei, und man könnte daraufhin definieren, welcherart ihr Werk sei, ihr Fasten oder was sonst dergleichen: Wer kann uns Gewissheit geben, dass das wahr ist, dass es Gott gefällt und dass wir mit Sicherheit das Rechte tun? Schließlich gebt ihr selbst zu, dass es eine menschliche Sache sei, von welcher der Geist Gottes nichts bezeugt, da 70 Antiken Legenden zufolge sollen auf Serifos, einer Kykladeninsel in der südlichen Ägäis, die Frösche stumm gewesen sein; man sagte sprichwörtlich: »Stumm wie die Frösche von Serifos.« Indes ist fraglich, ob es dort überhaupt jemals Frösche gab, da die Insel praktisch keinen Lebensraum für sie bietet. Das Sprichwort ist daher wohl ironisch gemeint. 71 Wörtlich: »nach Platonischen Jahren«. Ein Platonisches Jahr ist der Zeitraum, in dem der Frühlingspunkt (der Punkt des Sonnenaufgangs zum Frühlingsanfang auf der Nordhalbkugel) einmal den Tierkreis vollständig durchwandert hat; das sind etwa 25.700 bis 25.800 Jahre.

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Philosophen sie erörterten und sie in der Welt war, ehe Christus kam und der Heilige Geist vom Himmel gesandt wurde. So ist es ganz sicher, dass diese Lehre nicht vom Himmel gesandt wurde, sondern zuvor schon einen irdischen Ursprung gehabt hat. Darum ist ein stärkerer Beweis nötig, um sie als sicher und wahr zu bestätigen. Wenn wir also nur ein paar Eigenbrötler sind [privati et pauci], ihr aber gar viele Geiztliche;72 wir ungelehrt, ihr die Gelehrtesten; wir die Dümmsten, ihr die Begabtesten; wir gestern erst geboren, ihr älter als Deukalion;73 wir niemals angenommen, ihr seit Jahrhunderten anerkannt; schließlich: Wir sind Sünder, fleischlich, träge; ihr seid durch Heiligkeit, Geist und Wunder solche, vor denen selbst den Teufeln bange sein muss – dann gesteht uns doch wenigstens wie den Türken und den Juden das Recht zu, Rechenschaft über eure Lehre zu fordern, wie euer Petrus euch gebietet (1Petr 3,15)! Unsere Forderung aber ist höchst bescheiden; wir verlangen nämlich nicht Heiligkeit, Geist und Wunder zur Bestätigung jener Lehre. Das jedenfalls könnten wir nach eurem Recht tun, weil ihr selbst dies von anderen fordert. Ja, auch darauf wollen wir verzichten, dass ihr irgendein Beispiel für eine Tat, ein Wort oder einen Gedanken aus eurer Lehre darlegen müsst. Sondern lehrt einfach nur, erklärt wenigstens die Lehre an sich: Was wollt ihr darunter verstanden wissen, und wie soll sie aussehen? Wenn ihr es aber nicht wollt oder nicht könnt, so wollen wenigstens wir versuchen, ein Beispiel dafür zu geben. 72 So in Nachempfindung des hier im Lateinischen vorliegenden Wortspiels: Luther verballhornt publici (»öffentliche Amtsträger«, weltliche wie auch kirchliche), wie es eigentlich lauten müsste, zu publicani (»Zöllner«). Dies wohl in Anspielung an die Raffgier des Papsttums; vgl. aber auch Mt 18,17: »… so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner.« Luther weist damit den Vorwurf der Ketzerei an die päpstliche Partei zurück. 73 Deukalion und seine Frau Pyrrha sind die einzigen Überlebenden der nach ihm benannten Deukalionischen Flut (laut der Parischen Chronik 1529/28 v.Chr.). Dieser Mythos vermengt Elemente der biblischen Sintflut mit einer regionalen Überflutung fast ganz Griechenlands. Vgl. zum Beispiel Ovid, Metamorphosen 1,313ff.

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Antwor t auf die Einleitung der Diatribe

Ihr ahmt sogar den Papst und die Seinen nach, die sprechen: »Was wir sagen, das tut; nach unsern Werken aber handelt nicht« (vgl. Mt 23,3). So sagt auch ihr: »Welches Werk diese Kraft auch zu tun verlangt: Wir werden bereit sein! Euch aber lassen wir in Ruhe.« Oder können wir euch nicht wenigstens dies abringen? Je mehr ihr seid, je älter, je größer und je vorzüglicher als wir in jeder Hinsicht, desto schmachvoller ist es für euch, dass ihr uns, die wir – verglichen mit euch – in jeder Weise nichts sind und eure Lehre erfahren und danach handeln wollen, dieselbe nicht beweisen könnt: weder durch ein Wunder (sei es so gering wie das Töten einer Laus), noch durch eine Geistesregung (und sei sie noch so winzig), noch durch irgendein Werk der Heiligkeit, und sei es noch so klein. Ja, ihr könnt nicht einmal irgendeine Tat oder ein Wort als Beispiel vorweisen! Und ferner, was gänzlich unerhört ist: Ihr könnt nicht einmal aufzeigen, wie diese Lehre aussieht oder was sie bedeutet, damit wir es doch wenigstens nachvollziehen könnten. O, was seid ihr nur für feine Lehrer des freien Willens! Was seid ihr schon anderes als leerer Schall? Wer sind nun die, werter Erasmus, die den Geist rühmen und nichts vorweisen können? Die nur reden und wollen, dass man ihnen auf der Stelle glaubt? Sind es nicht die Deinen, die man in den Himmel rühmt? Die ihr nichts sagen könnt und doch mit großen Dingen protzt und sie verlangt! Wir bitten deshalb um Christi willen, lieber Erasmus, dich und die Deinen: Erlaubt uns wenigstens, dass wir vor Furcht erbeben, weil die Gefahr unser Gewissen schreckt, oder zumindest, dass wir es verschieben dürfen, diesem Dogma zuzustimmen. Du siehst ja selbst, dass es nichts ist als leere Worte und Theaterdonner, nämlich: »Es gibt die Kraft des freien Willens; es gibt die Kraft des freien Willens; es gibt die Kraft des freien Willens!« – als hättet ihr die höchste Höhe eingenommen und eure ganze Sache wäre felsenfest bewiesen. Ferner ist es auch unter den Deinen selbst unsicher, ob es so etwas überhaupt gibt oder nicht, sind sie doch untereinander 83


