Die China-Strategie (Leseprobe)

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Yu Zhang ĺź ĺ˝§

Die China-Strategie Erfolgreiches Networking im Reich der Mitte Who is Who in China

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2012 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebra-wissenschaft.de Lektorat: Robert Zagolla, Berlin Umschlag: Ansichtssache, Berlin Innengestaltung: Friedrich, Berlin Schrift: Liberation Sans 10/12 pt Druck: Finidr, Český Těšín ISBN 978-3-95410-001-9

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Inhalt

Vorwort Was Sie über China wissen sollten

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Kommunikation und Verständigung

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Religion, Glaube und Philosophie

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Chinesische Feiertage

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Verwaltungsstruktur und Großstädte

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Chinas geopolitische Bedeutung

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Chinas Wirtschaft

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Aktuelle Entwicklungstendenzen der chinesischen Wirtschaft

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1. Ungleichheit und Angleichung in den Regionen

27

2. Wachstum und Konsolidierung der privaten Wirtschaft

29

3. Internationalisierung

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4. Parallele Entwicklung von Export- und Konsumgesellschaft

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5. Technologiehype

35

China verstehen: Die chinesische Business- und Managementkultur

39

»Bitternisse essen«: Selbstmotivation, Fleiß und Ehrgeiz

40

Konfuzianische Ethik als Verhaltensorientierung

42

Gemeinschaft und Individualismus

44

Hierarchie und Top-Down-Struktur

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»Gesicht« und Anschein

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Harmonie

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Inhalt

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Guan xi: Erfolgreiches Networking auf Chinesisch

55

Das »Vogelnest«: Denken im Zusammenhang

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Vertrauensbildung als A und O

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She de: der elegante Verzicht als Hebel

61

Bescheidenheit und »Selbstbescheidenheit«

62

Li shang wang lai: Freundschaft auf Chinesisch

64

Konfliktmanagement auf Chinesisch

67

Brückenbauer und »Fadenzieher«

69

Hintertüren und Seiteneingänge

71

Geschäftsessen und Fußmassage

73

Geduld: das Salz in der Suppe

75

Herzensangelegenheiten: Geschenkkultur in China

77

Korruption und Compliance

79

Networking für Topmanager

81

Der ideale chinesische Vorgesetzte

82

Lobbying: Zwischen Politbüro und Nationalem Volkskongress

83

High-Connections und Politiker a. D.

88

Golfen, Yachting und Bergsteigen

91

Corporate Social Responsibility und Charity

93

Das EMBA-Phänomen

95

Business-Clubs und sonstige Verbindungen

97

Die Zukunft des Guan xi-Systems

101

Nachwort: China und Demokratie

105

Who is Who in China

113

Politik und Wirtschaft

114

Kunst und Kultur

172

Verzeichnis der Abbildungen und Infokästen

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Danksagung

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Über die Autorin

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Inhalt

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Vorwort China steht aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner strategischen Bedeutung seit Jahren zunehmend im Fokus der weltweiten Aufmerksamkeit. Auch in den deutschen Medien wird beinahe täglich, ob positiv oder negativ, über die aktuellen Entwicklungen im Reich der Mitte berichtet. Spätestens seit Beginn der Griechenlandkrise im Jahr 2011 und den damit einhergehenden Verwerfungen in der Eurozone ist Chinas neue Rolle als Geldgeber und globaler Investor nicht mehr zu übersehen – und das längst nicht mehr nur in Afrika oder Südasien, sondern auch in Amerika und in Europa. Allein 2011 reisten mehrere große Wirtschaftsdelegationen mit chinesischen Spitzenpolitikern nach Europa, um dort Investitionsmöglichkeiten auszuloten. Im Ergebnis wurden milliardenschwere Verträge zwischen europäischen und chinesischen Unternehmen aus verschiedensten Branchen unterzeichnet. Aber auch die chinesische Zentralbank, die über die weltweit größten Devisenreserven verfügt, wird inzwischen als bedeutender Faktor in der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik betrachtet, wie sich zuletzt im Februar 2012 beim Besuch der EU-Spitze in Beijing gezeigt hat: Bei der Rettung des Euro ruhen große Hoffnungen auf einer finanziellen Beteiligung Chinas. Mit Blick auf die deutsch-chinesischen Beziehungen ist das Jahr 2012 von besonderer Bedeutung: Zum einen wird das 40-jährige Jubiläum der diplomatischen Beziehung zwischen beiden Ländern mit einem offiziellen Chinesischen Kulturjahr in Deutschland begangen. Zum anderen verdeutlicht die Rolle Chinas als Partnerland der Hannover Messe einmal mehr, dass die Wirtschaftskontakte zwischen Deutschland und China längst keine Einbahnstraße mehr sind. Deutsche und europäische Unternehmen wollen nicht mehr nur deshalb nach China, weil sie dort günstiger produzieren können, sondern immer öfter, um einen wichtigen Absatzmarkt zu erschließen. Und viele chinesische Unternehmen, die bislang hauptsächlich auf den Vertrieb ihrer preiswerten Produkte in Europa bedacht waren, treten hier inzwischen

Vorwort

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selbstbewusst als Käufer von einzelnen Technologien oder ganzen Unternehmen auf oder gründen eigene Niederlassungen. Dabei werden Investoren wie der IT- und Telekommunikations-Konzern Huawei oder der Maschinenbauer Sany von vielen deutschen Unternehmen und Kommunen mit offenen Armen empfangen. Die Volksrepublik China spielt zur Zeit mehrere Rollen gleichzeitig: Sie ist Entwicklungsland, Schwellenland, Weltfabrik, Exportweltmeister, sozialistische Marktwirtschaft, Dumper und zuletzt auch globaler Investor und (angehende) Weltmacht. Insbesondere die rasante Entwicklung der letzten Jahre macht es dem außen stehenden Beobachter manchmal schwer, hinter dem stetigen Wandel die grundlegenden Prinzipien der chinesischen Gesellschaft und Wirtschaft zu erkennen und zu durchschauen. Dabei ist gerade das für deutsche Unternehmen eine unverzichtbare Voraussetzung für nachhaltigen, dauerhaften Erfolg. Die Kenntnis chinesischer Geschäftspraktiken – bis vor kurzem allenfalls für große Konzerne von Bedeutung – hat sich mittlerweile zum grundlegenden Handwerkszeug auch zahlreicher deutscher Mittelständler entwickelt, die direkt oder indirekt geschäftlich mit China zu tun haben. Zudem kämpfen – anders als noch vor zehn Jahren – immer mehr Kompetenzträger in deutschen Unternehmen um eine Stelle in China. Das Reich der Mitte ist im Kommen und will erkundet werden. Die Nachfrage nach chinabezogenen Studienangeboten und Managementseminaren belegt dieses steigende Interesse. Viele deutsche Manager, denen ich im beruflichen Kontext begegne, befragen mich sehr genau über die Geschäftspraktiken und die Gepflogenheiten in China. Denn während Bilanzen und andere Kennzahlensysteme dort mittlerweile mit denen in Deutschland oder den USA vergleichbar und damit relativ leicht zu handhaben sind, lauern bei den sogenannten Softskills wie Umgangsformen und mentalitätsbedingten Verhaltensweisen zahlreiche Fallstricke und unkalkulierbare Risiken. Gerade im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen entscheidet sich in China häufig die Frage nach Erfolg oder Misserfolg. Weil ich aus meiner täglichen Praxis als Beraterin im deutschchinesischen Dialog weiß, wie unverständlich die chinesische Management-Kultur vielen Deutschen auf den ersten Blick erscheint, möchte

