körperkontakte
1 Körperkontakte 2023
Vorwort
Bereits vor zwei Jahren, noch mitten in der Pandemie, rief der Künstlerbund Baden-Württemberg seine Mitglieder auf, Vorschläge für das satellitenartig angelegte Ausstellungsprojekt „Trüffelsuche“ einzureichen. Im Zeitraum von Juli 2022 bis Juli 2023 zeig(t)en nun rund sechzig kleinere Ausstellungshäuser und Projekträume in ganz Baden-Württemberg die unterschiedlichsten Ausstellungen. Ihr verbindendes Moment liegt darin, dass mindestens ein Mitglied des Künstlerbundes in ausstellender oder kuratierender Funktion beteiligt ist.
Den Impuls zur Ausstellung „Körperkontakte“ im Kunstverein Pforzheim gab Bernd Hennig, der mit seiner Einzelausstellung „Großartige Zeiten“ im Jahr 2020 eine unversehens zeitdiagnostische Ausstellung in den Räumen im Reuchlinhaus realisiert hatte. Seine figürlichen Modelle in Verbindung mit sprachlichen Elementen verwiesen auf Momente der Verunsicherung, der Labilität und der Vereinzelung.
Es bot sich an, für das KünstlerbundProjekt Künstlerkolleginnen und -kollegen zur Teilnahme einzuladen, die sich ähnlich und doch ganz anders mit dem Thema der Körperlichkeit auseinandersetzen. Die Beschäftigung mit Körpern in dieser immer körperloser werdenden Zeit mag anachronistisch erscheinen, ist vielleicht aber auch Ausdruck einer Notwendigkeit oder eines Bedürfnisses oder einer Sehnsucht nach Körperkontakt.
Mia Bailey, Nina Joanna Bergold, Stefanie Gerhardt, Valentin Hennig, Anna Ingerfurth, Irmela Maier, Simon Pfeffel, Alessia Schuth und Fritz Stier nahmen unsere Einladung zur gemeinsamen Ausstellung „Körperkontakte“ jedenfalls begeistert an.
2 Körperkontakte 2023
Körperkontakte
Man traf sich zum Auftakt vor Ort, um die besondere Architektur der Ausstellungsräume in die weiteren Überlegungen einzubeziehen. Im Saal des Reuchlinhauses trainieren seit einigen Jahren die Mitglieder des Tanz Theater Pforzheim und beleben auf diese Weise den ursprünglichen Gedanken der Interdisziplinarität dieses Kulturzentrums der Nachkriegsmoderne wieder. Eine Teilnahme des Tanz Theaters an der Ausstellung „Körperkontakte“ erschien uns allen naheliegend, sind es doch Tanz und Ballett, die mittels körperlicher Bewegung und Ausdruckskraft das Zusammenkommen von Menschen thematisieren und transzendieren. So nehmen in dieser Ausstellung nun alle künstlerischen Arbeiten selbst körperliche Gestalt an und machen Figur, Geste, Handlung und Interaktion zum expliziten Thema. Hinzu kommt ein theoretischer Blick auf das „Konzept Körper“ aus der Perspektive der Geisteswissenschaften. Die Erziehungswissenschaftlerin Renate-Berenike Schmidt und der Soziologe Michael Schetsche haben einen facettenreichen Essay zur Ausstellung beigetragen.
Allen Beteiligten möchte ich herzlich danken für das Interesse, das Engagement, die vielfältigen Beiträge und die gute Zusammenarbeit. Ganz besonders danken möchte ich Bernd Hennig, der als Künstlerbundmitglied den Anstoß zur Ausstellung gab, als unermüdlicher Kommunikator zwischen allen Beteiligten das Projekt zum Laufen brachte, als Kuratorenkollege die Ausstellung mit mir einrichtete und schließlich auch als Gestalter dem Ausstellungsheft seine Form gab. Dank der finanziellen Unterstützung des Kulturamtes konnten wir diese Publikation drucken und damit der temporären Ausstellung eine bleibende Erinnerung hinzufügen.