Vom unfreien Willen · Kapitel 3

uneins und widersprechen sich selbst. Es ist höchst unrecht, ja überaus jämmerlich, dass das Trugbild eines Wörtchens – dessen Bedeutung zudem noch ungewiss ist – unser Gewissen quälen soll, da Christus uns doch durch sein Blut erkauft hat! Wenn wir hingegen uns nicht quälen lassen wollen, beschuldigt man uns eines unerhörten Hochmuts, weil wir so viele Väter aus so vielen Jahrhunderten verachten, die den freien Willen verteidigt haben [asseruerint]. Und unter diesem Vorwand und im Namen dieser Väter wird das Dogma vom freien Willen aufgerichtet, von dem sie noch nicht einmal erklären können, wie genau er aussieht und was das Wort bedeutet. Und mit dieser verlogenen Vokabel foppen sie die ganze Welt. Und hier, Erasmus, berufen wir uns auf deinen eignen Rat, den du zuvor gegeben hast: Man solle sich solcher Fragen enthalten und vielmehr Christus, den Gekreuzigten, lehren und das, was dem christlichen Glauben dient. Danach nämlich streben wir schon längst und handeln entsprechend. Denn was begehren wir anderes, als dass die christliche Lehre in ihrer Schlichtheit und Reinheit regiere und dass man alles fahren lasse und verachte, was Menschen daneben erfunden und eingeführt haben? Du aber, der du uns solches rätst, tust es selber nicht, sondern das Gegenteil: Du schreibst Diatriben, feierst die Dekrete der Päpste, rühmst das Ansehen von Menschen und versuchst alles, um uns Dinge aufzuzwingen, die der Heiligen Schrift fern und fremd sowie nicht zwingend sind, damit wir die Einfachheit und Lauterkeit der christlichen Frömmigkeit mit menschlichen Zusätzen verderben und vermengen sollen. Daraus erkennen wir, dass du uns dies nicht von Herzen geraten und auch nicht ernsthaft geschrieben hast; sondern du verlässt dich darauf, dass du mit deinen leeren Wortblasen [bullis74 verborum] die ganze Welt leiten könntest, wohin du willst – und doch führst du sie nirgends hin, 74 Im Lateinischen mehrdeutig: bulla kann »Blase« oder »Wasserblase« bedeuten, aber auch »Siegel«, »Urkunde« (hier womöglich eine Anspielung auf die päpstlichen Bullen).

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Antwor t auf die Einleitung der Diatribe

weil du rein gar nichts sagst als nur Widersprüche überall in allen Dingen. So hat derjenige nur recht geredet, der dich höchstselbst Vertumnus75 oder Proteus nannte, oder wie Christus spricht (Lk 4,23): »Arzt, hilf dir selbst!« Oder wie Cato sagt: »Schimpflich ist es für den Lehrer, selber zu tun, was er als Schande tadelt.«76 Deshalb: Bis ihr bewiesen habt, was ihr behauptet, bestehen wir darauf, es abzulehnen – und wenn uns auch »der ganze Chor der Heiligen« [wie die Diatribe sagt] verdammt, mit dem du protzt, oder besser: selbst, wenn uns auch die ganze Welt verdammt! Wir sind so dreist und rühmen uns, nicht annehmen zu müssen, was weder ist noch sicher zu beweisen ist. Und dazu seid ihr alle so vermessen oder gar verrückt, von uns zu fordern, genau das anzunehmen, von dem ihr selbst bekennt, dass es nicht sei – aus keinem anderen Grund, als dass ihr Viele seid, Große, Alte, und weil es euch gefällt, das zu behaupten! Als ob christliche Lehrer würdig wären, das arme Volk in Glaubensdingen zu betrügen mit etwas, das nicht ist, und zu behaupten, es wäre für das Seelenheil von bedeutendem Gewicht! Wo ist nun jener Scharfsinn, mit dem die Griechen so begabt sind? Bislang erfand er ja zumindest Lügen von halbwegs schönem Anschein; hier aber lügt er offen, unverhüllt. Wo ist der Lateiner Fleiß, der dem der Griechen gleichkommt, der so mit hohlsten Worten77 spielt und sich dadurch betrügen lässt?78 Doch so ergeht es Bücherlesern, die achtlos oder boshaft sind, wenn sie all das, worin die Väter und die Heiligen irrten, derart erheben, als ob es von höchster Autorität wäre. Darum trifft die Schuld nicht die Verfasser, sondern vielmehr die Leser. Das ist, als wollte jemand sich auf die Heiligkeit und Autorität des heili 75 Römischer, ursprünglich etruskischer Gott; wie der griechische Proteus ein Gestaltwandler (Ovid, Metamorphosen XIV,622-697). 76 Cato, Disticha I,30. 77 Wörtl.: »mit einer überaus hohlen Vokabel« (das heißt, mit dem völlig unklaren Begriff »freier Wille«). 78 Auf Lateinisch ein Wortspiel: »ludit et luditur«. Ludere kann »spielen« bedeuten, aber auch »betrügen«.

