Reform des Innovationssystems zur Bewältigung aktueller Krisen und zukünftiger Herausforderungen

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Reform des Innovationssystems zur Bewältigung aktueller Krisen und zukünftiger Herausforderungen angehen Beteiligung – Koordination - Umsetzung

18. Mai 2022 Der Krieg in Europa zwingt unser Land durch die Neujustierung der Rohstoffversorgung und steigende Energiepreise dazu, die begonnenen Pfade zur Steigerung des Anteils regenerativer Energien und die Verfolgung unserer Nachhaltigkeitsstrategien noch entschlossener voranzubringen. Die geostrategischen Verwerfungen haben auch großen Einfluss auf Lieferketten und Absatzmärkte. Die Bewältigung der aktuellen Krise und künftiger Herausforderungen wird nur mit einem Bündel von Maßnahmen gelingen, die unsere Resilienz, Agilität und Souveränität stärken. Dafür müssen wir jetzt all unsere Innovationskraft entfesseln und rasch Lösungen auf allen erforderlichen Ebenen bereitstellen. Jetzt ist die Zeit zu handeln. Eine Reform des Innovationssystems ist nötig, die in kürzester Zeit die Forschungsaktivitäten steigert, Ideen erprobt, Lösungen skaliert und in breite Anwendung bringt. Wirtschaft, Staat und Gesellschaft werden einen tiefgreifenden Wandel bewältigen müssen, den es zu gestalten gilt. Die Transformation der Wirtschaft und der Erhalt von Arbeitsplätzen muss jetzt mit einer Forschungs- und Innovationsoffensive unterstützt werden. Worum wir schon zuvor gerungen haben – rasche Genehmigungsverfahren, Digitalisierung von Förderprogrammen, freiere Kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, mutigeres Experimentieren und Erproben sowie höhere Investitionen (auch des Staates) in Forschung und Innovation – müssen jetzt wie im Zeitraffer geschehen, bevor wir in noch größere Notlagen geraten. Die Herausforderungen sind nicht allein auf nationaler Ebene zu bewältigen. Dazu braucht es Europa und starke Verbündete. Dennoch muss die unmittelbare Umsetzung des jetzt Nötigen von der deutschen Politik angepackt werden: 1. Unmittelbare Beteiligung der Industrie an allen relevanten Forschungs- und Innovationsstrategien der Bundesregierung, um eine rasche Umsetzung vorhandener und künftiger Problemlösungen zu gewährleisten. 2. Koordination der Innovationspolitik stringent von höchster Stelle vornehmen und alle Ressorts hinter gemeinsamen Zielen versammeln, Doppelungen aufheben, Intransparenz beseitigen. 3. Anwendungsorientierte Industrieforschung mit einem starken Push versehen und deren Förderung in themenoffenen und Fachprogrammen stärken: Bemessungsgrundlage und Fördersatz der Forschungszulage anheben, ZIM und IGF finanziell absichern, Zugänglichkeit

Dr. Carsten Wehmeyer | Digitalisierung und Innovation | T: +49 30 2028-1580 | c.wehmeyer@bdi.eu | www.bdi.eu


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erweitern und Budget verdoppeln, Förderformate und Programme den Anforderungen der Nutzenden anpassen. 4. Transfer aus der Forschung in die Anwendung mit allen Mitteln treiben: Fossile Energieträger müssen schnellstmöglich substituiert, Schlüsseltechnologien in Anwendung gebracht werden. Ausgründungen vereinfachen und vervielfachen, vielfältige Möglichkeiten zur Erprobung neuer Lösungen zulassen. 5. Förderleistungen über digitalisierte Angebote bereitstellen, beschleunigen und flexibilisieren; alle positiven Lehren aus der Impfstoffentwicklung und -produktion unmittelbar zur Lösung der aktuellen Herausforderungen in effizientere Prozesse umsetzen.

Zur Bewältigung aktueller Krisen und zukünftiger Herausforderungen muss die Bundesregierung ihre Innovationspolitik jetzt an diesen Punkten ausrichten: 1. Innovationsorientierung zur Krisenbewältigung in das Zentrum rücken: Für die Erreichung gemeinsamer und übergreifender Ziele im Innovationssystem muss eine Einheit beispielsweise direkt im Kanzleramt das Thema ganzheitlich vorantreiben und koordinieren. Die Regierungsparteien haben in ihrem Koalitionsvertrag selbst angekündigt, „ressort- und behördenübergreifende agile Projektteams und Innovationseinheiten mit konkreten Kompetenzen“ einsetzen zu wollen. Auch wenn die neue Bundesregierung mit der Neubesetzung und der Ressortumgestaltung einen ersten Schritt zur Neuordnung von Verantwortlichkeiten vorgenommen hat, reicht diese Justierung nicht als Antwort auf die aktuelle Krisensituation. Gerade im Bereich Forschung und Innovation darf es im Handeln kein bloßes „weiter so“ geben. Innovationspolitik aus einem Guss, bei der die Ressorts weiterhin für ihre Aufgaben zuständig und verantwortlich sind, aber übergreifend koordiniert werden, muss das Gebot dieser Tage wie auch der Legislatur insgesamt sein.