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Vorwort

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ich Ihnen mit diesem Buch den Schlüssel zu einer bei näherer Betrachtung gar nicht so schwer erschließbaren Philosophie an die Hand geben. Nach der Lektüre der folgenden Kapitel werden Sie nicht nur Ihre chinesischen Partner, Kunden oder Mitarbeiter besser verstehen und einschätzen können, sondern Sie werden auch das grundlegende Tool für geschäftlichen Erfolg in China beherrschen – die Kunst des Networking! Dass persönliche Vertrauensbeziehungen wichtig für den geschäftlichen Erfolg sind, ist natürlich auch in Deutschland kein Geheimnis. Während Networking aber hierzulande eher negativ konnotiert ist – wie sich etwa in den Begriffen »Vetternwirtschaft« oder »Vitamin B« zeigt –, ist es in China eher positiv besetzt. Chinesen überlassen Entscheidungen nicht gerne dem Schicksal und suchen stets pragmatische Lösungen, deshalb sind persönliche Beziehungen und aktives Networking in ihren Augen besonders wichtig. Die persönliche Beziehung zwischen Geschäftspartnern ist in China zwar kein Ersatz für juristische Verträge, aber sie sichert diese zusätzlich ab und gibt ihnen gewissermaßen eine emotionale Dimension. Daher ist Networking einer der wichtigsten Bausteine für die China-Strategie. Die Chinesen brauchen zur Bezeichnung dieses Prinzips auch keinen Anglizismus, denn sie haben seit Tausenden von Jahren einen Begriff dafür: guan xi. Ein normales Netzwerk chinesischer Art sieht auf den ersten Blick manchmal aus wie ein verwirrendes »Vogelnest« ohne klare Strukturen. Doch wenn man die dahinter liegende Kausalität einmal begriffen hat, dann steht dem erfolgreichen Networking und dem darauf basierenden geschäftlichen Erfolg nichts mehr im Wege. Dieses Buch hilft Ihnen dabei, denn es liefert den Schlüssel zur chinesischen Networking-Philosophie. Der erste Teil vermittelt grundlegende Informationen über die aktuelle Situation der chinesischen Wirtschaft, Politik und Kultur. Es sind die Basics, über die man beim geschäftlichen Umgang mit Partnern aus China Bescheid wissen sollte. Wenn Sie schon länger im Reich der Mitte aktiv sind und das Land bereits gut kennen, dann können Sie diese Kapitel ruhig überspringen. Der zweite Teil des Buchs vermittelt dann detailliert die Kunst des professionellen und erfolgreichen Networkings auf allen Ebenen –

Vorwort

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sowohl für angehende Führungskräfte und China-Neulinge als auch für gestandene Unternehmer und Topmanager. Die Erläuterung der theoretischen Grundlagen und kulturellen Hintergründe wird dabei stets begleitet von Tipps und Beispielen aus der Praxis. Am Schluss des Buches steht ein Who is Who der 100 derzeit wichtigsten Persönlichkeiten in China. Hier stelle ich die einflussreichsten Entscheider und Opinion Leaders aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Kultur vor, deren Namen jeder kennen sollte, auch wenn er vorerst keine persönliche Beziehung zu Ihnen aufbauen kann oder will. Wer das chinesische Networking-Prinzip verinnerlicht hat, findet aber mit Sicherheit auch Zugang zu Ansprechpartnern, die auf den ersten Blick unerreichbar erscheinen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Erfolg in Ihrem ChinaBusiness. Ihre Yu Zhang 张彧 Berlin, im Frühjahr 2012

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Vorwort

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Was Sie über China Wissen sollten China ist mit einer Fläche von knapp zehn Millionen Quadratkilometern nach Russland und Kanada das drittgrößte Land der Erde. Mit seinen aktuell etwa 1,4 Milliarden Einwohnern stellt es rund ein Fünftel der gesamten Weltbevölkerung. Der überwiegende Teil der Chinesen wohnt im Osten des Landes. Der Westen ist nur dünn besiedelt, da dort Gebirge und Wüsten die Besiedlung erschweren. Das Bevölkerungswachstum beträgt etwa fünf Promille jährlich: Gab es kurz nach der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 erst etwa 550 Millionen Chinesen, werden es im Jahr 2025 nach Schätzungen des Chinese Economic Network schon knapp 1,5 Milliarden sein. In den Jahrzehnten danach wird allerdings mit einem leichten Rückgang der Bevölkerungszahl gerechnet. China ist ein Land mit vielen Facetten und Potenzialen. Unter den 56 Nationalitäten, die auf dem Festland leben, bilden die Han-Chinesen mit fast 92 Prozent die größte Volksgruppe. Die kleinste ethnische Minderheit ist die Lhoba-Nationalität, zu der nur etwa 3.000 Menschen gehören. Die größte Minderheit, die Zhuang-Nationalität, besteht dagegen aus knapp 17 Millionen Menschen. Während die Han-Chinesen im ganzen Land verteilt anzutreffen sind, leben die meisten ethnischen Minderheiten in Randgebieten, die Kasachen zum Beispiel im äußersten Nordwesten und die Yi-Nationalität an der Südgrenze Chinas. Die Angehörigen der 55 Minderheitsnationalitäten sind übrigens nicht der rigiden Ein-Kind-Familienpolitik unterworfen, mit der das Land seit Beginn der 1980 er Jahre versucht, sein rasantes Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen.

Kommunikation und Verständigung Die offizielle Amtssprache in China ist pu tong hua, auch als Hochchinesisch oder Mandarin bekannt. Mandarin ist die einheitliche Schulund Schriftsprache in sämtlichen chinesischen Provinzen und sorgt da-

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So sprechen Sie chinesische Wörter richtig aus

In diesem Buch wird die sogenannte pinyin-Umschrift der chinesischen Sprache verwendet. Dabei werden einige Vokale, Konsonanten oder Silben anders ausgesprochen als im Deutschen. Folgende Grundregeln sollten Sie dabei beherzigen: ao........ wie au c.......... wie tz ch....... wie tsch ei......... wie englisch ai (in wait) en....... wie en (in Namen) eng.... wie öng h.......... wie ch (in Buch) i. .......... wird nach c, ch, r, s, sh, z und zh nicht mit gesprochen ia......... wie ja ian...... wie jen ie......... wie je iong. . wie jung iu. ....... wie englisch eo j. .......... wie dj ong.... wie ung ou ....... wie englisch ow (in low) q.......... wie tj r........... wie englisch r s.......... wie ß sh....... wie sch (Aussprache wie s, aber dabei die Zunge rollen) u.......... nach j, q, x und y wie ü uai...... wie englisch why ue....... wie üä ui. ....... wie englisch way x.......... wie ch (in ich) y.......... wie i z .......... wie ds zh . ..... wie dsch (Aussprache wie z, aber dabei die Zunge rollen)