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gen Petrus stützen und behaupten: »Alles, was der heilige Petrus jemals gesagt hat, ist richtig« – sodass er uns überreden wollte, auch das sei richtig, was Petrus aus der Schwachheit seines Fleisches Christus riet: er solle ja nicht leiden (Mt 16,22). Oder das, wo er zu Christus sagt, er solle aus dem Boot von ihm weggehen (Lk 5,8), und vieles andere, wofür Christus selbst ihn tadelt. Ähnlich handeln jene, die um des Lacherfolges willen schwatzen, nicht alles sei wahr, was im Evangelium steht. Sie greifen jene Stelle aus Johannes 8,48 heraus, wo die Juden zu Christus sprechen: »Sagen wir nicht mit Recht, dass du ein Samariter bist und einen bösen Geist hast?« Oder die Stelle: »Er ist des Todes schuldig« (Mt 26,66). Oder dies: »Wir haben festgestellt, dass dieser Mensch unser Volk aufwiegelt und es davon abhalten will, dem Kaiser Steuern zu entrichten« (Lk 23,2). Ebenso handeln die, die fest behaupten, dass es einen freien Willen gibt; freilich in anderer Absicht und nicht willentlich wie jene, sondern aus Blindheit und Unwissen. Aus den Vätern greifen sie das heraus, was dieselben aus der Schwachheit des Fleisches zugunsten des freien Willens gesagt haben – und zwar derart, dass sie es sogar dem entgegenstellen, was dieselben Väter anderswo in der Kraft des Geistes gegen den freien Willen sagten. Dann prügeln sie alsbald so sehr darauf ein, dass das Bessere dem Schlechteren weichen muss. So kommt es, dass sie den schlechteren Aussprüchen Autorität beimessen, weil sie ihrer fleischlichen Gesinnung entgegenkommen, und den besseren Aussprüchen dieselbe Autorität nehmen, weil sie ihrer fleischlichen Gesinnung entgegenstehen. Warum erwählen wir nicht vielmehr die besseren Aussprüche? Davon gibt es nämlich viele bei den Vätern. Um nur ein Beispiel dafür zu geben: Was ist fleischlicher, ja, was kann man gottloser, verruchter und lästerlicher nennen als das, was Hieronymus zu sagen pflegt: »Der Jungfrauenstand füllt den Himmel, der Ehestand die Erde«?79 Als ob den Patriarchen, den Aposteln und den verheirateten Christen nur die Erde gebühre, nicht aber 79 Hieronymus, Epistulae 22,19.

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der Himmel? Oder den heidnischen Vestalischen Jungfrauen80 ohne Christus der Himmel? Und dennoch greifen die Sophisten diese und ähnliche Sachen aus den Vätern heraus, weil sie lieber mit Massen von Zitaten streiten statt mit gesunder Urteilsfindung. So wollen sie jenen Dingen Autorität verschaffen, wie es auch der fade Faber aus Konstanz getan hat.81 Er hat jüngst dem Publikum eine »Perle« zum Geschenk gemacht, wie er sein Buch nennt; in Wahrheit aber ist es ein Augiasstall, damit es etwas gebe, das bei den Frommen und Gebildeten zu Ekel und Erbrechen führt. 2.) D ie wahre Kirche ist den Menschen verborgen und irrt nicht (649-652) Das soll meine Antwort darauf sein, wo du sagst, es sei unglaublich, dass Gott über so viele Jahrhunderte zugelassen habe, dass seine Kirche im Irrtum sei, und keinem einzigen seiner Heiligen das offenbart habe, wovon wir behaupten, es sei das Hauptstück der evangelischen Lehre. Zuerst einmal sagen wir nicht, Gott hätte diesen Irrtum in seiner Kirche oder bei irgendeinem seiner Heiligen zugelassen; denn die Kirche wird durch Gottes Geist regiert, die Heiligen von Gottes Geist getrieben (Röm 8,14), und Christus bleibt bis ans Ende der Welt bei seiner Kirche (Mt 28,20). Auch ist die Kirche Gottes »der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit« (1Tim 3,15). Das, 80 Priesterinnen der römischen Göttin Vesta, die sexuell enthaltsam leben mussten. 81 Johannes Faber (1478 – 1541), eigentl. Heigerlin, seinerzeit Generalvikar von Konstanz, ab 1530 Bischof von Wien. Gemeint ist sein Buch Opus adversus nova quaedam et a Christiana religione prorsus aliena dogmata Martini Lutheri (»Gegen die neuen und dem christlichen Glauben völlig fremden Lehren Martin Luthers«; Rom 1522; Leipzig 1523). Faber ist nicht zu verwechseln mit Johannes Fabri (1504 – 1558) aus Heilbronn, einem Dominikaner und Verfasser zahlreicher antireformatorischer Streitschriften.

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sage ich, wissen wir. Denn so steht es auch in dem uns allen gemeinsamen Glaubensbekenntnis: »Ich glaube, dass es eine heilige, allgemeine Kirche gibt.« So ist es unmöglich, dass sie auch nur im geringsten Artikel irre. Wenn wir auch zugeben, dass einige Auserwählte ihr ganzes Leben lang in einem Irrtum gefangen waren, so ist es doch nötig, dass sie vor ihrem Tode auf den rechten Weg zurückkehrten; denn Christus sagt: »Niemand wird sie aus meiner Hand reißen« (Joh 10,28). »Hier aber ist Müh’ und Arbeit nötig«,82 um sicher festzustellen, ob die, welche du »Kirche« nennst, auch Kirche sind, oder besser: ob die, die sich ihr ganzes Leben irrten, zuletzt vor ihrem Tode wieder zurechtgebracht wurden. Denn das folgt noch lange nicht daraus, dass Gott seine Kirche irren ließ, wenn er alle, die du anführst, die gelehrtesten Männer, über so viele Jahrhunderte irren ließ. Siehe doch das Volk Gottes, Israel: Dort wird unter so vielen Königen so lange Zeit kein einziger genannt, der nicht geirrt hätte. Zur Zeit Elias, des Propheten, war alles und war jedermann, so weit das Auge reichte, so schlimm dem Götzendienst verfallen, dass er glaubte, er alleine sei noch übrig (1Kö 18,22; 19,14). Als indessen Könige, Fürsten, Priester, Propheten und alles, was man Volk oder Kirche Gottes nennen kann, in ihr Verderben liefen, hatte Gott sich Siebentausend übrig gelassen (1Kö 19,18). Wer konnte sehen oder wissen, dass diese Gottes Volk waren? Wer sollte daher auch jetzt zu leugnen wagen, dass Gott unter jenen vornehmen Männern (denn du zählst nur solche auf, die in öffentlichen Ämtern standen und berühmte Namen hatten) sich seine Kirche im einfachen Volk erhalten habe und alle jene nach dem Vorbild des Königreichs Israels dem Verderben preisgab? Es ist nun einmal Gottes Eigenart, sich den Besten in Israel entgegenzustellen und ihre Fetten zu töten (Ps 78,31), den Abschaum aber und den Überrest zu retten, wie Jesaja sagt (10,22). Was geschah unter Christus selbst, als alle Apostel an ihm Anstoß nahmen (Mt 26,56) und er danach vom ganzen Volk ver 82 Vergil, Aeneis 6,129.

