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Wechselwirkungen

25 Ensembles – instrumentale, vokale, große, kleine – dazu mehr als 50 Solistinnen und Solisten aller Fächer entfalten in 28 Veranstaltungen ein Panorama der Musik. Internationale Größen wirken mit wie das Royal Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam, das Israel Philharmonic Orchestra, das Boston Symphony Orchestra und das London Symphony Orchestra, aus München kommen das Bayerische Staatsorchester und die Philharmoniker. Sie gestalten das Musikfest 2023 gemeinsam mit Spitzenensembles der Hauptstadt, allen voran die Berliner Philharmoniker. Auch Jubilare sind dabei: 500 Jahre besteht das Bayerische Staatsorchester, vor 100 Jahren trat der Kern des späteren Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB) erstmals zusammen; beide werden von ihrem gemeinsamen Chefdirigenten Vladimir Jurowski geleitet. Vor 75 Jahren wurde außerdem der RIAS Kammerchor Berlin gegründet.

Geschichtsbewusst

Seinen 80. Geburtstag feierte kürzlich Dirigent John Eliot Gardiner. Die Aufführungen mit seinem Monteverdi Choir und seinem Orchestre Révolutionnaire et Romantique üben eine magnetische Faszination aus. Woher rührt sie? Wer sich mit der Historizität musikalischer Werke immer und immer wieder beschäftigt, gelangt irgendwann einmal an den Punkt, an dem die Geschichte zur Aktualität aufspringt. Gardiner fand diesen Punkt immer wieder, selbst bei schwer zugänglichen Werken wie Ludwig van Beethovens Missa solemnis. In diesem Jahr verwirklicht er ein Großprojekt: Hector Berlioz’ Oper Les Troyens konzertant im historischen Originalklang – eine Premiere in Berlin. Hier kam das Musiktheater bisher nur

1930 und 2010 auf die Bühne, gespielt auf modernen Instrumenten. Nun ist die Geschichte der Trojaner, eine Geschichte von Krieg, Betrug, Liebe, Trennung, Fahrt ins Ungewisse und versuchtem Neustart, im Composer’s Cut und in der vollen Kraft ihrer Musik zu erleben.

Den Kontrapunkt setzen Philippe Herreweghe und das Collegium Vocale Gent mit einem anderen Hauptwerk: Bachs h-Moll-Messe. Vor 50 Jahren begannen die Flamen wie Gardiner mit Barockmusik, sie dehnten ihren stilistischen Radius inzwischen bis zu Gustav Mahler aus – auf Bach aber kommen sie immer wieder zurück. Der RIAS Kammerchor Berlin ergänzt die Gala der Geschichtsbewussten zur Trilogie. Mit dem Freiburger Barockorchester widmet er sich Joseph Haydns Missa in tempore belli.

Hauptspur

Einmal traten sie zusammen auf, und zwar 1909 in New York: Gustav Mahler, der Wegbereiter, und Sergej Rachmaninow, der distanzierte Zeitgenosse der Moderne. Mahler dirigierte Rachmaninows Drittes Klavierkonzert, der Komponist spielte den Solopart – und bedankte sich euphorisch für die gründliche Probenarbeit, die dem Werk eine glänzende Wirkung bescherte. Beim Musikfest ist Rachmaninow nicht mit seinen »Schlachtrossen«, sondern in der Breite seines Schaffens präsent – vom Klavierstück über Lieder und Kammermusik bis zu symphonischen Werken und einem abendfüllenden Chorstück. Die Ganznächtliche Vigil, die chorisch aufbereitete Liturgie für die Nächte vor hohen Feiertagen, ist ein Paradestück des Rundfunkchors Berlin. Das Israel Philharmonic Orchestra stellt Rachmaninows letztes