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Beliebte chinesische Trinksprüche

Versuchen Sie es doch zum Beispiel einmal mit gan bei! (Prost), lao peng you, gan bei! (Gute alte Freunde, Prost) oder you peng zi yuan fang lai, bu yi le hu! (Wenn ein Freund von weit her angereist kommt, ist das keine Freude?).

für, dass sich die Bewohner aller Landesteile miteinander verständigen können. Daneben gibt es aber zahlreiche lokale Dialekte (wie Kantonesisch oder Shanghai-Chinesisch) und die Sprachen der ethnischen Minderheiten (zum Beispiel Mongolisch, Uigurisch oder Koreanisch). Für einen Chinesen aus Shanghai ist Kantonesisch so gut zu verstehen wie Plattdeutsch für einen Bayern, also fast gar nicht. Ohne Chinesisch-Kenntnisse kann man sich in China leicht verirren. Nur in großen Städte wie Beijing oder Shanghai findet man häufig (junge) Leute, die Englisch oder andere Fremdsprachen beherrschen. Daher ist es für Europäer von Vorteil, zumindest einige Wörter und einfache Sätze in Chinesisch sprechen und verstehen zu können. Wer einen chinesischen Trinkspruch ausbringen oder eine Redewendung vom Meister Konfuzius zitieren kann, der zeigt zudem nicht nur Respekt und Interesse gegenüber der chinesischen Kultur, sondern kann auf diese Weise bei geschäftlichen Treffen auch schnell das Eis brechen.

Religion, Glaube und Philosophie Die meisten Chinesen sind Atheisten. Es gibt zwar verschiedene Religionsgemeinschaften wie die Vereinigung der Buddhisten Chinas, die Chinesische Vereinigung der Daoisten, die Islamische Gesellschaft Chinas und die Patriotische Vereinigung der Chinesischen Katholiken, aber diese spielen aufgrund ihrer geringen Zahl von Mitgliedern keine bedeutende Rolle in der Gesellschaft. Nach offiziellen Angaben der chinesischen Botschaft in Deutschland finden sich aber unter den Abgeordneten der Volkskongresse und den Mitgliedern der Politischen Konsultativkonferenzen auf allen Ebe-

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nen immerhin 17.000 leitende Mitglieder der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Die Vertreter der Religionen nehmen also durchaus am politischen Leben teil. Landesweit befassen sich zudem 74 wissenschaftliche Forschungsinstitute mit religiösen Fragen und Strömungen. Allerdings unterscheidet sich das Wesen der Religion in China deutlich von dem im Westen. Während im Christentum zum Beispiel das Leben nach dem Tod eine wichtige Rolle spielt, war dieser Aspekt in China nie von großer Bedeutung. Chinesen sind eher mit der pragmatischen Frage beschäftigt, wie man ein längeres Leben erlangen kann. Konfuzius fragte schon im 5. vorchristlichen Jahrhundert: »Wenn wir noch nicht einmal wissen, was das Leben ist, wie können wir da etwas vom Tod wissen?« Der Tod ist ohnehin bis heute ein großes Tabuthema in China, insbesondere im Geschäftsleben, wo seine Erwähnung oft als schlechtes Omen betrachtet wird. Die Zahl 4 zum Beispiel ist in chinesischen Augen ein Symbol für Unglück, weil 4 (si) in der chinesischen Lautsprache genauso klingt wie das Wort Tod, obwohl es in der Schriftsprache zwei verschiedene Zeichen sind. Beim chinesischen Verständnis von Religion geht es vor allem darum, dass eine übergeordnete Macht das eigene Leben und das der Familie schützen bzw. Glück bringen soll. Im Zentrum des Glaubens stehen anstelle eines Gottes das Leben, die Erde, die Harmonie und das Glück der Menschen. Das heißt allerdings nicht, dass es in China gar keinen Gott gibt. Im Gegenteil: Es gibt sogar mehrere, die man in verschiedenen Lebenssituationen anbeten kann, etwa einen Gott für die Gesundheit, einen für die Ernte, eine Göttin für Familiennachwuchs und sogar einen Gott für das lange Leben. Auch wenn die meisten Chinesen Atheisten sind, sind viele doch zumindest ein bisschen abergläubisch. Nicht zuletzt deswegen sind Handynummern sehr begehrt, die viele Achten oder Neunen enthalten. Denn die Zahl 8 ähnelt in der Aussprache dem Wort fa, also: reich werden; und die Zahl 9 soll die Ewigkeit des Glücks und ein langes Leben garantieren. Mit einer Form von Aberglauben hängt es wohl auch zusammen, dass die größten Spenden in buddhistischen und daoistischen Tempeln gar nicht von frommen Gläubigen geleistet werden,

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Chinas drei Lehren

Konfuzianismus: Meister Konfuzius war politischer Berater und Philosoph, der etwa von 551 bis 479 v. Chr. lebte. Seine Lehren, die in den Schriften späterer Schüler überliefert sind, gehen davon aus, dass man durch tugendhaftes Verhalten in Harmonie mit der ewigen Weltordnung leben könne. Die wichtigsten konfuzianischen Tugenden sind Menschlichkeit (ren), Gerechtigkeit (yi), höfliches Verhalten (li), Weisheit (zhi) und Vertrauen (xin). Daoismus (oder Taoismus): Die daoistische Philosophie entstand im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. und entwickelte sich in China zu einer Religion, deren Anhänger durch Meditation, Gymnastik und andere Riten ein längeres Leben oder gar Unsterblichkeit erlangen wollten. Als Begründer des Daoismus gilt Laozi (»der alte Meister«), dem auch das Dao De Jing (»das Buch vom Dao und seiner Kraft«) zugeschrieben wird. Buddhismus: Die in Indien begründete Religion verbreitete sich seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. auch in China. Die Grundlage der Lehre Buddhas ist die Annahme, dass alles Dasein mit unablässigem Leid verbunden ist, das durch Askese, Meditation und Erkenntnis überwunden werden kann. In der Auseinandersetzung mit dem Daoismus entstand in China die besondere Ausprägung des chan-Buddhismus, die vielen unter dem japanischen Namen Zen bekannt ist.

sondern von konfessionslosen Chinesen, die nach dem Motto handeln: Sicher ist sicher. Sie vertrauen darauf, dass eine schützende und glückbringende Hand mehr nicht schaden und sich im Falle eines Falles als nützlich erweisen kann. Seit einigen Jahren ist es sogar zu einer regelrechten Mode unter erfolgreichen Unternehmern geworden, für sich selbst und ihre Familien kleine Buddhafiguren aus reinem Gold zu erwerben und buddhistischen Tempeln zu spenden. Dort sollen sie dem Erhalt von Glück, Wohlstand, Reichtum und Gesundheit dienen.