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leugnet und verdammt wurde? Als kaum der eine oder andere übrig blieb – Nikodemus und Josef von Arimathäa, zuletzt der Räuber am Kreuz? Aber wurden denn etwa diese damals »Gottes Volk« genannt? Allerdings waren sie der Überrest des Volkes Gottes, aber sie wurden nicht so genannt; die, die so genannt wurden, waren es nicht. Wer weiß, ob nicht im ganzen Lauf der Welt von Anfang an dies der Zustand der Kirche Gottes war: Einige wurden Gottes Volk und Heilige Gottes genannt, die es nicht waren; andere aber, gleichsam als Überrest,83 wurden weder Volk noch Heilige genannt. Zeigt das nicht die Geschichte von Kain und Abel, Ismael und Isaak, Esau und Jakob? Betrachte die Epoche der Arianer, als auf der ganzen Welt kaum fünf rechtgläubige84 Bischöfe erhalten blieben, die dazu von ihrem Bischofssitz vertrieben wurden, weil die Arianer überall im Namen des Staates und in den kirchlichen Ämtern herrschten. Nichtsdestoweniger bewahrte Christus seine Kirche unter diesen Irrlehrern, aber so, dass man sie kaum als Kirche geachtet und gehalten hätte. Zeige mir nur einen Bischof, der unter der Herrschaft des Papstes sein Amt recht ausgeübt hat; zeige mir nur ein Konzil, bei dem man über Glaubensfragen verhandelt hat statt über Pallien,85 Ämter, Pfründe und anderen profanen Tand! Solches dem Heiligen Geist zuschreiben könnte nur ein Wahnsinniger. Und trotz alledem nennt man sie »Kirche«, obwohl alle, die so lebten, verworfen und alles andere als Kirche sind. Dennoch hat Gott unter ihrer Herrschaft seine Kirche erhalten – doch so, dass man 83 Oder: als Abschaum/Kehricht/Kot. Das von Luther verwendete reliquiae ist mehrdeutig und kann sowohl Menschen bezeichnen (den Überrest aus einer größeren Menschenmenge) als auch Sachen wie Trümmer, Asche (auch von Toten), Gebeine, Exkremente u. dergl. 84 Griechisch-lateinisch catholici; nicht im konfessionellen Sinn, sondern im ursprünglichen Sinn des Wortes »allgemein«, das heißt, allen wahren Christen gemeinsam. 85 Abzeichen des Bischofsamtes, für dessen Verleihung der Papst vom Amtsanwärter einen immensen Preis verlangte.

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sie nicht Kirche nannte. Wie viele Heilige, meinst du, haben allein die Inquisitoren oder Ketzerjäger86 in wenigen Jahrhunderten verbrannt und anderweitig umgebracht,87 wie zum Beispiel Jan Hus und seinesgleichen, zu deren Zeit zweifellos zahlreiche heilige Männer derselben Gesinnung lebten? Warum, Erasmus, wunderst du dich nicht vielmehr darüber, dass von Anbeginn der Welt schon immer unter den Heiden höher Begabte waren, größere Gelehrsamkeit und eifrigere Wissenschaft als unter den Christen oder Gottes Leuten? So bekennt Christus selbst: »Die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder des Lichts« (Lk 16,8). Wer unter den Christen ist nur allein mit Cicero an Begabung, Bildung und Sorgfalt zu vergleichen, von den Griechen ganz zu schweigen? Was also, sollen wir sagen, hat sie nur gehindert, sodass kein einziger von ihnen zur Gnade durchdringen konnte, da sie doch sicherlich den freien Willen aus allen Kräften ausübten? Wer aber könnte wagen zu behaupten, dass keiner unter ihnen gewesen wäre, der mit höchstem Bemühen nach der Wahrheit gestrebt hätte? Und doch muss man festhalten [asseri], dass keiner sie erlangt hat. Oder willst du auch hier sagen, es sei unglaublich, dass Gott so viele und so große Männer im ganzen Lauf der Weltgeschichte verlassen und zugelassen haben sollte, dass sie sich vergeblich mühten? Sicherlich: Wenn der freie Wille etwas wäre oder bewirken könnte, dann hätte er in diesen Männern sein und etwas bewirken sollen, sei es auch nur in einem einzigen Beispiel! Aber er hat nichts vermocht, ja, vielmehr immer nur das Gegenteil bewirkt. So kann man schon aus diesem einzigen Grund beweisen, dass es den freien Willen nicht gibt, weil von Anbeginn der Welt bis zu ihrem Ende kein einziger Beweis dafür erbracht werden kann. 86 Wörtl.: inquisitores haereticae pravitatis, »Untersuchungsrichter häretischer Verderbtheit« (so der offizielle Titel). 87 Oder: »verbrannt und davor gefoltert«. – Die Inquisition wurde durch das dritte und vierte Laterankonzil 1179 und 1215 institutionalisiert.