Was jetzt zu tun ist Ziel: Bessere Koordinierung in der Umsetzung der Innovationspolitik Maßnahmen: -

Innovationseinheit einsetzen, die die Koordinierung übernimmt;

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Innovationshemmende konkurrierende Doppelungen in Zuständigkeiten und Programmen beseitigen;

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Silodenken überwinden, indem Projektstrukturen als Standard etabliert und verwaltungsinterne Hierarchien und Entscheidungsstrukturen stärker horizontal ausgerichtet werden, um Querschnittsthemen besser als solche bearbeiten zu können.

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2. Anwendungsorientierte Industrieforschung für mehr und schnellere Wertschöpfung zur starken zweiten Säule der Innovationsförderung ausbauen: Unternehmen stemmen zwei Drittel aller Forschungsaufwendungen Deutschlands. Das Thema Industrieforschung spielte aber im Koalitionsvertrag keine Rolle. Der Staat muss die Förderung der unternehmerischen Forschung aus aktuellen und industriestrategischen Gründen auf OECD-Durchschnittsniveau heben und neben der Grundlagenforschung zur gleichberechtigten zweiten Säule der Forschungsförderung ausbauen, wenn auch das 3,5%-Ziel erreicht werden soll.

Was jetzt zu tun ist Ziel: Mehr Forschungsaktivitäten in der Industrie auslösen Maßnahmen: -

Bestehende Forschungsprogramme ausbauen und die Anforderungen der Industrie an eine adäquate Beteiligung berücksichtigen;

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Forschungszulage ausbauen, bewährte Strukturen wie die der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) sowie des ZIM finanziell absichern und das Programm über die bisherige Unternehmensgrößenbeschränkung hinaus öffnen;

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Kooperationsprogramme ausbauen und mehr Mittel in Kooperationsprojekte mit direkter Beteiligung der Industrie fließen lassen, um die Vernetzung zwischen Akademia und Industrie zu fördern;

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Qualitative Erweiterung des 3,5%-Ziels im Rahmen der Umsetzung einer neuen HightechStrategie;

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Einrichtung eines Zukunftsfonds oder einer Zukunftsquote im Bundeshaushalt;

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KMU-Definition für die Förderung von FuE im Mittelstand in Schritten auf 1.000 / 2.000 / 3.000 Mitarbeiter ausweiten;

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Erprobung neuer Forschungsfördermethoden/-instrumente durch agile Projektteams aus Industrie und Politik.

3. Neue Hightech-Strategie unter Einbeziehung der Industrie entwerfen und an Wertschöpfungsfragen, Sicherheitsfragen und Resilienzgesichtspunkten ausrichten: Zur Bewältigung gegenwärtiger und künftiger Herausforderungen muss eine neue Dachstrategie von Beginn an Impulse im gesamten Innovationssystem, also in Wissenschaft, Wirtschaft, Staat und Gesellschaft auslösen und alle Akteure so einbinden, dass sie auch Verantwortung an der Erreichung der Ziele tragen. Dafür müssen Missionen konkret und erreichbar definiert werden. Hierbei muss die gesamte Innovationskette mitgedacht werden, angefangen bei der Forschung, über die Unterstützung durch staatliche Strukturen und Förderprogramme bis zur Pilotierung und ersten praktischen Erprobung z. B. in Reallaboren sowie der Hochskalierung. Nur

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so kann gewährleistet werden, dass in konkreten Missionen die Stakeholder aller Teile des Innovationssystems Verantwortung tragen und zur Anwendung der Forschung in echten Lösungen beitragen müssen. Für das Gelingen muss die Wirtschaft als der das Verwertungsrisiko tragende Teil des Innovationssystems bereits eng in die Konzeption der neuen Strategie einbezogen werden. Eine Strategie, die am grünen Tisch ohne die notwendigen Partner zu deren Umsetzung geplant wird, kann keinen Erfolg haben. Wenn sich die neue Dachstrategie auch strukturell von ihren in Transferfragen verbesserungswürdigen Vorgängerinnen unterscheiden soll, bedarf es auch einer passgenauen Auswahl von Organisationen oder Partnern, die die Leitung, Besetzung oder inhaltliche Koordinierung von Begleitgremien übernehmen sollen. Hilfreich wären Projektmanagementstrukturen zur Verbesserung der Umsetzung und der Koordination; hierbei gilt es, die Industrie über den gesamten Innovationsprozess und die gesamten Wertschöpfungsnetze adäquat zu repräsentieren. Beim Aufsetzen der Hightech-Strategie und ihren auch zur Lösung der aktuellen Krise orientierten Zielen ist nun Eile geboten, damit sie ihre Wirksamkeit schnellstmöglich entfalten kann.

