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Die militärische Vergangenheit

Soldatische Traditionen für die Bundeswehr

»Jede Armee braucht Wurzeln in die Vergangenheit, Anknüpfung und Abstützung an überlieferte Werte, die sich bewährt haben und die heute helfen können, die Aufgaben der Gegenwart zu erfüllen. Wir nennen das Tradition. Die Traditionen der Bundeswehr reichen durch die Wehrmacht hindurch weit in die Vergangenheit hinein. Sie stützt sich auf die preußischen Reformen am Anfang des 19. Jahrhunderts. Damals forderte der General Gerhard von Scharnhorst die innige Verknüpfung von Volk und Armee. Das war das Gegenteil der Söldnerarmee des 18. Jahrhunderts. Die Einführung der Wehrpflicht, die Abschaffung der Prügelstrafe, die Öffnung der Offiziersstellen für bürgerliche Bewerber leiteten sich aus diesem Ziel ab. Auch die überlieferten unverzichtbaren Tugenden des Soldaten sind in das Soldatengesetz unserer Republik übernommen worden. Hierzu gehören vor allem der treue Dienst, Tapferkeit, Gehorsam, Kameradschaft, beispielhaftes Verhalten der Vorgesetzten und Fürsorge für die Untergebenen. Sie sind heute gesetzliche Pflichten.

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Der spätestens seit Helmuth von Moltke gepflegte Führungsstil der Auftragstaktik verbindet die Forderung einer gewissenhaften Auftragserfüllung mit der Freiheit in der Durchführung und entspricht damit auch demokratischen Vorstellungen. Nicht zuletzt ist die handelnde Rolle von Soldaten der Wehrmacht im Widerstand gegen Adolf Hitler ein grundlegendes Element der Tradition der Bundeswehr. Das Gewissen steht über dem Gehorsam, wenn Befehle Recht und Menschenwürde brechen oder verachten sollen.«

Ulrich de Maizière, 2005 brücken. Die Reformen erfassten das Militärwesen und den Staat insgesamt. Der Vordenker für die Staatsreform war Karl Freiherr vom und zum Stein, der in seiner Nassauer Denkschrift von 1807 die Belebung des Bürgersinns, die Abflachung des hierarchischen Gefälles zwischen Obrigkeit und Untertanen sowie eine deutliche Ermunterung zu gemeinschaftsbezogenem Engagement gefordert hatte.

Nicht zufällig knüpfte man knapp 150 Jahre später bei der inneren Ausgestaltung der Bundeswehr an genau diese Sichtweise an. Der politisch-militärische Zusammenbruch der preußischen Militärmonarchie 1806 war zwar längst nicht so dramatisch wie die Niederlage Deutschlands 1945. Aber richtig ist, dass sich in den Jahren um die damalige Jahrhundertwende tief grei- fende Veränderungen des Kriegsbildes und der gesellschaftlich-politischen Herrschaftsformen vollzogen, auf die man mit politischen und militärischen Reformen antworten musste, um den Niedergang aufzuhalten. Diese Veränderungen liefen in ihrer Summe auf eine Industrialisierung und Technisierung des Krieges hinaus. Der Krieg beschränkte sich nicht mehr auf Schlachten an der Front, sondern bezog tendenziell das gesamte Territorium und die gesamte Wirtschaftskraft der Kontrahenten ein. Um dem gerecht zu werden, brauchte es ein neues Gesamtkonzept zur Integration des Militärs in die Gesellschaft, zur Erzeugung staatsbürgerlicher Verantwortung für die Streitkräfte sowie ein neues Bild vom Soldaten mit einer gefestigten Kampfmoral.

Zu den innermilitärischen Reformen zählten unter anderem die Abschaffung der brutalen Körperstrafen und des Adelsprivilegs für Offiziersstellen, die erhebliche Verbesserung der Ausbildung des Offiziersnachwuchses, die Einführung gemischter Heeresbrigaden mit Kontingenten verschiedener Waffengattungen, das Einüben neuer taktischer Grundformen, die Neuordnung der Militärverwaltung und die Schaffung eines Kriegsministeriums.

In der nach 1815 einsetzenden Restaurationsperiode blätterte viel von dem Reformlack wieder ab. Dennoch blieb der Modernisierungsdruck auf Wirtschaft, Wissenschaft und Weltanschauung stark spürbar.

Blut und Eisen

Das, was für uns heute Deutschland ist, nahm erst nach einem langen historischen Vorlauf im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts politische Gestalt an. Die gegen Napoleons Heere ausgefochtenen Befreiungskriege zwischen 1813 und 1815 waren motiviert von nationaler Begeisterung für ein einiges und postfeudales Deutschland. Damals griff man weit in die Vergangenheit zurück, um den Mythos der Nation zu beleben: Zum Beispiel bemühte man den Kampf der Cherusker gegen die römische Fremdherrschaft, der seinen Höhepunkt in der Schlacht im Teutoburger Wald gefunden habe.