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Doch zurück zur Sache. Was wundert es, dass Gott alle großen Kirchenmänner ihre eigenen Wege gehen lässt, da er ebenso auch alle Heiden ihren eigenen Wege gehen ließ, wie Paulus in der Apostelgeschichte sagt (14,16)? Denn die »Kirche Gottes«, lieber Erasmus, ist nicht so massenhaft verbreitet wie jene Bezeichnung, noch begegnet man überall den Heiligen Gottes wie dieser Bezeichnung. Sie sind Perlen und kostbare Juwelen (Offb 21,19ff), die der Heilige Geist nicht vor die Säue wirft (Mt 7,6); sondern er hält sie verborgen, wie die Schrift sagt (Mt 11,25), damit der Gottlose nicht die Herrlichkeit Gottes sehe. Wie könnte es sonst sein, wenn sie von allen offen erkannt würden, dass sie derart in der Welt bedrängt und zertreten werden? Wie Paulus sagt: »Denn wenn sie sie erkannt hätten, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt« (1Kor 2,8). Das sage ich nicht, weil ich bestreiten wollte, dass die, die du aufzählst, Heilige oder Kirche Gottes seien, sondern weil das nicht beweisbar ist, wenn jemand bestreitet, dass sie Heilige sind. Das bleibt vielmehr ganz ungewiss. Darum ist ihre Heiligkeit kein Punkt, der sicher genug wäre, um daran ein Dogma festzumachen. Ich sage, sie sind Heilige, und halte sie dafür; ich nenne sie Kirche Gottes und meine, dass sie es sind – nach der Regel der Liebe, nicht nach der Richtschnur des Glaubens. Das heißt: nach der Liebe, die von jedem nur das Beste denkt, die nicht argwöhnisch ist, die alles glaubt und vom Nächsten nur Gutes voraussetzt. Sie nennt jeden Getauften einen Heiligen, und Gefahr besteht nicht, wenn sie irrt. Denn es ist das Wesen der Liebe, dass sie betrogen wird, weil sie dem rechten Gebrauch wie dem Missbrauch aller ausgesetzt ist. Sie dient allen – Guten wie Bösen, Gläubigen wie Ungläubigen, Wahrhaftigen wie Betrügern. Der Glaube aber nennt niemand einen Heiligen, den Gottes Urteil nicht dazu erklärt; denn es ist das Wesen des Glaubens, dass er sich nicht betrügen lässt. Darum: Wenn wir auch nach dem Gesetz der Liebe uns alle einander für Heilige halten sollen, so darf doch nach dem Gesetz 91


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des Glaubens keiner für einen Heiligen gehalten werden – als ob es ein Glaubensartikel wäre, dass dieser oder jener heilig sei. Auf diese Weise kanonisiert der Papst die Seinen, die er gar nicht kennt, zu Heiligen – jener Widersacher Gottes, der sich an Gottes Stelle setzt (2Thes 2,4). Nur dies sage ich über deine (oder vielmehr unsere) Heiligen: Da sie einander widersprechen, hätte man besser denen folgen sollen, die das Beste geredet haben – das heißt, gegen den freien Willen und für die Gnade. Diejenigen aber, die nach der Schwachheit ihres Fleisches mehr das Fleisch als den Geist bezeugt haben, muss man ignorieren. Ebenso muss man bei denen, die in ihrer Meinung schwanken, eine Auswahl treffen und den Teil annehmen, wo sie aus dem Geist reden, das aber verwerfen, wo sie das Fleisch erweisen. Das steht einem christlichen Leser gut an wie auch einem reinen Tier, das gespaltene Hufe hat und wiederkäut (3Mo 11,3). Nun aber schieben wir ein Urteil auf und verschlingen alles durcheinander, oder, was noch schlimmer ist, urteilen wir ganz verkehrt und verwerfen in den Schriften ein und desselben Verfassers das Bessere, heißen hingegen das Minderwertige gut. Dann versehen wir noch eben dieses Minderwertige mit einer Bezeichnung und einem Ansehen der Heiligkeit, die es doch allein wegen des Besten und des Geistes verdient hätte, nicht aber wegen des freien Willens oder wegen des Fleisches. 3.) Alle Lehren müssen an der Schrift geprüft und beurteilt werden (652-653) Was also sollen wir tun? Verborgen ist die Kirche, versteckt die Heiligen. Was und wem sollen wir glauben? Oder, wie du höchst geschickt argumentierst: Wer schafft uns Gewissheit? [Die Diatribe sagt:] »Woran sollen wir die Geister prüfen? An der Gelehrsamkeit? Auf beiden Seiten sind Rabbiner.88 Am Lebenswandel? 88 Das heißt Kenner der Heiligen Schrift.