Bettina Schönfelder Kunstvereinsleiterin
Mia Bailey
Nina Joanna Bergold
Stefanie Gerhardt
Bernd Hennig
Valentin Hennig
Anna Ingerfurth
Irmela Maier
Simon Pfeffel
Alessia Schuth
Fritz Stier
TanzTheaterPforzheim
21. April - 16. Juli 2023
Kunstverein Pforzheim
in Zusammenarbeit mit dem Künstlerbund
Baden-Württemberg
3 Körperkontakte 2023
Mia Bailey
1975 in Bangkok geboren
1997 BA(hons), SOAS, University of London
2007 Diplom, SABK Karlsruhe
2008 Meisterschülerin Silvia Bächli, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe
2017 MFA Fiction, Iowa Writers‘ Workshop, University of Iowa, USA
2023 Diverse Intelligences Summer Institute (DISI) Fellow (GB)
2022 Projektförderung Stiftung Kunstfonds für „Day Shapes for Vessel“
2022 Projektförderung Modul C, Neustart Kultur BBK für „Why Reality is a Mask“
2021 Projektförderung MWK BadenWürttemberg für „Oceanic Mind“
2021 Residenzstipendium
Cultivamos Cultura (PT)
2021 Projektförderung MWK BadenWürttemberg für „Failure: a Manifesto“
2019 MacDowell Fellowship (USA)
2017–2018 William Guthrie Memorial Fellowship, Iowa Writers‘ Workshop (USA)
2015–2017 Maytag Fellowship, Iowa Writers‘ Workshop (USA)
2013 Projektförderung Stanley Thomas Johnson Foundation, Bern (CH)
2012 Projektförderung Fachausschuss
Multimedia BS/BL (CH)
2010 Cité des Arts, Paris (FR) Residenzstipendium Christoph Merian Stiftung (CH)
2009 Stipendium der Kunststiftung BadenWürttemberg
2008 Graduiertenstipendium des Landes BW
2006 Jahrespreis der SABK Karlsruhe
2006 Erster Preis, Saar Ferngas/Enovos Förderpreis Junge Kunst
www.miabailey.net
4 Körperkontakte 2023
Lebt in Karlsruhe
How We Look instead of Touching 2023 Digitaldruck auf Baumwolljersey 700 x 150 cm
Corners 2023 Digitaldruck auf Baumwolljersey 700 x 150 cm
Curtailment 2021 29:11 min, HDV 16:9, Color
You know 2023
Korkfolie, Metallösen, (Schnur, Holzlatte)
328 × 69 cm
Caught in the middle
2023
Korkfolie, Metallösen, (Schnur, Holzlatte)
245 × 63,5 cm
Share my breath? 2023
Korkfolie, Metallösen, (Schnur, Holzlatte)
287 x 68 cm
No time, no time
2023
Korkfolie, Metallösen, (Schnur, Holzlatte)
350 x 70 cm
Hard to tell 2023
Korkfolie, Metallösen, (Schnur, Holzlatte)
284 × 66 cm (nicht abgebildet)
Nina Joanna Bergold
1980 in Ludwigsburg geboren
2001 – 2010 Humanmedizin an der Uni Tübingen, Approbation, Promotion
2009 – 2016 Freie Kunst an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart bei Cordula Güdemann, Grundklasse Volker Lehnert
2018 – 2020 Meisterschülerin im Weißenhof-Programm an der ABK Stuttgart seit 2016 Lehraufträge u.a. ABK Stuttgart, TU Dortmund, PH Ludwigsburg
2021 Förderpreis des Künstlerbundes Baden-Württemberg
2015 1. Preis Kunst-am-Bau Wettbewerb Marsilius-Arkaden, Heidelberg
Lebt und arbeitet in Ludwigsburg www.ninajoannabergold.de
5 Körperkontakte 2023
Portraits
Stefanie Gerhardt
1974 geboren
2002–2007 Staatliche Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe bei Prof. Leni Hoffmann
2008 Meisterschülerin bei Prof. Leni Hoffmann seit 2020 Lehrbeauftragte am Institut der bildenden Künste, PH Freiburg
2022 Neustart Kultur, Stiftung Kunstfonds, Bonn
2018 Artist in Residence in Hangzhou (CN), Atelier Mondial, Basel
2013 Cité Internationale des Arts, Paris
2010 Reinhold-Schneider-Förderpreis der Stadt Freiburg
2009 Graduiertenförderung (Reisestipendium) des Landes Baden-Württemberg
2007 Medienkunstpreis Oberrhein
Lebt in Freiburg www.stefanie-gerhardt.de
6 Körperkontakte 2023