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Auch sollte man sich nicht wundern, wenn ein Geschäftspartner ein rotes Bändchen am Arm trägt. Dann befindet er sich vermutlich in seinem ben ming nian, also im Jahr seines Tierkreiszeichens. Nach der Lehre der chinesischen Astrologie befindet man sich alle zwölf Jahre im ben ming nian, und dann können rote Unterwäsche oder rote Gegenstände auf der Haut vor möglichen Schicksalsschlägen schützen. Die Gegenstände dürfen aber nicht selbst gekauft werden, sondern müssen das Geschenk einer engen Bezugsperson sein. Solche Bräuche sind fest im Alltag der konfessionslosen Chinesen verankert und werden von Generation zu Generation weitergegeben. Ebenfalls weit verbreitet ist die Anwendung des feng shui (wörtlich: Wind und Wasser), einem Teil der daoistischen Philosophie, der eigentlich für den Ahnenkult entwickelt wurde, gegenwärtig jedoch vor allem in der Innenarchitektur und Gartenkunst angewendet wird. Diese – inzwischen auch in Europa verbreitete – Praxis ist vor allem bei Chinesen in Hongkong, Kanton, Taiwan und Singapur häufig zu beobachten, aber auch eine große Zahl von Festlandchinesen befolgt mit zunehmender Tendenz bestimmte Regeln des feng shui, wie zum Beispiel die, keine Spiegel gegenüber einer Tür aufzustellen, um so bösen Geistern den Zugang zu erschweren. Neben dem Daoismus prägt auch der Konfuzianismus den Alltag und die Verhaltensweisen in China. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Religion, sondern um eine Lebensphilosophie, eine Denktradition, die seit mehr als 2.000 Jahren die chinesischen Gesellschaftsnormen bestimmt und geistige Orientierung gibt. Während im Westen die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Religionen und Konfessionen stark ausgeprägt ist, steht im ganzheitlichen Denken der Chinesen bis heute das Konzept der Harmonie im Vordergrund. So werden die wichtigsten chinesischen Glaubensrichtungen – Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus – häufig als »die drei Lehren« bezeichnet und als Konzepte betrachtet, die sich gegenseitig ergänzen und befruchten. Der bekannte chinesische Philosoph Lin Yutang (1895 –1976) hat einmal beschrieben, wie sehr sich Chinesen über die Ausschließlichkeitsansprüche westlicher Religionen wundern: »Dem westlichen Geist ist es kaum fassbar, dass die Beziehung von

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Mensch zu Mensch ohne den Gedanken an ein höchstes Wesen fruchtbar gestaltet werden könnte, während es dem Chinesen ganz ebenso erstaunlich vorkommt, dass die Menschen sich nicht auch ohne den Gedanken an einen Gott untereinander anständig benehmen können sollten.« Für Chinesen ist jede Religion nur eine Lehre unter vielen. Sie schließt andere nicht aus. Chinesen sind daher in ihrer Religiosität äußerst flexibel und unterscheiden nicht streng, was zu welcher Richtung gehört. So gibt es Daoisten, die zugleich Buddhisten sind, Buddhisten, die in einer christlichen Kirche spenden oder Atheisten, die es ganz normal finden, wenn sie sowohl buddhistischen als auch daoistischen Tempeln Wohltaten zukommen lassen. Es ist auch keineswegs ungewöhnlich, wenn in derselben Familie für Hochzeiten ein daoistischer Priester, aber zu Beerdigungen ein buddhistischer Mönch bestellt wird. In China ist eben vieles pragmatisch, auch der Umgang mit den Religionen.

Chinesische Feiertage Obwohl die meisten chinesischen Arbeitnehmer weit geringere Urlaubsansprüche haben als ihre Kollegen in Deutschland, können sie sich dennoch über relativ viele freie Tage freuen. Es gibt nämlich in China elf allgemeine gesetzliche Feiertage, die gut über das Jahr verteilt sind: einen freien Tag zum Jahreswechsel am 1. Januar (yuan dan), einen zum Tag der Arbeit am 1. Mai und drei um den Chinesischen Nationalfeiertag am 1. Oktober. Je nach Mondkalender ergeben sich verschiedene Termine für die weiteren Feiertage: drei Tage um das Chinesische Neujahr (chun jie), auch Frühlingsfest genannt, und je ein Tag zum Totengedenkfest (qing ming-Fest, meistens im April), zum Drachenboot-Fest (duan wu-Fest, meistens Mitte Juni) und zum Mondfest (zhong qiu-Fest, meistens im September). Zusätzlich gibt es noch eine Reihe besonderer Feiertage für bestimmte gesellschaftliche Gruppen. So haben berufstätigen Frauen zum Weltfrauentag am 8. März einen halben Tag frei. Außerdem gibt es jeweils einen freien Tag für alle Schulkinder am 1. Juni zum Weltkindertag, für die Mitglieder der Kommunistischen Partei am 1. Juli und für die Angehörigen des Militärs zum Geburtstag der Volksbefreiungsarmee am 1. August.

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Fällt ein gesetzlicher Feiertag in China auf einen Samstag oder einen Sonntag, so wird er in der Regel am darauffolgenden Wochentag nachgeholt. Oft werden Feiertage auch zum kommenden Wochenende hin verschoben (also auf den Freitag oder Montag), damit drei oder mehr Tage in Folge arbeitsfrei sind. Weil diese verlängerten Wochenenden häufig für Familientreffen oder Fernreisen genutzt werden, gibt es um die großen Feiertage herum oft kilometerlange Staus, überfüllte Wartehallen sowie Chaos in Bahnhöfen, Fernbusstationen und Flughäfen. Für westliche Geschäftsleute ist es wichtig zu wissen, dass in China auch kurz vor den Feiertagen kaum noch gearbeitet wird – insbesondere in öffentlichen Behörden und einheimischen Unternehmen. Für die Zeit kurz vor dem Frühlingsfest oder dem Nationalfeiertag sollten Sie also besser keine dringenden Behördengänge oder wichtigen Verhandlungen einplanen, es sei denn, ein solcher Termin liegt auch im Interesse Ihres chinesischen Partners oder Sie verfügen über gute Beziehungen.

Verwaltungsstruktur und Großstädte China besteht aus 22 Provinzen, fünf autonomen Gebieten, den zwei Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macao sowie vier regierungsunmittelbaren Städten. Letztere sind zudem auch die bevölkerungsreichsten des Landes: Chongqing mit 32 Millionen Einwohnern, Shanghai mit 18,9 Millionen, Beijing mit 15,5 Millionen und Tianjin mit 10,5 Millionen. Zu den größten Metropolen zählen daneben auch Chengdu (10,5 Millionen Einwohner) und Shenzhen (12 Millionen Einwohner), das sich als Sonderwirtschaftszone vom einst kleinen Fischerdorf binnen weniger Jahrzehnte zu einer boomenden Großstadt entwickelt hat. Das ganze Land ist zentralistisch strukturiert. Die Entscheidungs- und Verwaltungsorgane der Zentralregierung – wie der Volkskongress, der Staatsrat, die Ministerien und die politische Konsultativkonferenz – finden sich auch in den Strukturen auf der Provinz-, Stadt-, und Kommunal-Ebene wieder. Offiziell ist das höchste Entscheidungsorgan in China der Nationale Volkskongress, der alle wichtigen Gesetzesvorlagen und -änderungen

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Übersicht über das chinesische Regierungs- und Verwaltungssystem

Nationaler Volkskongress gebildet durch Delegierte aus den Nationalkongressen auf der Provinz-, Stadt-, Kreisstadt-, und Kommunalebene

Ständiger Ausschuss des Nationalen Volkskongresses

Nationale Politische Konsultativkonferenz (auf zentraler und lokalen Ebenen)

Staatspräsident

Staatsrat (Premier und Fachminister)

Zentrale Militärkommission

Höchstes Volksgericht

Höchste Volksstaatsanwaltschaft

Provinzregierung

Militärkommission der Provinz

Volksgericht der Provinz

Staatsanwaltschaft der Provinz

… der Stadt

… der Stadt

… der Stadt

… der Kreisstadt

… der Kreisstadt

… der Kreisstadt

… der Kommune

… der Kommune

… der Kommune

berät und festlegt. Allerdings sind sowohl der Vorsitzende als auch die Mitglieder des Ständigen Ausschusses des NVK Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas, die neben der staatlichen Verwaltung eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben spielt. Bei den meisten Entscheidungen hat die Partei das letzte Wort, während die staatlichen Institutionen vor allem mit der Umsetzung betraut sind.