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Auf beiden Seiten stehen Sünder.« Geht es um die Schrift: »Sie wird von beiden Seiten geliebt.« Nicht so sehr um die Schrift selbst, weil sie ja angeblich nicht klar genug sein soll, »sondern um den Sinn der Schrift« wird gestritten. Auf beiden Seiten aber stehen »nur Menschen«; und wenn weder ihre große Zahl, noch ihre Gelehrsamkeit, noch ihre Würde irgend etwas zur Sache beiträgt, dann noch viel weniger ihre geringe Zahl, Unwissenheit und Niedrigkeit. Die Sache bleibt also zweifelhaft und »der Prozess ohne Richterspruch«,89 sodass wir scheinbar klug handeln, wenn wir uns der Meinung der Skeptiker anschließen – nur dass du in alledem am klügsten vorgehst, der du behauptest, so zu zweifeln, und beschwörst, die Wahrheit zu suchen und zu erforschen; und bis die Wahrheit ans Licht komme, würdest du der Seite zuneigen, die den freien Willen vertritt. Dem entgegne ich: Du redest viel und sagst doch nichts. Denn weder Gelehrsamkeit, Lebenswandel, Begabung, große Zahl oder Würde, noch Unwissenheit, mangelnde Bildung, geringe Zahl oder Niedrigkeit sind ein Argument, um die Geister prüfen zu können. Auch kann ich die nicht loben, die ihre Zuflucht darin suchen, dass sie sich des Geistes rühmen. Der Kampf, den ich in jenem Jahr gegen diese Fanatiker führen musste und auch jetzt noch führen muss,90 stößt mir nämlich sauer genug auf. Wie die Schrift auszulegen sei, das ordnen sie ihrem Geist unter. Aus diesem Grund habe ich bisher auch den Papst scharf angegriffen, in dessen Reich nichts verbreiteter und anerkannter ist, als dass die Schrift dunkel und mehrdeutig sei; man müsse daher als Ausleger den Geist vom Apostolischen Stuhl zu Rom erbitten. Hingegen kann man nichts anderes sagen, was verderblicher wäre. Denn dadurch haben sich gottlose Menschen über die Schrift 89 Horaz, De arte poetica 78. 90 Eine Anspielung auf Luthers Auseinandersetzung mit den sog. »Zwickauer Propheten« (1522) und anderen Schwärmern sowie auf seine Schrift Wider die himmlischen Propheten (1525).

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erhoben und aus ihr gemacht, was sie wollten – bis schließlich die Schrift völlig zertreten wurde und wir nichts anderes geglaubt und gelehrt haben als die Wahngebilde Rasender. Kurz gesagt: Dieser Ausspruch ist keine menschliche Erfindung, sondern ein Gift, das durch die unglaubliche Bosheit des Fürsten aller Teufel in die Welt gesandt wurde. Wir sagen es so: Die Geister sind an zwei Maßstäben zu untersuchen oder zu prüfen. Der eine ist ein innerlicher, durch den jemand durch den Heiligen Geist, das heißt, durch Gottes besondere Gabe, für sich und allein zu seiner Errettung erleuchtet wird. So kann er alle Lehren und Meinungen völlig sicher beurteilen und unterscheiden, wie 1. Korinther 2,15 sagt: »Der geistliche Mensch dagegen beurteilt zwar alles, er selbst jedoch wird von niemand beurteilt.« Das gehört zum Glauben dazu und ist auch für einen jeden Christen notwendig – auch für den, der kein Amt innehat. Dies haben wir oben die »innere Klarheit der Heiligen Schrift« genannt. Das haben vielleicht die gemeint, die dir entgegnet haben, alles sei nach dem Urteil des Geistes zu entscheiden. Aber dieses Urteil nützt keinem anderen, und es ist in dieser Sache auch nicht die Frage. Ich glaube auch, dass niemand bezweifelt, dass es sich so verhält. Darum gibt es einen anderen, äußerlichen Maßstab, anhand dessen wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere und um des Heils anderer willen mit völliger Sicherheit die Geister und Lehren aller prüfen können. Dieser Maßstab ist Sache des öffentlichen Dienstes am Worte und des äußeren Amtes, insbesondere der Leiter der Gemeinde und der Prediger des Wortes. Diesen Maßstab wenden wir an, wenn wir die Schwachen im Glauben stärken und die Widersacher widerlegen (Tit 1,9). Dies haben wir oben die »äußere Klarheit der Heiligen Schrift« genannt. So sagen wir: Die Schrift muss der Maßstab sein, damit an ihr alle Geister vor der versammelten Gemeinde geprüft werden (1Thess 5,21). Denn das muss unter Christen völlig ausgemacht und ehernes Gesetz sein, dass die Heilige Schrift ein geistliches Licht ist (2Petr 1,19), das weit heller als die Sonne selbst strahlt, 94


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besonders in den Dingen, die das Heil betreffen, das heißt, die man zwingend wissen muss. 4.) D ie Lehre der Schrift ist klar und eindeutig (653-658) Da wir aber – durch jene Pestilenz sophistischer Rede – schon längst vom Gegenteil überzeugt sind, dass die Schrift dunkel und mehrdeutig sei, sind wir gezwungen, zuerst eben diesen unseren Hauptgrundsatz zu beweisen, von dem sich alles andere ableitet. (Philosophen freilich erschiene dies absurd oder unmöglich.) Zuerst sagt Mose im fünften Buch (17,8-11): In einem schwierigen Fall solle man zu der Stätte gehen, die der Herr für seinen Namen erwählen würde, und dort die Priester um Rat fragen.91 Diese sollten dann nach dem Gesetz92 des Herrn den Fall entscheiden. Er sagt: »Nach dem Gesetz des Herrn.« Wie aber könnten sie urteilen, wenn nicht das Gesetz des Herrn äußerlich völlig klar wäre? Wie sollten die Prozessparteien dadurch befriedigt werden? Sonst hätte es ja genügt zu sagen, sie sollten nach ihrem Gutdünken urteilen. So geht es auch bei den Regierungen aller Völker zu, dass alle Streitfälle aller Leute durch Gesetze beigelegt werden. Wie aber könnten sie beigelegt werden, wenn die Gesetze nicht völlig klar wären und an sich ein helles Licht für das Volk? Denn wenn Gesetze mehrdeutig und unverständlich sind, könnten dadurch nicht nur Streitsachen nicht geregelt werden; auch könnten die Sitten keinen festen Bestand haben. Denn Gesetze werden deshalb gegeben, damit die Sitten nach festen Vorgaben geregelt und Streitfälle entschieden würden. Darum muss das, was Maß und 91 Das heißt, zum Standort der Stiftshütte bzw. später des Tempels. Dort im Heiligtum wurde das Gesetz aufbewahrt. 92 Im Original durch Großschreibung hervorgehoben.

