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Der lange Atem eines Asthmatikers

Rubrik • Philharmonische Momente

Die Teil-Uraufführung von Alban Bergs Drei Orchesterstücken durch die Berliner Philharmoniker im Juni 1923 in Berlin war ein unerwarteter Erfolg – und die erste Etappe zum internationalen Ruhm des Wiener Genies. 100 Jahre später steht das Werk erneut auf dem Programm des Orchesters. Es dirigiert Kirill Petrenko.

Eigentlich hätte alles schiefgehen müssen. Einen normalen Lauf der Dinge vorausgesetzt, hätte Alban Berg das Stück nie schreiben dürfen, denn Arnold Schönberg, sein gottgleicher Lehrer, war dagegen (und hat es später mit keinem Wort erwähnt); der Gattungswechsel von einer geplanten einsätzigen Symphonie zu einem dreisätzigen Orchesterstück führte zu gravierenden konzeptionellen Änderungen, wobei der Kriegsausbruch 1914 den Ausdruckscharakter des ursprünglich heiter gedachten Werkes noch einmal radikal veränderte; schließlich zeigte sich nach langer Zeit noch eine erfreuliche Bedrohung: die Uraufführungdurch die damals noch »Philharmonisches Orchester« genannten Berliner Philharmoniker. Sie brachte den Komponisten in arge Terminnöte, denn eine gedruckte Ausgabe gab es genauso wenig wie einen Klavierauszug. Auch ließ angesichts der geringen Probenzeiten der enorme Schwierigkeitsgrad das Schlimmste befürchten.

Die Probleme von 1923 waren nicht kurzfristig aufgetreten. Vielmehr handelte es sich um den Höhe- und Endpunkt einer bereits 1913 einsetzenden Krise. Und Probleme mit Tradition sind bekanntlich besonders schwer lösbar. Berg und Schönberg hatten im Sommer 1913 einige Tage in Berlin verbracht. Obwohl längst nicht mehr sein Lehrer, nörgelte Schönberg ständig an dem jüngeren Kollegen herum, an dessen Energielosigkeit und fehlender Zielstrebigkeit, an der unleserlichen Handschrift und nachlässigen Kleidung. Berg nahm sich die Vorwürfe zu Herzen, verinnerlichte vor allem die Stilkritik an seinen Kompositionen, die er selbst jetzt als geringfügig, ja wertlos bezeichnete. Schönbergs Engagement, die Altenberg-Lieder und die Klarinettenstücke des ehemaligen Eleven aufführen zu lassen, war auffallend schwach – und gemessen an den Hilfeleistungen, die ihm Berg seit Jahren erbrachte, geradezu schäbig. Man hat die aufopfernde Selbstzerstörung zugunsten seines Lehrers mit dem Verhalten eines Wozzeck und einer Gräfin Geschwitz verglichen, zweier Bühnengestalten aus Bergs Opern. Überhaupt sind viele Werke Bergs von persönlichen Erlebnissen inspiriert, was ihm unter Zeitgenossen, die eher zu abstrakter Sachlichkeit neigten, wenig Freunde schuf.

Die Situation eskalierte beinah, als Berg 1913 beschloss, eine Symphonie zu schreiben, also jene Gattung zu nutzen, die mit der Zwölftonmethode kaum vereinbar ist. Symphonien leben von Konflikten, von thematischen, harmonischen und auch rhythmischen, sie berichten wortlos von einem Geschehen, dem die Hörer folgen können, indem sie einzelne Segmente unterscheiden und im Verlauf des Werkes wiedererkennen. All dies erlaubt die dodekafone Methode nur rudimentär; sie löscht fast sämtliche Erinnerungsspuren, anhand derer eine Orientierung möglich wäre. Schönberg war sich dieser Eigenart seines neuen Systems wahrscheinlich bewusst. Er hat nach seiner Kammersymphonie Nr. 1, die 1906 am Ende seiner freitonalen Phase entstand, 33 Jahre gebraucht, um eine weitere Kammersymphonie zu vollenden. Dass sich Alban Berg in jugendlichem Leichtsinn der unter Romantikverdacht stehenden Gattung zuwandte, musste Schönberg als Untreue werten. Was Berg zwar nicht von seinem Plan abbrachte, die Ausführung jedoch erheblich erschwerte. Mehrmals entschuldigte er sich förmlich bei Schönberg, »dass ich von Ihren diversen Vorschlägen, was ich zunächst komponieren soll, nicht Gebrauch gemacht habe«, und behauptete, dessen Kammersymphonie zum Muster genommen zu haben. Tatsächlich inspirierten ihn Mah - lers Lied von der Erde und Neunte Symphonie, deren Uraufführungen er in München 1911 beziehungsweise in Wien 1912 erlebt hatte. Sein Versuch, Schönbergs strenge Forderungen zu erfüllen, ohne seine persönliche, durchaus spontan-emotionale und Mahler verwandte Tonsprache aufzugeben, führte in der Folge zu einem langjährigen und bisweilen quälenden Kompositionsprozess. Der Kriegsausbruch brachte zunächst keinen Stillstand; bevor er einberufen wurde, vollendete Berg 1915 in der Weststeiermark, unweit der italienischen Front, sogar den Mittelsatz, den Reigen, des nunmehr »Drei Orchesterstücke« genannten Werkes. Den Titel »Symphonie« und einen Großteil des bereits komponierten Materials hatte er aufgegeben. Dieser Reigen war eigentlich, einem Wunsch Schönbergs entsprechend, als heiteres Stück angelegt. Davon konnte mittlerweile keine Rede mehr sein. Bergs Depression angesichts des Krieges, aber auch sein gesundheitlicher Zustand sind dem Werk tief eingezeichnet; in einem Brief an Schönberg beschreibt er den bedrückenden Finalsatz als »Marsch eines Asthmatikers, der ich bin und, mir scheint, ewig bleibe«.