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Damit dieses Prinzip reibungslos funktioniert, entspricht die Parteistruktur weitgehend dem oben skizzierten Aufbau der Staatsorgane: Die Entsprechung des Nationalen Volkskongresses ist der alle fünf Jahre stattfindende Parteitag, das Pendant zum Staatsrat ist das Zentralkomitee der Partei, und der Generalsekretär der Partei ist in seiner Funktion mit dem Staatspräsidenten vergleichbar. Das Exekutivorgan der Kommunistischen Partei ist das Politbüro, das sich aus 25 Mitgliedern des Zentralkomitees zusammensetzt. Innerhalb des Politbüros wiederum bildet der Ständige Ausschuss das kleine, aber entscheidende Machtzentrum von Partei und Staat. Auf allen Ebenen sind viele sich entsprechende Partei- und Staatsämter mit der gleichen Person besetzt; insbesondere die Mitglieder des Zentralkomitees sind als Minister oder in anderen leitenden Positionen an der Staatsführung beteiligt. Die Partei ist zudem durch Parteisekretäre nicht nur in Provinzen, Städten, Kreisstädten und Kommunen vertreten, sondern auch in Staatsunternehmen und staatlichen Einrichtungen wie Forschungsinstituten oder Universitäten.

Chinas geopolitische Bedeutung Je rasanter und erfolgreicher Chinas Wirtschaft wächst, desto verbreiteter ist die Angst vor China als einer nicht saturierten Macht, die eine akute oder zumindest potenzielle Bedrohung für den Westen darstellt. Immer noch verwenden viele Medien Begriffe wie »hungriger Riese« oder »gelbe Gefahr« und entwerfen damit das Bild von einem Land, das politisch eine tickende Zeitbombe darstellt, von einem bedrohlichen Riesen, der vorhat die Welt aufzukaufen und zu erobern. Die tatsächlich vorhandenen Defizite in den Bereichen Demokratie, Menschenrechte und Umweltschutz verstärken diese negative Perspektive noch zusätzlich. Auch in Deutschland ist in allen gesellschaftlichen Schichten eine verbreitete Angst zu spüren (»Die Chinesen kommen!«). Immer wieder werde ich von Menschen angesprochen, die – unabhängig von beruflichem Background und persönlicher Lebenssituation – solche Gefühle hegen. Das China-Bild fällt dabei umso undifferenzierter und negativer aus, je geringer der Lebensstandard des Betreffenden ist.

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Seit einigen Jahren wird im Westen eine geopolitische und geoökonomische Debatte über das Verhältnis zwischen den USA, der EU und China geführt. Die Frage, wie die Machtverteilung auf der internationalen Bühne zukünftig aussehen wird, ist spätestens seit der jüngsten Wirtschaftskrise in den USA präsenter denn je. Wie wird sich die chinesische Machtposition entwickeln? Muss der Westen sich vor China fürchten? In China selbst stellt man sich dagegen ganz andere Fragen. Dort wird von vielen die immer noch vorhandene Ambition der USA kritisiert, als »Weltpolizist« aufzutreten und sich in die Angelegenheiten anderer Länder einzumischen. Die chinesische Außenpolitik begreift man dagegen auch als Kampf für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands zwischen den Kontinenten. Innenpolitisch ist das moderne China – nicht zuletzt mit Blick auf die soziale Ungleichheit und die Umweltproblematik im Lande – keineswegs mit sich im Reinen. Chinas Machtelite ist gespalten. Während die Vertreter der Neuen Linken (überwiegend Vertreter der Nomenklatura und Sozialwissenschaftler) für mehr gesellschaftliche Stabilität und ein langsameres Wirtschaftswachstum plädieren, setzen die Neuen Rechten (überwiegend Volkswirtschaftler und Entscheider aus der Wirtschaft) weiter auf den bislang eingeschlagenen Weg des schnellen Wachstums. Hinzu kommen noch zwei weitere politische Strömungen: die aus den Kindern hoher Kader bestehende »Partei der Prinzen« (tai zi dang) und ein Zusammenschluss einiger hochrangiger Politiker auf der höchsten Regierungsebene. Auch innerhalb dieser politischen Gruppen gibt es wiederum jeweils links- oder rechtsorientierte Mitglieder. Nach einem Vortrag in Berlin sprach mich vor einigen Jahren einer der Zuhörer, ein deutscher Richter im Ruhestand, auf die Parallelen zwischen den Lehren des Meisters Konfuzius und denen des italienischen Staatsmanns Niccoló Machiavelli an. Tatsächlich wird Machiavelli in den aktuellen politischen Debatten in China häufig zitiert. Nach Ansicht der Neuen Linken ist die derzeitige politische Entwicklung vergleichbar mit jener in der europäischen Renaissance. Der englische Publizist und China-Experte Mark Leonard fasst diesen Gedanken in seinem Buch »Was denkt China?« so zusammen: Für Machiavelli war die Macht nicht auf die zwei Ebenen Staat und Volk verteilt,