2016 Aquarell auf Papier 143 x 96 cm
Foto © Bernhard Strauss
Körper/Geist Untersuchung 2023
Epoxidharz, Acrylfarbe, Draht, Holz. ca. 307 x 385 x 90 cm
QR-Code Zeichnung (Körper/Geist-GIF)
2023
Acrylfarbe hinter Glas 70 x 50 cm
Bernd Hennig
1952 in Heilbronn geboren
1974 - 1978 Grafik-Design Studium, Hochschule für Gestaltung, Pforzheim
1978 – 1982 Bildhauerei-Studium, Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Karlsruhe bei Hiromi Akiyama und O.H.Hajek
1994 – 2017 Professor für Grundlagen der Gestaltung am Fachbereich Design, Hochschule Anhalt, Dessau,
1990 Villa Massimo Stipendium, Rom
1986 Arbeitsstipendium Casa Baldi, Olevano Romano
1980 Stipendium der Kunststiftung
Baden-Württemberg
1977 Kunstpreis »Forum junger Kunst«
Lebt und arbeitet in Birkenfeld www.berndhennig.net
7 Körperkontakte 2023
Valentin Hennig
1986 in Herrenberg geboren
2007 - 2013 Staatliche Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe bei Prof. Silvia Bächli und Prof. Corinne Wasmuht
2010 Gaststudent HfbK Dresden bei Prof. Hans-Peter Adamski
2014 Aufbaustudiengang Intermediales
Gestalten, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart bei Prof. Wolfgang Mayer und Prof. Christina Gomez-Barrio
2016 Meisterschüler des Weißenhof-Programms der ABK Stuttgart seit 2022 Dozent an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
2022 1.Kunstpreis des Freundes- und Förderkreises der Pforzheim Galerie
2022 Prädikatsvergabe “Wertvoll” der FBW für den Film „The Straw That Broke“
2021 Nominierung “Förderpreis Neues
Deutsches Kino”, 55. Internationale Hofer Filmtage
2016 Max Ernst Stipendium der Stadt Brühl
2016 Stipendium der Kunststiftung
Baden-Württemberg
2013 Landesgraduiertenstipendium
Baden-Württemberg
2011 Preis der Kunstakademie Karlsruhe
Lebt und arbeitet in Stuttgart www.valentinhennig.de
8 Körperkontakte 2023
Body Builder 2022 Video, 4K, 16:9, Farbe 4:06 min.
Body Builder Still
Körperkontakte heute
Renate-Berenike Schmidt & Michael Schetsche
Corona, so scheint es zumindest, hat uns alle gelehrt, in unserem Alltag weitgehend ohne Körperkontakte auszukommen. Allerdings markieren die im Rahmen dieser Pandemie durchgesetzten Regeln für ein weitgehend berührungsfreies Zusammenleben nur den Endpunkt einer Entwicklung, die wir bereits seit Ende der vorigen Jahrhunderts zu beobachten meinen: Die Bedeutung direkter Körperkontakte für das Zusammenleben der Menschen und die Organisation von Gesellschaft nimmt seit Jahrzehnten
immer mehr ab. Dies könnte etwa daran liegen, dass die medial vermittelte Kommunikation (Computer, Smartphone usw.)
immer mehr Aufgaben des unmittelbaren Austausches übernimmt. Die Kommunikation mit anderen Menschen scheint mehr und mehr auf Bild- und Tonverbindungen beschränkt, abstrahiert damit notgedrungen von den Möglichkeiten eines auch körperlichen Kontakts. Dieser wird heute zwar nicht gänzlich überflüssig, ist aber doch – so wirkt es – im Alltag weit weniger bedeutsam als noch vor fünfzig Jahren. Die Menschen (sollen) lernen, ohne diese leibbezogene Dimension der Kommunikation auszukommen.
Dadurch werden Berührungen zwischen den Menschen generell seltener. Doch muss dies nicht heißen, dass sie deshalb auch kostbarer werden, weil bei den Menschen, die in diese neue kommunikative Ordnung hineingeboren wurden, das Bedürfnis nach direktem körperlichem Austausch ja vielleicht einfach nicht mehr in gleichem Maße stimuliert, befördert, sozialisiert wird wie in früheren Epochen.