Wann genau die drei Stücke – Präludium, Reigen und Marsch – vollendet wurden, ist nicht bekannt. Jedenfalls hielt Schönberg, der Widmungsträger, im August 1915 das Werk in Händen. Im Sommer 1919 wollte Erwin Schulhoff die Drei Orchesterstücke in Dresden zu Gehör bringen, aber der Plan zerschlug sich. Erst 1923 kam es, wahrscheinlich auf Vermittlung Hermann Scherchens, zur Uraufführung. Sie fand im Rahmen einer Österreichischen Musikwoche statt: die Berliner Philharmoniker spielten Anfang Juni unter der Leitung Paul Pellas zweimal Mahlers Achte Symphonie, am 24. Juni dirigierte Alexander Zemlinsky seine Maeterlinck-Lieder und Anton Webern seine Passacaglia sowie zwei von Bergs Drei Orchesterstücken op. 6. Initiiert und finanziert – einschließlich Bergs Reise nach Berlin – hatte die Musikwoche der junge Wiener Dirigent Pella.

Die Universal Edition sicherte Alban Berg zu, die Oper Wozzeck und seine Orchesterwerke zu drucken – aber das sollte noch dauern. Für das Konzert in der alten Philharmonie musste man kurzfristig Abschriften der Stimmen besorgen, die Berg vier Jahre zuvor für Dresden erstellt hatte. Leider konnten nur zwei Proben ermöglicht werden, weswegen der Marsch entfiel. Komponist und Dirigent schickten trotzdem begeisterte Berichte nach Wien. Berg hob hervor, »dass alles sehr gut ausführbar ist: freilich von einem so fabelhaften Orchester wie dieses. Die schwierigsten Phrasen mit Reinheit und unbedingter Richtigkeit der Töne gespielt, dass ich das nie für möglich gehalten hätte.« Und Webern hielt fest: »Der Widerspruch war ganz unbedeutend. Das Orchester hat ganz großartig gespielt.«

Das Auditorium reagierte erstaunlich freundlich. Nicht einmal die Berliner Kritiker wetzten die Messer, wie sie es sonst bei modernen Programmen mit Leidenschaft taten. Und wie sie es gut zwei Jahre später auch wieder tun sollten, als die Berliner Lindenoper den Wozzeck aus der Taufe hob. Das meiste davon war präfaschistoides Gesudel, nur wenige Autoren bemühten sich um eine seriöse Beurteilung von Bergs Schaffen. Aber es gab auch vereinzelt Zustimmung, ja sogar ein lautes Presselob – allerdings nicht in Sachen Musik: zehn Tage nach der Opernpremiere berichtete die Berliner Morgenpost darüber, wie der Komponist geistesgegenwärtig einen Mann von den Schienen des U-Bahnhofs Friedrichstadt zerrte und vor dem unmittelbar darauf einfahrenden Zug rettete. Selbst dafür reichten die Kräfte des schwerkranken Asthmatikers. Vor einem Insektenstich jedoch musste sein Körper zehn Jahre später kapitulieren. Alban Berg starb 1935 an einer Blutvergiftung.

Volker Tarnow ist Musikkritiker für Berliner Morgenpost, Opernwelt und Fono Forum.

Konzerthinweis

• Mi 01.11.23 20 Uhr

Do 02.11.23 20 Uhr

Fr 03.11.23 20 Uhr

Großer Saal

Berliner Philharmoniker

Kirill Petrenko Dirigent

Wolfgang Amadeus Mozart Symphonie Nr. 29 A-Dur KV 201

Alban Berg Drei Orchesterstücke op. 6 (revidierte Fassung von 1929)

Johannes Brahms Symphonie Nr. 4 e-Moll op. 98

Vom 26. August bis zum 18. September 2023 startet das Berliner Konzertleben mit dem Musikfest Berlin in die neue Spielzeit, veranstaltet von den Berliner Festspielen in Kooperation mit den Berliner Philharmonikern.