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sondern vielmehr auf drei Gruppen: den Fürsten (den Einen), den Adel (die Wenigen) und das Volk (die Vielen). Modern ins Chinesische übersetzt wäre »der Eine« die Kommunistische Partei, »die Wenigen« wären die Superreichen und »die Vielen« das Volk. Machiavelli lehrt, dass sich immer zwei Gruppen zuungunsten der dritten verbünden können, also der Eine mit den Wenigen gegen die Vielen – oder der Fürst mit dem Volk gegen den Adel. Die erste Variante prägte die chinesische Politik in den 1980 er Jahren: die Kommunistische Partei und die neue Gruppe der Superreichen betrieben gemeinsam eine Politik, die auf die Bedürfnisse des einfachen Volkes wenig Rücksicht nahm. Verantwortlich dafür war unter anderem die sogenannte ShanghaiGuppe um den damaligen Staatspräsidenten und KP-Generalsekretär Jiang Zemin, die für schnelles Wirtschaftswachstum stand. Jiangs Nachfolger Hu Jintao änderte seit 2002 diesen Kurs, wenn auch eher vorsichtig. Unterstützung findet er dabei bei den Mitgliedern der Kommunistischen Jugendliga, den sogenannten tuan pai, die besonders in den weniger entwickelten Binnenprovinzen stark vertreten sind. Diese Gruppe befürwortet ein stärker reguliertes Wachstum, eine stärkere Berücksichtigung von Problemen wie der sozialen Ungleichheit und der Umweltverschmutzung und ein stärkeres Engagement des Staates in den Bereichen Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit. Hu hat daher im 11. und 12. Fünfjahresplan bis 2015 die sogenannte »harmonische Gesellschaft« und eine nachhaltige Entwicklung ins Zentrum seines Programms gestellt. Hier liegt also nach dem Modell von Machiavelli ein Bündnis zwischen dem Fürsten und den Vielen vor, denn Hu und sein Premier Wen Jiabao bevorzugen nicht mehr die Superreichen, sondern bemühen sich vor allem um Arbeiter und Bauern, bei denen der wachsende Wohlstand bislang noch nicht angekommen ist. Nicht zuletzt deshalb wird Wen von vielen »Volkspremier« genannt und als solcher landesweit verehrt. Das politische System Chinas ist indes nicht so beschaffen, dass der Sieger alles bekommt. Neue Rechte und Neue Linke brauchen einander, um sich zu definieren. Das Kräftegleichgewicht zwischen den beiden Gruppen ist fein austariert, auch wenn inzwischen die Neuen Linken etwas Oberhand gewonnen haben. So erhielten bei den letzten

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Wahlen für den Ständigen Ausschuss des Politbüros auf dem 17. Parteitag von 2007 beide Gruppen etwa gleich viele Sitze. Politisch befindet sich das Reich der Mitte im Wandel, ob sich aber der linke oder der rechte Kurs durchsetzen wird, ist noch nicht ausgemacht. Gleichzeitig wächst außenpolitisch Chinas Bedeutung für die Weltordnung. Spätestens seit der Griechenland- und Eurokrise sieht man das Land in Europa auch als Investor und Geldgeber. Wirtschaftspolitisch spielt es auf jeden Fall jetzt schon eine wichtige Rolle. In der UNO, bei der WTO und bei allen wichtigen Gipfeltreffen ist China vertreten und präsentiert sich zunehmend selbstbewusst: Während die chinesische Führung früher in kritischen Fragen häufiger zur Stimmenthaltung neigte, legt sie in letzter Zeit durchaus auch mal ein Veto ein. Statt einer Politik der leisen Stimme betreibt China neuerdings eine aktive Außenpolitik, wie man etwa beim Umgang mit der Euro-Krise oder der Haltung in Sachen Syrien erleben konnte. Bereits vor zehn Jahren erschien ein Buch mit dem Titel »China kann nein sagen!« (zhongguo keyi shuo bu). Dass es sich mit über zwei Millionen verkauften Exemplaren schnell zum Bestseller entwickelte, ist ein Beleg dafür, dass viele Chinesen von der Haltung der USA enttäuscht und stolz auf die Erfolge Chinas sind. Der Titel des Buches, der damals noch vor allem als Appell an die eigenen Landsleute gedacht war, beschreibt heute die Realität. In diesem Kontext ist anzumerken, dass in China (vor allem in den jüngeren Generationen) ein starkes Nationalgefühl, ein Stolz auf die Errungenschaften des Heimatlandes zu beobachten ist. Die älteren Generationen sind zurückhaltender, setzen aber immerhin auf das Prinzip der gleichen Augenhöhe: Wenn früher eine chinesische Delegation nach Deutschland reiste, verabschiedeten sich die Teilnehmer meist mit dem bescheidenen Satz: »Vielen Dank, dass wir von Ihnen lernen durften.« Das hat sich geändert. Der Abschied ist immer noch höflich, aber deutlich selbstbewusster: »Vielen Dank, dass wir uns austauschen konnten.« Bislang zeigt China keine Ambitionen, die Vorherrschaft der angelsächsisch geprägten Ökonomie zu beenden; es will lediglich als gleichberechtigter Partner akzeptiert werden. Aber wenn die nächste Phase des chinesischen Wirtschaftswunders beginnt, könnte sich dieser Zustand schnell ändern. Es bleibt also spannend zu beobachten, wie sich

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die Machtposition Chinas in den kommenden zehn Jahren entwickeln wird. Auf jeden Fall wird diese Entwicklung maßgeblich davon abhängen, ob sich der wirtschaftliche Aufstieg des Landes weiter fortsetzt.

Chinas Wirtschaft In China herrscht die sogenannte sozialistische Marktwirtschaft, von anderen als chinesischer Kapitalismus bezeichnet – ein Modell, das sich in den letzten dreißig Jahren als äußerst erfolgreich erwiesen hat. Die Wirtschaft des Landes ist mit einem durchschnittlichen Tempo von ca. neun Prozent jährlich gewachsen, zum Teil sogar mit zweistelliger Rate. Zugleich fand ein Modernisierungsschub statt: Wachstum entstand nicht nur durch Wohlstandsgewinn, sondern auch auf der Basis von effizient eingesetztem Kapital und zukunftsorientierter Wirtschaftspolitik. Nachdem viel Geld in Forschung und Entwicklung investiert wurde, möchte China heute vor allem als innovatives Ideen- und Technologiezentrum wahrgenommen werden und nicht mehr nur als Weltfabrik. Zahlreiche chinesische Wirtschaftsdelegationen bereisen jährlich die westlichen Industrieländer, um die neuesten technischen Entwicklungen zu entdecken und von anderen zu lernen. China ist seit 2009 regelmäßig Exportweltmeister. Zu den aufstrebenden chinesischen Industriezweigen gehören unter anderem die Textilindustrie, der Bereich Elektrotechnik, die Baustoffindustrie und die Metallverarbeitung; aber auch die Bereiche Chemie, Maschinenbau und Fahrzeugbau können steigende Zahlen vermelden. Ein gutes Beispiel ist der chinesische Autohersteller BYD, der eine Kooperation mit Daimler und RWE eingegangen ist, um Elektroautos für den deutschen Markt zu entwickeln. Die geplante Europazentrale des Unternehmens soll in Deutschland errichtet werden. In China sind Wirtschaft und Politik aufs engste miteinander verzahnt. Während in Deutschland die Wirtschaft nur auf der Makroebene gelenkt wird, ist sie in China weitestgehend von der Politik abhängig. Der Nationale Volkskongress beschließt regelmäßig den Fünfjahresplan für die volkswirtschaftliche Entwicklung des Landes. Einmal sagte ein Topmanager aus Deutschland zu mir, dass der Fünfjahresplan für ihn der beste Trendbericht für China sei. Dem kann ich nur voll und