Und da, wo Körperkontakte noch zählen (etwa weil sie sozial funktionalisierbar sind), werden sie – dies wäre dann die andere Seite der gleichen Medaille – stilisiert, fokussiert und medial (re-)inszeniert. Dies gilt etwa für Sexualität oder auch für Gewalt. So ist zu beobachten, dass beispielsweise die eigenen sexuellen Interaktionen heute mehr und mehr digital aufgezeichnet, medial verbreitet und in sozialen Netzen einem gnadenlosen Rankingsystem unterworfen werden. Die Qualität des sexuellen Aktes stellt sich dabei zumindest ein Stück weit erst nachträglich durch das Urteil der unbeteiligten Beobachter her. Und die körperliche Gewalt als ethisch negativer Grenzfall des Körperkontakts wird nicht nur seit Jahrzehnten in den Massenmedien nachhaltig öffentlich inszeniert, sondern im per Handy gefilmten »Happy Slapping « nun auch privat re-inszeniert und verbreitet. Nicht mehr die Berührung selbst, sondern ihre mediale Abbildung, Nachstellung, Inszenierung scheint heute
der primäre soziale Akt zu sein. Soweit die verbreitete Zeitdiagnose.
Diese vermeintlich eindeutige Tendenz schlägt sich auch im sozialwissenschaftlichen Blick auf den Körperkontakt nieder. Wurde früher die Face-to-face-Situation, welche die Möglichkeit von Berührungen stets einschloss, als Standard menschlicher Interaktion angesehen, rückt nun eine andere Konfiguration in den Mittelpunkt des Interesses: die Begegnung in einem medial vermittelten virtuellen Raum. Wenn das Zusammentreffen der Körper im physischen Raum wirklich an kommunikativer und sozialer Bedeutung verlieren sollte, wäre es nur folgerichtig, dass die wissenschaftliche Analyse ihre Untersuchungen um das bereinigt, was im Alltag nun sekundär erscheint. Die Regeln einer blickzentrierten Moderne werden durch jene einer medienzentrierten Postmoderne ergänzt: Der Körperkontakt – als kommunikatives Ereignis und nonverbale Botschaft – wird lebensweltlich als entbehrlich betrachtet. Und er wird deshalb vielfach nun auch als wissenschaftlich irrelevant angesehen. Entsprechend konzentriert sich das sozialwissenschaftliche Forschungsinteresse seit Ende des letzten Jahrhunderts auf ein individualisiertes Verständnis des menschlichen Leibes und verflüchtigt sich meist schnell, wenn jener Einzelkörper in unmittelbaren Kontakt mit Seinesgleichen kommt. In den Sozialwissenschaften geraten Berührungen heute am ehesten noch als potentielle Grenzverletzungen in den Blick.
Aber sind Körperkontakte heute wirklich so unbedeutend und auch kommunikativ überflüssig? Wir hatten bereits vor Jahren versucht, mit einer interdisziplinären Anthologie (Schmidt & Schetsche 2012) gegen diese Sichtweise und die daraus folgende sozialwissenschaftliche Selbstverblindung zu opponieren. Und zwar weil wir die skizzierte Gegenwartsdiagnose für theoretisch durchaus bedenkenswert, empirisch im Großen und Ganzen jedoch für falsch halten. So zeigte sich denn auch unmittelbar nach Ende der großen, coronabedingten Berührungsabstinenz, was bereits vor der Pandemie galt: Überall, wohin wir schauen (wenn wir diesen Blick nur wagen!), kommen Menschen in körperlichen Kontakt miteinander, sie berühren andere und werden von ihnen berührt. Dies kann, anthropologisch betrachtet, auch gar nicht anders sein – jedenfalls solange wir in einer Gesellschaft von Menschen der biosozialen Gattung »Homo sapiens sapiens« leben. Als Spezies wie als Individuum sind wir von sozialen Begegnungen
und eben auch von physischen Kontakten abhängig: Ohne Berührungen, das ist seit langem bekannt, kann das Kind nicht zu einem gesunden Erwachsenen werden. Und ohne solche Berührungen kann auch der erwachsene Mensch sich im sozialen Raum nur außerordentlich schwer orientieren und psychosozial zurechtfinden. Der arme Robinson war nie ein erkenntnisträchtiges Modell vom Menschen. Alle von uns, die nicht allein auf einer Insel leben, haben notwendig fast täglich eine ganze Reihe von Körperkontakten – manche hoch erwünscht und vielleicht selbst initiiert, andere hingegen unvermeidbar oder gar verhasst. Erstere reichen vom Händchenhalten, nicht nur der frisch Verliebten, bis hin zur professionellen Fußmassage und anderen berührungsintensiven Dienstleistungen, letztere von den Küssen aufdringlicher Tanten bis hin zum Gedränge und Geschubse in Bussen und Bahnen moderner Großstädte. Und in einer überbevölkerten Welt mit riesigen Metropolen und Ballungsräumen muss die Zahl gerade der ungewollten Körperkontakte sprunghaft ansteigen. Diese Beispiele lassen sich fast beliebig fortsetzen. So scheint es uns wichtig, gegen den Anschein des Bedeutungsverlusts des Körperkontakts im 21. Jahrhundert (und ihren irreführenden wissenschaftlichen Reflex) vier Einsichten festzuhalten:
- Die Möglichkeit und die Notwendigkeit von Körperkontakten, des Berührens und des Berührtwerdens, ist in der psychophysischen Ausstattung des Menschen angelegt, kann durch soziale, lebensgeschichtliche Einflüsse nur überformt, nicht aber gänzlich negiert werden.