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Regel für andere Dinge ist, im höchsten Maße gewiss und klar sein; derart ist das Gesetz. Wenn es nun schon nötig ist, dass Gesetze in profanen, weltlichen Dingen klar und gewiss sind; wenn Gott dies der ganzen Welt als Gnadengabe geschenkt hat; und wenn er will, dass die Seinen die zeitlichen Dinge gering achten: Wie viel mehr sollte er dann nicht seinen Christen, nämlich den Auserwählten, Gesetze und Regeln von weit größerer Klarheit und Gewissheit geben, nach denen sie sich selbst und alle Dinge beurteilen und alles schlichten können? Denn wenn Gott schon das Gras so kleidet, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, wie viel mehr uns (Mt 6,30)? – Doch wollen wir fortfahren und jene Pestilenz sophistischer Rede anhand der Schrift zugrunde richten. Psalm 19,9 sagt: »Die Imperative des Herrn sind richtig und erfreuen das Herz; die Gebote des Herrn sind lauter und erleuchten die Augen.« Ich glaube, was die Augen erleuchtet, ist weder dunkel noch mehrdeutig. Ebenso Psalm 119,130: »Die Eröffnung deiner Worte erleuchtet und gibt den Unverständigen Einsicht.« Hier heißt es von den Worten Gottes, dass sie etwas Offenbartes oder Offenbares seien, das allen dargelegt werde und selbst die Geringsten erleuchte. Jesaja verweist in allen Fragen auf »das Gesetz und Zeugnis« (Jes 8,20); und wo wir dem nicht folgen wollen, droht er uns, dass wir das Licht der Morgenröte nicht sehen werden. Maleachi befiehlt, »dass man aus dem Mund des Priesters Weisung suche; denn er ist ein Bote des Herrn Zebaoth« (Mal 2,7). Das wäre freilich ein feiner Bote des Herrn, der vorbrächte, was nicht nur ihm selber unklar wäre, sondern auch dem Volk unverständlich – sodass er selber nicht versteht, was er da redet, und auch die nicht, die es hören. Und was wird im ganzen Alten Testament, besonders in Psalm 119, häufiger zum Lob der Schrift gesagt, als dass sie das sicherste und offenkundigste Licht ist? Denn so preist der Psalmist ihre Klarheit: »Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg« (Ps 119,105). Er sagt nicht: »Dein Geist allein ist 96


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meines Fußes Leuchte«, obgleich er auch diesem seine Aufgabe zuschreibt: »Dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn« (Ps 143,10). So wird die Schrift auch »Weg« und »Pfad« genannt, natürlich wegen ihrer übermäßigen Zuverlässigkeit. Kommen wir zum Neuen Testament. Paulus sagt in Römer 1, das Evangelium sei »zuvor verheißen … durch seine Propheten in der Heiligen Schrift« (V. 2), ebenso in Römer 3,21: die Gerechtigkeit aus Glauben wird »offenbart und bezeugt durch das Gesetz und die Propheten«. Was aber wäre das wohl für ein Zeugnis, wenn es dunkel wäre? Ja, in allen seinen Briefen nennt er das Evangelium das Wort des Lichts, das Evangelium der Klarheit; dann aber insbesondere und mit reichen Worten in 2. Korinther 3 und 4, wo er die Klarheit93 Moses und Christi wunderbar erörtert (2Kor 3,7 – 4,6). Auch Petrus sagt: »So halten wir umso mehr an dem prophetischen Wort fest, und ihr tut gut daran, darauf als eine Lampe zu achten, die an einem dunklen Ort scheint, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen« (2Petr 1,19). Hier nennt Petrus das Wort Gottes eine helle Leuchte, alles andere aber Finsternis. Und wir sollten aus dem Wort Dunkelheit und Finsternis machen? Christus selbst nennt sich so oft »das Licht der Welt«,94 Johannes den Täufer »ein brennendes und scheinendes Licht« (Joh 5,35) – zweifellos nicht wegen dessen heiligen Lebenswandels, sondern um des Wortes willen. Ebenso nennt Paulus die Philipper »Lichter in der Welt, weil ihr«, spricht er, »festhaltet am Wort des Lebens« (Phil 2,15f); denn ohne das Wort ist das Leben unsicher und dunkel. Und was tun die Apostel, wenn sie ihre Predigten anhand der Schrift beweisen? Verdunkeln sie etwa das, was uns schon fins 93 Neuere deutsche Bibelausgaben wie auch die revidierte Lutherbibel von 1984 übersetzen »Herrlichkeit« statt »Klarheit«. Luther argumentiert anhand der vielfältigen Bedeutung des lateinischen bzw. griechischen Begriffs hierfür. 94 Joh 8,12; 9,5; 11,9; 12,46; vgl. auch Joh 1,10; 3,19ff.

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ter ist, durch ihre noch viel größere Finsternis? Oder wollen sie Bekanntes durch Unbekanntes beweisen? Was tut denn Christus in Johannes 5, wo er die Juden lehrt: »Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab« (V. 39)? Tut er das etwa, um sie über den Glauben an ihn unsicher zu machen? Was tun denn die, die Paulus hörten? Sie »forschten täglich in der Schrift, ob es sich so verhielte« (Apg 17,11). Beweist das alles nicht, dass die Apostel wie auch Christus sich auf die Schrift berufen, dass sie der klarste Beweis für ihre Predigten ist? Wie also können wir uns nur erdreisten, die Schrift für dunkel zu erklären? Ich bitte dich: Sind denn auch diese Bibelworte dunkel oder doppeldeutig? »Gott schuf Himmel und Erde« (1Mo 1,1); »das Wort wurde Fleisch« (Joh 1,14), sowie alles, was die ganze Welt als Glaubensartikel angenommen hat? Woher hat sie es angenommen? Nicht aus der Schrift? Und was tun die, die heute noch predigen? Legen sie nicht die Schrift aus und erklären sie diese? Wenn aber die Schrift, die sie erklären, dunkel ist, wer könnte uns Gewissheit geben, dass gerade ihre Erklärung zuverlässig ist? Etwa eine andere, neue Erklärung? Wer wird dann die erklären? Und so würde es unendlich weitergehen. Kurz: Wenn die Schrift dunkel oder zweideutig wäre, aus welchem Grunde hätte Gott sie uns gegeben? Sind wir noch nicht finster oder zweifelhaft genug, dass uns vom Himmel her die Dunkelheit, die Unklarheit und Finsternis noch vermehrt werden müsste? Was ist dann mit dem Vers des Apostels: »Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit« (2Tim 3,16)? Vielmehr ist sie völlig unnütz, lieber Paulus; was du der Schrift zuschreibst, das muss man bei den Vätern suchen, die seit einer so langen Reihe von Jahrhunderten anerkannt sind, und beim Stuhl zu Rom! Darum musst du deine Worte widerrufen, die du an Titus schreibst: Ein Aufseher solle »fähig sein, durch die heilsame Lehre zu ermahnen und die Widersprechenden zurechtzuweisen« und den »frechen und unnützen Schwätzern und Verführern … 98