Nach 1815 setzten sich bei der Gestaltung der europäischen Nachkriegsordnung jedoch die partikularen Interessen der Fürsten durch, die mehrheitlich dem Ziel der nationalen Einheit skeptisch gegenüberstanden oder sich gegenseitig blockierten. Der Weg zur Gründung des Deutschen Reiches führte durch drei Einigungskriege: den deutsch-dänischen Krieg 1864, den preußisch-österreichischen Krieg 1866 und den deutsch-französischen Krieg 1870/71.

Das von Historikern als »Macht- und Militärstaat« bezeichnete Reich wurde mit »Blut und Eisen« zusammengebracht – so die seinerzeit überwiegend zustimmend bis enthusiastisch aufgenommene Formulierung von Bismarck, die dieser in einer Rede vor der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses Ende September 1862 geäußert hatte: Nicht durch »Reden und Majoritätsbeschlüsse« würden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch »Blut und Eisen«, also durch gut ausgerüstete Streitkräfte und Soldaten, die ihr Leben einsetzten.

Ohne das direkte Zutun Bismarcks entwickelte sich im Kaiserreich ein breit gefächerter gesellschaftlicher Militarismus, für den es ungezählte Beispiele gibt: von der Sitzordnung bei Hofe über die herausgehobene Stellung des Reserveoffiziers bis hin zu solchen Vorgängen wie der Aktion des Hauptmanns von Köpenick im Oktober 1906. Der Schuhmacher Voigt hatte sich dabei als Hauptmann verkleidet und mithilfe eines Trupps Soldaten den Bürgermeister von Köpenick verhaftet sowie die Stadtkasse entwendet.

Wie ein Echo auf diese Eskapade klingen die Worte des Reichstagsabgeordneten Elard von Oldenburg-Januschau vom 29. Januar 1910: »Der König von Preußen und Deutsche Kaiser muss jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag.« Das war gewiss nicht repräsentativ für die ganze wilhelminische Gesellschaft, schon gar nicht für die Sozialdemokratie. Aber während diese den preußisch-deutschen Macht- und Militärstaat kritisierte und seinen Untergang prophezeite, hielt die Mehrheit diese Konstruktion erstens für zukunftsträchtig und zweitens für einen angemessenen Ausdruck des »deutschen Wesens«.

Totaler Krieg

Das 19. Jahrhundert ist durch eine merkwürdige Schieflage gekennzeichnet. Auf der einen Seite entwickelten sich Wirtschaft und Industrie sowie die Wissenschaften mit großem Schwung. Modernisierung und Technisierung beflügelten überoptimistische Zukunftsentwürfe aller Art. Das Militär hatte regen Anteil an diesen Prozessen. Manche Innovationen im Verkehrswesen und der Kommunikationsinfrastruktur wären ohne den Bedarf des Militärs in

Deutschland nicht so rasch vorangekommen, zum Beispiel der Ausbau des Eisenbahnnetzes und der Telegrafie.

Auf der anderen Seite luden sich die gesellschaftlichen Konflikte weiter auf. Gar nicht so wenige Überbleibsel feudaler Herrschaftsstrukturen, ein politisch und ökonomisch selbstbewusster werdendes Bürgertum und die über ihre gewerkschaftlichen und parteipolitischen Organisationen erstarkende Arbeiterschaft waren nicht auf einen Nenner zu bringen. Deshalb blieben politische und soziale Modernisierungsprozesse oft auf halbem Weg stehen.

Am eindrucksvollsten ist diese Schieflage in der Figur von Kaiser Wilhelm II. verkörpert: einerseits in seinem Selbstverständnis »von Gottes Gnaden« legitimiert, andererseits ein Förderer der angewandten Wissenschaften und der Zukunftsindustrien.

Die durch und durch militarisierte politische Kultur des wilhelminischen Reiches besaß zwar auch ihre zivilen, ja antimilitärischen Enklaven. Aber letztlich war der Militarismus in allen Gesellschaftsschichten verankert, vergleichsweise am wenigsten noch in der klassenbewussten Arbeiterschaft. Die schon in den Schulen verbreitete Vorstellung vom Krieg als der entscheidenden und edelsten Form der Politik zwischen Staaten war Allgemeingut.

Der imperial ausgreifende Nationalismus mit seinen kolonialen Ambitionen erweiterte das Aufgabenspektrum der Streitkräfte. Dies war im Übrigen kein auf Deutschland beschränkter Vorgang, sondern ließ sich überall in Europa und, mit Einschränkungen, auch jenseits des Atlantiks beobachten. Eine Ära der Massenarmeen hatte begonnen, die starke Impulse durch die machtpolitischen Rivalitäten zwischen den europäischen Großmächten erhielt.

Der Begriff des totalen Krieges kam in Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg (1914–18) in Gebrauch, etwa in einer kleinen programmatischen Schrift des Generals a. D. Erich Ludendorff aus dem Jahr 1936. Tatsächlich aber war schon der Erste, ebenso wie dann der Zweite Weltkrieg (1939–45), in voll ausgeprägter Weise ein totaler Krieg, also eine gewalttätige Konfrontation nicht nur von Streitkräften, sondern von ganzen Gesellschaften mit all ihren Ressourcen. Alles wurde ausnahmslos in den Dienst der Kriegsführung gestellt, die Differenz zwischen ziviler und militärischer Sphäre wurde zugunsten letzterer eingeebnet.

Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte Ernüchterung, aufseiten der Verlierer sowieso, aber auch bei den Siegermächten, jedenfalls in Europa. So wie der Krieg die »gesamte Kraft eines Volkes« (Ludendorff) beansprucht und mit ihr Raubbau getrieben hatte, so waren nun überall Ermattung und Erbitterung zu beobachten. Der Erste Weltkrieg ist in gewissem Sinne völlig zu Recht als die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts bezeichnet worden. Ähnlich empfanden das viele Menschen in Europa. Allerdings reichte der Schock nicht so tief, um eine Wiederaufnahme des Kampfes nach denselben Mustern, nur mit noch zerstörerischeren Waffen, nach etwas mehr als 20 Jahren zu verhindern.

Die Reichswehr als Reichsverweser

In Deutschland fanden sich die wenigsten mit der militärischen Niederlage nach dem Ersten Weltkrieg ab. Dadurch kam die sogenannte Weimarer Republik, entstanden nach der Abdankung des Kaisers und einem quasi-revolutionären Regimewechsel, von Anfang an in Bedrängnis – vor allem, was ihre Legitimität und die Akzeptanz von Parlament und Regierung betraf. Die von Ludendorff und Hindenburg am Kriegsende in die Welt gesetzte »Dolchstoßlegende«, wonach das kaiserliche Heer nicht vom Gegner auf dem Schlachtfeld, sondern durch innenpolitischen Verrat besiegt worden war, stieß auf mehr Zustimmung als Zurückweisung.

Die monarchistischen Eliten waren zwar teilweise entmachtet, aber nach wie vor stark genug, um einen effizienten »Druck von rechts« auszuüben, dem auch ein »Druck von links« nichts anzuhaben vermochte. Stattdessen warfen sich Rechte und Linke meistens ungewollt, zuweilen aber auch absichtlich die politischen Bälle zu und vermehrten so zielbewusst die Hilf- und Erfolglosigkeit der Anhänger der Weimarer Republik.

Was die Rolle der Reichswehr angeht, so wurde und wird sie meist als ein »Staat im Staate« bezeichnet, als eine Organisation, die sich nicht so sehr als Teil und schon gar nicht als Verteidiger der Republik sah. Ihre Soldaten waren der Mühe enthoben, sich ernsthaft auf die neue Demokratie und ihre Spielregeln einzulassen, denn im Zentrum ihrer Loyalität standen nicht die Einrichtungen des neuen Staates – sei es die Verfassung, der Reichspräsident oder das Parlament –, sondern vielmehr eine aus dem Kaiserreich herübergezogene »Idee des Reiches«. Dennoch stimmt die Formulierung von der Reichswehr als einem »Staat im Staate« nur halb. Eher könnte man das Selbstverständnis ihrer Führung als das eines Reichsverwesers beschreiben. Ein Reichsverweser vertritt den Monarchen in der Zeit der Thronvakanz, für die es verschiedene Gründe geben kann.

Am 10. November 1918 kam es zu einem mündlichen Abkommen zwischen General Groener, Nachfolger Ludendorffs in der Obersten Heeresleitung, und dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert, Vertreter des Rates der Volksbeauftragten, in dem das Militär seine Loyalität gegenüber der Regierung erklärte und dieser militärische Unterstützung zusicherte. Diese Übereinkunft richtete sich gegen einen drohenden Putsch der Kommunisten und befestigte zugleich nachdrücklich die Selbstvorstellung der Streitkräfte als Reichsverweser.

Nicht zufällig kursierte für den im April 1925 zum Reichspräsidenten gewählten und wegen seiner Rolle im Krieg von vielen als Held verehrten Paul von Hindenburg das Etikett des »Ersatzkaisers«. Er verkörperte damals für eine Mehrheit der Deutschen die Hoffnung, dass aus den Trümmern der Niederlage von 1918/19 das Reich phönixgleich wiederauferstehen werde. Als entscheidendes Instrument für diesen Wiederaufstieg sah sich die Reichswehr, und dieses Selbstbild wurde nicht nur aufseiten der Rechten, sondern bis weit in die demokratischen Parteien hinein akzeptiert. Anders gesagt: Es gab in der Weimarer Republik einen die politischen Lager übergreifenden Wehrkonsens.

Die Reichswehr strebte nicht die direkte Herrschaft an, sondern die nationenweite Wehrbereitschaft. Dabei überwand ihre Führung, mit Unterstützung aus dem labilen politischen Establishment der Republik, geschickt zahlreiche Restriktionen, die ihr der Versailler Vertrag auferlegt hatte. Die Reichswehr spielte in den 1920er-Jahren bei inneren Konflikten oftmals eine

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