- Das »Skin-to-skin« und nicht das »Face-to-face« ist die lebensgeschichtlich primäre Kommunikationssituation. Selbst wenn Erwachsene nicht im gleichen Maße wie Säuglinge und Kinder auf mitmenschliche Berührungen angewiesen sein mögen, bleibt doch eine starke psychische Abhängigkeit von Körperkontakten das ganze Leben hindurch bestehen. Alle, die beruflich mit älteren Menschen zu tun haben, wissen nur zu gut, dass die tiefe Sehnsucht nach Berührungen uns bis ans Lebensende begleitet.
- Auch wenn in modernen Gesellschaften die unmittelbare Kommunikation zwischen den Individuen teilweise durch einen medial vermittelten Austausch ersetzt wird, bleibt – sogar in Zeiten von Corona! – eine geradezu unüberschaubare Vielzahl von Situationen übrig, die primär über Körperkontakte ihre soziale Bedeutung erfahren und ihre psychischen Wirkungen entfalten. Man denke nur an
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Alessia
Nina Joanna
Irmela
Simon
Fritz
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die immer auch körperorientierte Nähe zwischen liebevollen Eltern und ihren Kindern.
- Bei allem medial induziertem gesellschaftlichen Wandel bleiben für die Entwicklung und den Lebenslauf des Einzelnen physische Körperkontakte prägend – Berührungen sind nicht nur die unmittelbarste, sondern eben auch die seelisch tiefgreifendste Form des Austausches unter Menschen. Dies zeigen nicht nur die sexualwissenschaftlichen Befunde zur immensen Bedeutung sexueller Begegnungen, sondern – unter entgegen gesetzten Vorzeichen – auch die Ergebnisse der Traumaforschung: Nichts kann uns einerseits so beglücken, andererseits aber auch verletzen, wie der direkte Körperkontakt.
Daraus folgt, dass die Wirklichkeit menschlichen Denkens und Fühlens, Handelns und Zusammenlebens nur verstanden werden kann, wenn die Tatsache vielfältiger Körperkontakte unter den Menschen sowie deren nachhaltigen psychischen und sozialen Folgen berücksichtigt werden. Hier ist jedoch nicht der Ort, um die innerwissenschaftlichen Debatten um die Bedeutung der Berührung fortzusetzen. Wir wollen vielmehr fragen, ob die künstlerische Praxis beim Blick auf das Zusammentreffen der Körper den gleichen Ausweichstrategien folgt, wie sie heute die Sozialwissenschaften dominieren. Oder ob sich hier vielleicht ein Blick auf die leibhaftigen Begegnungen von Menschen findet, der sich anderer Maßstäbe bedient und diese dann eben auch setzt.
Schauen wir uns dazu – nicht mit einem kunstwissenschaftlichen, sondern mit einem gleichsam fremden sozialwissenschaftlichen Blick – die hier in der Ausstellung gezeigten Werke an:
Zunächst fällt auf, dass in manchen der Arbeiten der Körperkontakt deutlich allgemeiner (man könnte fast sagen: physikalischer) interpretiert wird, als wir mit unserer professionsbedingten Fokussierung auf die Menschen und ihr Zusammenleben es erwartet hätten. In manchen Werken scheint uns der Mensch (wenn er denn überhaupt kategorial gemeint ist) am Rande zu stehen, manchmal ist er durch Tiere oder phantastisch wirkende Wesenheiten ersetzt. Stehen sie sinnbildlich für den Menschen – oder ist hier etwas ganz anderes gemeint? Vielleicht, so spekulieren wir, stellen fremdartige Wesenheiten in einer von Menschen überbevölkerten Welt lediglich das spannendere Sujet dar.