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ganz zustimmen: Aus diesem Plan kann man tatsächlich alle fünf Jahre die aktuellen wirtschaftlichen und wirtschaftpolitischen Entwicklungstendenzen des Landes herauslesen. Die wirtschaftliche Entwicklung Chinas in den letzten 30 Jahren lässt sich in drei Phasen unterteilen, die von den jeweiligen Machthabern an der Staatsspitze bestimmt wurden. Die erste Phase des »reich werden« dauerte vom Beginn der Reformpolitik bis in die Mitte der 1990 er Jahre und war geprägt vom Reformpolitiker Deng Xiaoping. Für den Aufbau des neuen Wirtschaftssystems unternahm man Modellversuche, insbesondere in der südostchinesischen Küstenregion mit ihren vier Sonderwirtschaftszonen. Hierfür übernahmen Chinas Politiker westliche Wirtschaftspraktiken und passten sie an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten an. Für ausländische Unternehmen, die in dieser Zeit in den chinesischen Markt einstiegen, war der Start aufgrund mangelnder Erfahrungen sehr bürokratisch und damit langwierig. Sofern sie – wie etwa Siemens oder Volkswagen – einen langen Atem bewiesen haben, verschaffte ihnen ihr früher Start allerdings eine hervorragende Ausgangsbasis, die häufig einen bis heute andauernden Erfolg begründet hat. Die zweite Phase dauerte von Mitte der 1990 er Jahre bis etwa 2002/2003 und war geprägt von einer dynamischen Aufwärtsbewegung und großen Wachstumssprüngen unter Leitung von Jiang Zemin und seinem Premier Zhu Rongji: Mit Hochdruck wurden eine Reihe staatlicher Unternehmen privatisiert und marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen im gesamten Land geschaffen. Dabei standen die marktorientierte Entwicklung des Landes, die zunehmende Bedeutung der privaten Wirtschaft und der Ausbau des Infrastrukturnetzes im Vordergrund. Der Nachholbedarf war enorm und gab der Entwicklung eine beispiellose Schubkraft. Fast alles, was an Wissen, Konsumgütern und Technologien aus dem Westen kam, war willkommen und wurde teilweise ohne Anpassung an die eigenen, oft sehr unterschiedlichen Gegebenheiten übernommen. Typisch hierfür ist das Transrapid-Projekt in Shanghai – die weltweit erste kommerzielle Magnetschwebebahn-Strecke, die Ende 2002 in Betrieb genommen wurde: Auch heute, zehn Jahre später ist diese Technik noch nirgendwo er-

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folgreich eingesetzt worden. In dieser Ära wurde Shanghai zum Schaufenster und Wirtschaftszentrum Chinas ausgebaut. Diese Entwicklung hing eng mit der politischen Macht der bereits erwähnten Shanghaier Gruppe zusammen, zu der auch Jiang Zemin und Zhu Rongji gehörten. Zhu legte in seiner Regierungserklärung 1998 ein furioses Programm vor: Es sah die Reform des Regierungs- und Verwaltungsapparats vor, die Reform der Staatsunternehmen und die Reform der Banken und Finanzmärkte. Zhu war darüber hinaus eisern entschlossen, gegen den erbitterten Widerstand der Bürokratie und der Staatsunternehmen die Konzessionen durchzusetzen, die Chinas Aufnahme in die WTO im Jahr 2002 ermöglichten. Auch die Einrichtung zahlreicher so genannter High-Tech-Investmentzonen ist kennzeichnend für die zweite Phase. Für diesen Zweck erhielten alle Provinzhauptstädte und einige weitere Millionenstädte – wie zum Beispiel Ningbo, Suzhou oder Tianjing – große politische Unterstützung und entsprechende Spielräume, Eigeninitiative zu ergreifen und ausländische Investoren anzusprechen. Dank günstiger Rahmenbedingungen wie vorteilhafter Grundstücks- und Energiepreise sowie zeitlich begrenzter Steuervergünstigungen schossen die Investmentparks aus dem Boden wie Bambussprossen nach dem Regen. In vielen Provinzhauptstädten gibt es heute mehrere derartige Investmentzonen. Anfangs waren die Ansiedlungskonzepte noch etwas unsystematisch; inzwischen setzen fast alle Zonen auf eigene Schwerpunkte, die allerdings flexibel den gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen angepasst werden. Die dritte Phase der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas begann etwa 2003/2004 und wird von Staatspräsident Hu Jintao und Premier Wen Jiabao geprägt. Sie ist vom Streben nach Stabilisierung des wirtschaftlichen Erfolgs und Festigung der weltpolitischen Position Chinas gekennzeichnet. Im Kern beschäftigt sich die chinesische Regierung verstärkt mit Themen wie der Harmonisierung der Gesellschaft oder auch der Energieneinsparung und -effizienz. Nach Schätzungen von Reuters wird das chinesische Bruttoinlandsprodukt in den kommenden Jahren um rund 50 Prozent auf

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7,5 Billionen US-Dollar anwachsen; damit hätte China den Nachbarn Japan endgültig hinter sich gelassen und würde weiter zur weltgrößten Volkswirtschaft, den USA, aufschließen. Nach Auffassung von Zhang Ping, dem Direktor der Staatlichen Kommission für Entwicklung und Reform, dem höchsten volkswirtschaftlichen Planungsorgan in China, liegt der Schlüssel für die Fortsetzung des Aufwärtstrends in der weiteren Liberalisierung der Rohstoffpreise, der Steigerung der Inlandsnachfrage durch Einkommensverbesserungen für die einfachen Arbeiter und die Erhöhung der Sozialausgaben sowie in der Bereitstellung von preisgünstigen Wohnungen. Auffallend in dieser Entwicklungsphase ist die Rolle von jüngeren bzw. zum Teil parteilosen Führungskräften auf der hohen politischen Ebene. So war etwa der Vizeumweltminister Pan Yue bei seinem Amtsantritt 2003 gerade 43 Jahre alt und damit einer der jüngsten Minister in China. Ein anderes Beispiel ist die Benennung von Wan Gang zum Technologieminister: Der ehemalige Präsident der renommierten Tongji Universität in Shanghai ist nicht Mitglied der Kommunistischen Partei.

Aktuelle Entwicklungstendenzen der chinesischen Wirtschaft 1. Ungleichheit und Angleichung in den Regionen Chinas Wirtschaftsentwicklung ist keinesfalls homogen. Zu Beginn der Wirtschaftsreformen Ende der 1970 er und Anfang der 1980 er Jahre wurden zuerst die vier Sonderwirtschaftszonen Shenzhen, Zhuhai, Santou und Xiamen an der südchinesischen Ostküste entwickelt. Ihnen folgten weitere Städte und Regionen, vom nordostchinesischen Shangdong über die mittelchinesischen Provinzen Jiangsu und Zhejiang bis hin zur südchinesischen Provinz Guangdong. Heute sind diese vier Provinzen die Regionen mit dem größten Pro-Kopf-Einkommen und dem höchsten Steueraufkommen in China. Die chinesische Regierung ist bemüht, die wirtschaftlichen Erfolge an der Ostküste abzusichern und parallel dazu weitere Teile des Landes, insbesondere den Westen, in eine ähnliche Richtung zu entwickeln. Bereits heute sind Städte wie

