Leseprobe "Berliner Weiße mit Schuss"

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plante jetzt ein Investor Wohnungen und Büros für zahlungskräftige Mieter. Die Firma Kurz & Klein gehörte nicht zu denen, die hundert Euro für den Quadratmeter berappen konnten, und falls sie es könnte, würde sie es nicht ums Verrecken tun. Lange hatten sie nach etwas Besserem gesucht als dieser Wohnung im Zille-Milieu mit Innenklo. Doch entweder war es zu teuer oder unbezahlbar. Zudem liefen die Geschäfte in letzter Zeit eher schleppend. Weniger in Sachen Versicherungs- und Kreditbetrug, für die sein Partner zuständig war, als in seinem Betätigungsfeld Ehebruch/Bigamie/Scheinheirat. Niemand in Prenzlauer Berg schien mehr Zeit oder Lust zum Fremdgehen zu haben. Er fing an, sich Sorgen zu machen um den guten Ruf seines Viertels, das im Sozialismus berüchtigt war für seine kriminellen, unsittlichen und politisch unzuverlässigen Bewohner. John vermisste die alten Zeiten nicht, litt nur selten unter dem neuen Biedermeier, obwohl die politisch korrekte Empfindlichkeit der Neu-Prenzlberger ihn manchmal nervte. Dass man auf die Straße gehen konnte, ohne fürchten zu müssen, von bröckelnder Fassade oder Dachziegeln erschlagen zu werden, war den Untergang der DDR wert, für die er sein halbes Arbeitsleben als Kripobeamter geschuftet hatte. Und doch fühlte er sich an diesem ersten Sonntag im Mai unwohl wie lange nicht. Sein Gefühl sagte, etwas kam auf ihn zu, das sein mehr oder weniger geordnetes Leben durcheinanderwirbeln würde wie Leas Tod. Um auf andere Gedanken zu kommen, räumte er seinen Schreibtisch auf und machte sich an die Aufstellung seiner Honorare zur längst fälligen Steuererklärung. Keine Tätigkeit, die das Wohlbefinden steigerte und den Tag ausfüllte. ***

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