Eine weitere Auffälligkeit: Während die Tiere und Objekte sich berühren dürfen, scheint uns bei der Darstellung von Menschen der Nicht-Kontakt eine große Bedeutung zu haben. Wir vermuten (durchaus begründet), dass hier die Corona-Pandemie eine Inspiration für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema geliefert hat: Kontaktverbote, selbst auferlegte Berührungsabstinenz, überall die Tendenz zur Vereinsamung. Und das ist es ja auch, was die Massenmedien uns in den letzten drei Jahren suggeriert haben: Verlust der Körperkontakte, wohin man schaut. Empirisch allerdings ist das nur begrenzt zu bestätigen. Am schlimmsten getroffen hat es sicherlich die alten Menschen – namentlich die in Pflegeeinrichtungen. Hier kann man durchaus von Deprivation durch Verlust von Körperkontakten sprechen. In manchen anderen Fällen jedoch muss man wohl eher von ideologisch motivierte Fiktion, denn von sozialer Tatsache ausgehen. Ein empirisch uneindeutiges Bild.
Aber zurück zur Kunst. Insgesamt fällt uns auf, dass die künstlerische Wahrnehmung sich stärker als von uns erwartet am vorhin beschriebenen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs orientiert: Im Zentrum vieler Arbeiten finden wir die Idee, dass Körperkontakte heute irgendwie prekär geworden sind. Dieser Befund wäre verblüffend, wenn wir (soziologisch naiv) von »der Kunst« immer nur eine kritische und reflexiv gebrochene Kommentierung der sozialen Wirklichkeit erwarten würden. Naiv wäre eine solche Erwartung insbesondere, weil Künstler und Künstlerinnen selbstredend Mitglieder der kulturellen Diskursgemeinschaft sind, also gleichsam Freud und Leid der Gesellschaft teilen, in der sie leben. Und wir alle leben ja immer noch im Schatten von Corona. Das die Infektion aus Sicht der Experten inzwischen endemisch geworden ist, ändert an dieser Feststellung nichts.
Widerständigkeit und Subversion sind künstlerisch wohl erwünscht (Oder sitzen wir hier nur einem Klischee auf?), stellen sich aber selbstredend nicht plakativ her und dar. Und tatsächlich gehen viele der Arbeiten mit dem Thema so subtil um, dass namentlich von künstlerischen Laien wie uns längeres Hineinsehen, Nachdenken und Einordnen verlangt wird. Aber gerade das sollte ja eine der Aufgaben bildender Kunst sein: Dem Betrachter und der Betrachterin sowohl intellektuell als auch gefühlsmäßig einiges abzuverlangen.
So stellt sich uns schließlich die Frage, auf welche Weise die Wissenschaft von
der künstlerischen Sichtweise auf den Körperkontakt lernen könnte. Unsere kurze Antwort lautet: Hinsichtlich der Bedeutung von Nuancen. In der Kunst treten die von der Soziologie erst kürzlich entdeckten »Zwischenlagen« (Bernhard Giesen) stark in den Vordergrund:
Wahrheiten werden nicht plakativ feilgeboten, sondern finden sich in den – oftmals filigranen – Zwischenräumen des Dargestellten. Wo man Klischees entdeckt, sind sie gebrochen und werden intellektueller Reflektion zugänglich gemacht. Und die adressierten Gefühle drängen uns eher in die Ambivalenz als in die Eindeutigkeit. Und in manchen Fällen gilt sogar: Nichts ist wie es scheint.
Zum Weiterlesen für wissenschaftlich
Interessierte: Renate-Berenike Schmidt, Michael Schetsche (Hg.) (2012): Körperkontakt. Interdisziplinäre Erkundungen.
Gießen: Psychosozial-Verlag
Autorin und Autor Renate-Berenike Schmidt, Dr. phil., Erziehungswissenschaftlerin; war früher in der Gymnasiallehrerausbildung tätig, arbeitet heute als Wissenschaftsautorin. Arbeitsschwerpunkte: Sexualpädagogik, Sozialisationsforschung, Kultursoziologie und pädagogische Ethik.
Michael Schetsche, Dr. rer. pol., Soziologe und Politologe; Außerplanmäßiger Professor am Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; war bis 2021 Forschungskoordinator am IGPP in Freiburg.