Konzerthinweis

• Do 14.09.23 20 Uhr

Fr 15.09.23 20 Uhr

Sa 16.09.23 19 Uhr

Großer Saal

Musikfest Berlin

Berliner Philharmoniker

Kirill Petrenko Dirigent

Christian Gerhaher Bariton

Iannis Xenakis Jonchaies für Orchester

Karl Amadeus Hartmann

Gesangsszene nach Worten aus Sodom und Gomorrha von Jean Giraudoux

Márton Illés Lég-szín-tér (Uraufführung)

Kompositionsauftrag der Stiftung Berliner Philharmoniker, finanziert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung György Kurtág Stele für großes Orchester op. 33

Werk, die Symphonischen Tänze, in Kontexte des Erinnerns: mit den Psalmen von Paul Ben-Haim, einem der Gründerväter der klassischen Musik Israels, und einem neuen Werk von Betty Olivero. Vladimir Jurowski und das RSB ehren Rachmaninow mit dessen Dritter Symphonie.

Mahler spricht beim Musikfest für sich: Sir Simon Rattle lässt die Neunte, Mirga Gražinytė-Tyla die Zweite allein stehen. Und er spricht im Dialog mit heutiger Musik: Der Siebten mit ihren romantischen Nachtstücken stellt Iván Fischer mit dem Concertgebouw Orchestra Lieder von Jörg Widmann voran, der in der Saison 2023/24 Composer in Residence der Berliner Philharmoniker ist. Solokonzerte von Unsuk Chin führen jeweils zu Mahlers Lied von der Erde und der Fünften Symphonie hin. Die beiden sind musikalisch durch Welten getrennt, ihre Werke harmonieren dennoch auf eigentümliche Weise. Beide mussten sich eine musikalische Heimat, »eine Welt« (Mahler), er-komponieren. Beide eint der Anspruch, Ideen genau auszuarbeiten. Kein Werk ist wie das andere. Das Konzert für Sheng und Orchester entwickelte Chin für den Virtuosen Wu Wei aus dem konzertanten Instrument heraus, alle Facetten des chinesischen Blasinstruments werden hier ausgereizt. Das Cellokonzert dagegen macht das klassische Problem des Genres zum Thema und gewinnt dem konflikthaften Gegenüber von Solo und Orchester dramatisch schöne Musik ab.

Was ist neu?

Neue Musik gehört zum Musikfest Berlin. Aber was ist neu? Sir George Benjamin, Komponist und Dirigent, gibt eine Antwort. Erst flaniert er mit dem Ensemble Modern durch die Frühzeit der Moderne, dann mit dem Ensemble Modern Orchestra durch das bunte Spektrum heutigen Komponierens. Die Berliner Philharmoniker zeigen unter Kirill Petrenko die Moderne in ihrer Dynamik und Humanität: in Klangbewegungen und Raumerkundungen von Xenakis und Illés, in Hartmanns apokalyptischer Gesangsszene und Kurtágs Gedenkmusik Stele, die 1994 von den Philharmonikern uraufgeführt wurde.

Neue Musik wandelt sich global. Das Musikfest stellt dazu ein interessantes Projekt vor, im Zentrum steht die traditionelle Musik aus dem Iran: ihre Ton- und Ausdruckssysteme, ihre Poesie, ihre Instrumente. Das Māhbānoo Ensemble führt in diese hochdifferenzierte Kunst ein. 2011 von Majid Derakhshāni, einem Meister traditioneller persischer Musik, gegründet, besteht es ausschließlich aus Frauen; ihnen ist seit der islamischen Revolution der Gesang in der Öffentlichkeit verboten, deshalb tritt die Gruppe nur im Ausland auf. Wolfgang von Schweinitz, dessen Œuvre auf Verfeinerung des Hörens zielt, komponierte ein Duo für Violine und Kontrabass, in dem er aus der traditionellen persischen Musik und ihrer Mikrotonalität eine nie gehörte Mehrstimmigkeit entwickelt. Ihm antwortet der Setār-Virtuose Majeed Qadianie mit der Kunst der Improvisation, die in der persischen Musik eine große Rolle spielt. Ein Dialog, der nach Fortsetzung ruft!