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das Maul zu stopfen« (Tit 1,9-11). Wie kann er dazu fähig sein, wenn du ihm nur eine dunkle Schrift lässt, das heißt, Waffen aus Werg95 und einen Strohhalm als Schwert? Dann müsste auch Christus seinen Ausspruch widerrufen, durch den er uns fälschlich verheißt: »Ich will euch Rede und Weisheit geben, der alle eure Widersacher nicht widerstehen können« (Lk 21,15). – Wie sollen sie uns nicht widerstehen können, wenn wir mit dunklen und unsicheren Argumenten gegen sie streiten? Und wie kannst auch du, Erasmus, eine bestimmte Form des Christentums vorschreiben, wenn dir die Schrift dunkel ist? Doch ich denke, dass derweil selbst Dummköpfen es lästig wird, wenn ich in einer derart klaren Sache so lange verweile und so viele Worte mache. Doch es war nötig, jene unverschämte und gotteslästerliche Rede so gründlich zugrunde zu richten, damit auch du erkennst, lieber Erasmus, was du sagst, wenn du die Klarheit der Schrift leugnest. Denn damit musst du zwingend auch mir beipflichten [asseras], dass alle deine Heiligen, die du anführst, noch viel unklarer sind. Wer nämlich kann uns zusichern, dass diese klar sind, wenn du die Schrift verdunkelt hast? Darum lässt uns jeder in nichts als tiefster Finsternis zurück, wer leugnet, dass die Schrift im höchsten Maße klar und deutlich ist. Doch dem wirst du entgegnen: »All das betrifft mich nicht; ich sage nicht, die Schrift sei überall dunkel (denn wer sollte so verrückt sein?), sondern nur an dieser Stelle und ähnlichen.« Darauf antworte ich: Ich rede auch nicht gegen dich allein, sondern gegen alle, die so denken. Ferner entgegne ich dir: Ich kann nicht zulassen, dass auch nur ein einziger Teil der ganzen Schrift dunkel genannt wird; denn das widerspricht dem, was wir oben aus dem zweiten Petrusbrief zitierten, dass das Wort Gottes »eine Lampe ist, die an einem dunklen Ort scheint« (2Petr 1,19). Wenn nun ein Teil dieser Lampe nicht leuchtet, wird er vielmehr ein Teil jenes dunklen Ortes sein statt jener Lampe. Denn Chris 95 Minderwertiges Nebenprodukt bei der Herstellung von Bastfasern.

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tus hat uns nicht derart erleuchtet, dass uns nach seinem Willen auch nur ein Teil von seinem Worte dunkel bliebe; gebietet er uns doch, darauf zu achten (Joh 5,39). Das zu gebieten aber wäre vergeblich, wenn das Wort nicht klar wäre. Wenn also das Dogma vom freien Willen dunkel oder unsicher ist, dann ist es für Christen und die Schrift nicht von Belang, sondern ganz aufzugeben und zu nichts anderem zu zählen als zu den Fabeln, von denen Paulus es verdammt, dass Christen sich darüber zanken (1Tim 4,7; 2Tim 2,14). Wenn es aber für Christen und die Schrift von Belang ist, dann muss es klar, offenbar und offensichtlich sein und ebenso wie alle anderen Glaubensartikel völlig offensichtlich. Alle christlichen Glaubensartikel müssen nämlich so beschaffen sein, dass sie nicht nur an sich ganz sicher sind, sondern auch gegenüber anderen mit derart klaren und deutlichen Schriftstellen untermauert, dass allen das Maul gestopft werde und sie nichts darauf entgegnen können, wie Christus uns verheißt: »Ich will euch Rede und Weisheit geben, der alle eure Widersacher nicht widerstehen können« (Lk 21,15). Wenn daher unsere Rede in dieser Hinsicht schwach ist, dass die Widersacher widerstehen können, dann ist falsch, was er sagt, dass kein Widersacher unserer Rede widerstehen kann. Also: Entweder werden wir beim Dogma vom freien Willen keine Widersacher haben (was der Fall ist, wenn es für uns belanglos ist), oder aber (wenn es für uns von Belang ist) wir werden zwar Widersacher haben, doch sie werden uns nicht widerstehen können. Dass aber die Widersacher nicht widerstehen können (was hier ja der Fall ist), geschieht nicht derart, dass sie gezwungen wären, ihre Meinung aufzugeben, von der Wahrheit überzeugt ihren Irrtum zu bekennen oder zu schweigen. Wer nämlich könnte sie gegen ihren Willen zwingen zu glauben, ihren Irrtum zu gestehen oder zu schweigen? Wie Augustinus sagt: »Was ist geschwätziger als leerer Wahn?«96 Sondern ihnen wird das Maul so 96 Augustinus, De civitate Dei V,26.

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