Arbeitsschwerpunkte: Wissens- und Mediensoziologie, Kultursoziologie, Kulturanthropologie und Zukunftsforschung
12 Körperkontakte 2023
Anna Ingerfurth
1969 in Stuttgart geboren
1989-98 ABK-Stuttgart
2019/20 Lehrauftrag an der ABK-Stuttgart, Klasse für Malerei
2020/21 Vertretungsprofessur ABK-Stuttgart, Klasse für Malerei
2023 Kunst am Bau, Neubau Grundschule, Berlin Lichtenberg
2022 Neustart Kultur, Stiftung Kunstfonds, Bonn
2021 Kunstpreis VR-Bank, Ostalb
2020 Kunst am Bau, gewobau, Rüsselsheim
2014 Kunst am Bau, JVA Stammheim mit T. Eberwein und FFM
2010 Kunst am Bau, Robert Bosch
Krankenhaus, Stuttgart
2005 Citè Internationale des Arts, Paris
2004 Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg
2003 Förderpreis der Stadt Bühl
2003 Kunst am Bau, Universitätsklinik, Heidelberg
2002 Atelierstipendium des Landes Baden-Württemberg
2000 Landesgraduiertenstipendium des Landes Baden-Württemberg
2000 DAAD-Stipendium für Amsterdam
1998 Auslandsstipendium des Landes Baden-Württemberg für Barcelona
Lebt und arbeitet in Stuttgart www.annaingerfurth.de
13 Körperkontakte 2023
Einsteigen 1/6 2023 Acryl auf Aluminium 200 x 450 cm Grundschule Blockdammweg Berlin-Lichtenberg Behutsame Feststellung 2023 Acryl auf MDF 16 x 16,7 x 3 cm
Irmela Maier
1956 in Bad Waldsee geboren
1976 - 82 Studium an der Staatlichen
Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart
1980 - 82 Akademie des Beaux-Arts, Paris
1985 - 86 Saint Martin‘s School of Art, London
2014 Kunstpreis der VR-Bank
Ostalb eG, Aalen
1981 Oberschwäbischer Kunstpreis
Lebt und arbeitet in Ettlingen
14 Körperkontakte 2023
Meute 2018/2021
Ton gebrannt, Stahl, Drahtgeflecht, Recyclingmaterial, Kupfer-und Messingdraht 180 x
300 x 300 cm
Simon Pfeffel
1985 geboren
2006 - 2014 Studium an den Staatlichen Akademien der Bildenden Künste Karlsruhe und Stuttgart bei den Professor:innen Leni Hoffmann, Silvia Bächli, Christian Jankowski, John Bock und Dr. Carolin Meister
2022 Arbeitsstipendium Kunstfonds, Bonn, 2022 Kunstpreis Hannes Malte Mahler, Hannover
2022 Kunstpreis der Erzdiozöse
Stuttgart-Rottenburg
2019 Stipendium der Kunststiftung
Baden-Württemberg für Katalonien
2018 Arbeitsstipendium der Kunststiftung
Baden-Württemberg
2017 1. Preis: Kunst am Bau Wettbewerb des Landes Baden-Württemberg
2016 Cité Internationale des Arts, Paris
Lebt in Baden-Württemberg
www.100daysofperformances.com
www.simonpfeffel.com
15 Körperkontakte 2023
moonwalk 2023 Stahl, Holz, Kunststoff 160 x 315 x 59 cm
Auswahl an Performances in Virtual Reality 2022 - 2023 Virtual Reality Brille, Stahlseil und Ösen
Alessia Schuth
1987 geboren
2010-2011 Akademie Regensburg bei Stefan Göler und Georg Fiederer
2012-2020 ABK Stuttgart bei Cordula Güdemann und Rolf Bier
2020-2022 Mathilde-Plank-Lehrauftragsprogramm
2021 Artist Residence, Schwalenberg Stipendium
2016-2020 Künstlerförderung des Cusanuswerk, Bonn
Lebt und arbeitet in Stuttgart info@alessiadaniaschuth.de Instagram: @alessiaschuth.art
16 Körperkontakte 2023
mindness + other words 2023 Thermoplast, Holz, Fundstücke, Leuchten, div. 200 x 200 x 200 cm
Der Kuss - Videoprojektion
Fritz Stier
1951 in Mannheim geboren
Kunststudium und Ausbildung zum Kunst- und Gestaltungstherapeuten Seit 1979 Realisation von Kunstvideoprojekten im In- und Ausland; 1980 Gründung von „art now„ Kunstraum in Mannheim; Mitinitiator von „Videocongress“; Mitglied der Künstlergruppe „Tafelrunde“ in Düsseldorf;
Organisation von div. Kulturevents („Abenteuer unter Tage“ Mannheim, „Kunst in Aktion“, Performancefestival im Stadtraum, „1.Internationale Videotage“, „Ladenhüter“, King Kong Contemporary Art „Kunstflug Künstlerkongress“ u.a.)