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Chongqing, Chengdu oder Wuhan in West- und Zentralchina aufstrebende Metropolen mit strategischer Bedeutung. Ein wichtiger Aspekt bei der »Go-West«-Kampagne ist die aktive Vermarktung der Standorte. Neben Investoren aus dem Ausland werden dabei auch inländische Investoren angesprochen, die nach günstigen Produktionskapazitäten mit niedrigeren Personalkosten Ausschau halten. Gerade für einheimische Unternehmen sind die enormen Arbeitskraftreserven und die Marktpotenziale von Chinas Westen durchaus attraktiv. Die offiziellen Stellen versuchen dies zu nutzen, um den Abstand zwischen der Entwicklung in den städtischen Regionen und im ländlich-agrarisch geprägten Raum zu verringern. Die Stadt Chengdu zum Beispiel geht hier mit gutem Beispiel voran: Die lokalen Spitzenpolitiker präsentieren sich weltoffen und gestalten ihre Ansiedlungspolitik effizient und zuverlässig. Die Stadtverwaltung von Chongqing, ebenfalls eine der progressivsten im Lande, investiert sogar mehrmals im Jahr in Werbeveranstaltungen und Delegationsreisen nach Deutschland, um dort Unternehmen von den Vorzügen der eigenen Region zu überzeugen. Die Resultate können sich sehen lassen: Mittlerweile haben sich in Chongqing und Chengdu zahlreiche Unternehmen aus den Bereichen Maschinenbau, Elektronik, Automobilindustrie, Flugzeugbau und erneuerbare Energien angesiedelt. Fast zeitgleich wurde mit Hochdruck das bislang unentdeckte Zentralchina entwickelt. Dabei handelt es sich um die sechs Provinzen Shanxi, Anhui, Jiangxi, Henan, Hubei und Hunan. Mit über einer Million Quadratkilometer beträgt die Fläche dieser Provinzen etwa zehn Prozent der Gesamtfläche Chinas. Hier leben 360 Millionen Menschen, also ca. 28 Prozent der gesamten chinesischen Bevölkerung. Das Gebiet verfügt über reiche Ressourcen, ist verkehrsmäßig gut angebunden und gilt als wichtige Produktions- und Exportbasis von Getreide, Energie und Rohstoffen. Dabei sind die Städte Wuhan (die Hauptstadt der Provinz Hubei), Changsha (die Hauptstadt von Hunan) und Nanchang (die Hauptstadt von Jiangxi) die Schwerpunkte der Entwicklung. Trotz aller Bemühungen der Zentralregierung werden sich Chinas Regionen allerdings mittel- bis langfristig auch weiterhin unterschiedlich entwickeln. Gleichzeitig wird sich jedoch die wirtschaftliche Lage

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der Großstädte, vor allem der Provinzhauptstädte, immer stärker der in den Metropolen wie Shanghai oder Shenzhen angleichen. Die Überwindung des überall zu beobachtenden Stadt-Land-Gefälles erfordert dagegen großes Lenkungsgeschick bei den zuständigen Behörden. 2. Wachstum und Konsolidierung der privaten Wirtschaft Seit Beginn der Wirtschaftsreformen findet in China ein tief greifender Wandel der Unternehmensstruktur statt. Die in den 1980 er Jahren allmählich einsetzende Privatisierungswelle erlebte Mitte der 1990 er Jahre ihren Höhepunkt. Der Staat unterstützt aber weiterhin das private Unternehmertum durch Förder- und andere Hilfsprogramme. Laut Auskunft der chinesischen Industrie- und Handelskammer gab es Ende 2010 in China 7,5 Millionen Privatunternehmen, die meisten davon im Osten des Landes, und zwar hauptsächlich in den nahe Shanghai gelegenen Provinzen Zhejiang und Jiangsu. Private Unternehmen erfüllen inzwischen wichtige Funktionen, zum Beispiel bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, bei der Güterversorgung sowie bei der Entwicklung von Technologien und Innovationen. Sie erwirtschaften die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts und stehen hinter 70 Prozent der technischen Innovationen und 60 Prozent der Patente. Viele erfolgreiche private Unternehmen verfügen heute über eine beachtliche Größe und genießen – anders als noch zu Beginn der Wirtschaftsreformen – in der chinesischen Gesellschaft ein hohes Ansehen. Auf einen staatlich gesicherten Arbeitsplatz zu verzichten und stattdessen eigenverantwortlich ein Gewerbe zu betreiben, galt bis Anfang der 1990 er Jahre den meisten Chinesen als äußerst risikoreich und leichtsinnig. Für diejenigen, die ihre Stelle bei einem Staatsunternehmen oder einer Behörde aufgaben, um sich selbständig zu machen, prägte der Volksmund den Begriff xia hai, was soviel bedeutet wie: Ins kalte Meer springen, oder deutlicher: Sehenden Auges in das eigene Verderben rennen. Heute werden die chinesischen Unternehmer dagegen als Motoren des Erfolgs gefeiert. Sie werden umworben, Mitglied in der Kommunistischen Partei zu werden, und sind gern gesehene Mitglieder des Nationalen Volkskongresses oder der Politischen Konsultativkonferenz, was eine besondere Anerkennung ihrer wirtschaftlichen Leis-

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tung bedeutet – und ihnen nicht zuletzt eine perfekte NetworkingPlattform bietet. Chinesische Privatunternehmen sind in der Mehrzahl kleine und mittelständische Unternehmen. Allerdings bemühen sich viele darum, durch internationale Kooperationen oder einen Börsengang an einer ausländischen Börse frisches Kapital zu erhalten und zu wachsen. Für den Erfolg solcher Bemühungen sind Unternehmen wie LDK Solar in der Energiewirtschaft oder Sany aus dem Maschinenbausektor gute Beispiele, auch wenn sie mit ihrer Kapitalstärke und Unternehmensgröße noch Einzelfälle darstellen. Viele Ökonomen beklagen, dass die meisten privaten Unternehmen in China im Vergleich zu den Staatsbetrieben eine relativ schwache Stellung haben. Sie tragen eine höhere Steuerlast, sind mit stärkerem Wettbewerb konfrontiert und haben kaum eine Chance, in die von staatseigenen Großkonzernen dominierten, lukrativen Branchen wie zum Beispiel Energieversorgung oder Telekommunikation einzusteigen. Im Jahr 2009 erhöhte sich der Nettogewinn der größten 500 Privatunternehmen um 40 Prozent; er lag aber mit umgerechnet 26 Milliarden Euro immer noch unter dem summierten Nettogewinn von China Mobile und PetroChina, den beiden größten staatlichen Unternehmen in China. Um ihre Interessen besser vertreten zu können, haben sich viele private Unternehmen deshalb zu Branchen- und Industrieverbänden zusammengeschlossen, die von den ebenfalls existierenden halbstaatlichen Verbänden unabhängig sind. Aufgrund ihrer flexiblen und pragmatischen Haltung engagieren sich die meisten privaten Unternehmer gleichzeitig in mehreren Verbänden. Nicht zuletzt aufgrund dieser Aktivitäten wird die Lobby der privaten Wirtschaft eine zunehmende Bedeutung innerhalb Chinas erlangen. Die Privatwirtschaft hat zur Zeit noch andere Probleme zu bewältigen. Viele erfolgreiche Unternehmen haben in Immobilien investiert und sind, wenn sie diese Investments durch Kredite (teil-)finanziert haben, im Zuge der strengen Regulierung der Immobiliengeschäfte durch die Zentralregierung und strengerer Richtlinien zur Kreditvergabe durch die Banken in Schwierigkeiten geraten. Ähnlichen Herausforderungen stehen auch die Eisenbahnindustrie gegenüber. Seit

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