Seit 1999 Ausstellungsleiter des Kunstverein Viernheim
Seit 2006 Künstlerischer Leiter des Kunsthaus Viernheim.
Lebt und arbeitet in Mannheim
www.fritzstier.de
17 Körperkontakte 2023
2023 Animierte Zeichnung
TanzTheaterPforzheim
Kinder der Nacht
Nach dem Roman „Les Enfants Terribles“ von Jean Cocteau und der Tanzoper von Phillip Glass (Fassung für zwei Klaviere: Katia & Marielle Labèque)
Choreografie: Guido Markowitz
Ausstattung: Philipp Contag-Lada
Choreografischer Mitarbeiter: Damian Gmür
Dramaturgie: Thomaspeter Goergen
Uraufführung am 14. April 2023 im Theater Pforzheim
Schrecken und Sehnsucht des Menschen ist der Körper; er ist, was wir sind, wir haben, was uns entgleitet. Also idealisieren und erotisieren wir den Leib, und fliehen zugleich vor dem Tod ins Abstrakte, ins Ewige, Körperlose, Platonische – ins Virtuelle. Es ist nun der Tanz, der jene Pole vereinigt; der das Denken (Sinn) und die Materie (Sinnlichkeit) zusammenschließt. Gerade der Tanz, der nur in fragilen und entschwindenden Zeichen momenthaft existiert, macht seit Jahrtausenden das Unsichtbare, Unterbewusste, das Erinnern und Werden des körperlichen Menschen sichtbar.
So interpretiert Guido Markowitz in Pforzheim den rauschhaften, mörderischen, leidenschaftlichen wie winterkalten Roman „Les Enfants Terribles“ des Surrealisten Jean Cocteau für den Tanz neu; er begibt sich mit fünf Tänzer*innen in die Gedächtnispaläste zweier Geschwister und ihrer erotischen Subjekte – was sie sind, was sie wollen, was ihnen entgleitet. Zu der atemlosen Zwei-Pianos-Version der Tanzoper von Phillip Glass entspinnt sich eine Geometrie von Anziehung und Zurückweisung, von Enttäuschung und Gier, vom kleinen und vom großen Tod – von Sehnsucht und Schrecken unser aller Körper.
Guido Markowitz hat mit der Kompagnie in Pforzheim ein interdisziplinäres und internationales Tanzensemble vereint, welches den Körper und sein Verhältnis zu anderen Medien, welches sinnliches Denken und die aktuellen gesellschaftlichen Diskurse ins Zentrum seiner Tanzphilosophie stellt. Stil- und raumübergreifend, gemeinsam mit seinem Stellvertreter Damian Gmür, entstehen, auch an ungewöhnlichen Orten außerhalb des Theaterraumes, choreografische Arbeiten, die unsere Wahrnehmungskonventionen und damit unser Denken immer neu herausfordern.
www.theater-pforzheim.de
18 Körperkontakte 2023
Emilia Friedholm
Benedict Redlin
Foto © Andrea d‘Aquino
Impressum
Diese Publikation erscheint zur Ausstellung
Körperkontakte
Mia Bailey
Nina Joanna Bergold
Stefanie Gerhardt
Bernd Hennig
Valentin Hennig
Anna Ingerfurth
Irmela Maier
Simon Pfeffel
Alessia Schuth
Fritz Stier TanzTheaterPforzheim
Körperkontakte 2023
Kunstverein Pforzheim in Zusammenarbeit mit dem Künstlerbund Baden-Württemberg
21. April - 16. Juli 2023
Herausgeber: Kunstverein Pforzheim e.V.
Texte:
Bettina Schönfelder, Dr. phil. Renate-Berenike Schmidt und Dr. rer. pol. Michael Schetsche, Thomaspeter Goergen
Fotografie und Layout:
Bernd Hennig
Foto Seite 6: Bernhard Strauss
Foto Seite 18: Andrea d‘Aquino
Umschlag Typografie: StefanieSchwarz-GraphicDesign.de Herzlichen Dank an das Kulturamt der Stadt Pforzheim für die finanzielle Unterstützung
Besonderen Dank an das Aufbauteam Sergej Babenko und Ralf Wessinger, unterstützt von Heinz, Tilmann, Felix, dem anderen Ralf und Kurt.
© 2023 Kunstverein Pforzheim und bei den Künstler Innen und Autor Innen
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