Was jetzt zu tun ist Ziel: Neue Dachstrategie unter Beteiligung der Industrie unmittelbar zur Wirkung bringen Maßnahmen: -

Industrie eng in die Konzeption aller neuen Strategien einbeziehen;

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Passgenaue Auswahl für die Leitung, Besetzung und inhaltliche Koordinierung von Begleitgremien wählen;

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Missionen zusammen mit der Industrie definieren, an aktuellen Herausforderungen orientieren und innerhalb des nächsten Quartals aufsetzen;

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Für die Krisensituation und darüber hinaus vereinfachte und beschleunigte Förderverfahren sowie neue Förderinstrumente entwickeln, Reallabore nutzen, um innovative Ansätze in die Umsetzung zu führen.

4. Transfer auf allen Ebenen vorantreiben, auf die Gründung einer DATI verzichten: Mit der geplanten Gründung einer Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) will die neue Bundesregierung die anwendungsorientierte Forschung und den Transfer zur Schaffung und Stärkung regionaler sowie überregionaler Innovationsökosysteme unterstützen. Die Industrie hält das zuletzt in den Eckpunkten vom 11. April 2022 vorgelegte Konzept nicht für überzeugend. Die angestrebte Förderung der unterentwickelten anwendungsorientierten Forschung in den mittelbauarmen und auf Lehre ausgerichteten Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) und niederschwellige Innovationen aus den Regionen sind aus Sicht der Industrie nicht der entscheidende Hebel, um Deutschland zurück an die Spitze der Innovationsnationen zu führen. Auch den Rückstand bei einzelnen Schlüsseltechnologien oder die dringend benötigten Innovationen zur Bewältigung der Nachhaltigkeitsherausforderungen bedürfen anderer Ansatzpunkte. Die von der Bundesregierung benannten Defizite bedürfen zunächst einer

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eingehenden Analyse und Diskussion mit Wirtschaft und Wissenschaft, bevor neue Strukturen angedacht werden.

Was jetzt zu tun ist Ziel: Neue Instrumente für den Transfer umsetzungsorientiert und industrienah gestalten Maßnahmen: -

Um den Transfer aus der Forschung in Innovationen darüber hinaus weiter voranzutreiben und Technologien rasch erproben und skalieren zu können, müssen mehr Transferplattformen, Demonstrations- und Pilotanlagen, Reallabore sowie regionale Experimentierräume gefördert werden.

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Für den Fall, dass die Bundesregierung gegen den Rat der Industrie eine DATI gründen sollte, muss Folgendes gewährleistet sein: o

Passgenaues und komplementäres Einsetzen der DATI in das vorhandene Innovationssystem;

o

Sicherstellen, dass keine finanzielle und inhaltliche Kannibalisierung der DATI mit schon existierenden erfolgreichen Programmen erfolgt;

o

Sicherstellen, dass alle relevanten Akteure des Technologietransfers Zugang zur DATI haben;

o

Antragsstellungs-, Begutachtungs-, Bewilligungs- und Abrechnungsverfahren der DATI transparent und wenig zeitaufwändig, die Verwaltungsstrukturen agil und schlank gestalten.

5. Deutschland beschleunigen – Verfahren vereinfachen und effektivieren: Krisensituationen mobilisieren oft die schnelle Umsetzung guter Ideen. Die Corona-Impfstoffentwicklung ist das beste Beispiel. Kaum jemand hätte geahnt, dass die von der Bundesregierung angestrebten vereinfachten und beschleunigten Verfahren der Forschungsförderung für Krisensituationen und prioritäre Handlungsfelder so schnell und umfänglich benötigt werden würden. Jetzt brauchen wir diese größere Agilität. Dafür müssen, wie zur Beschleunigung der Energiewende, auch im Innovationssystem und der Forschungsförderung Verfahren vereinfacht, Hürden abgebaut und Prozesse verschlankt werden. Beschleunigungs-Taskforces aus interdisziplinär zusammengesetzten Teams aus Forschung, Industrie und Verwaltung könnten Schwachstellen identifizieren und Blockaden aufheben helfen.

Was jetzt zu tun ist Ziel: Die Verwaltung auf das Niveau der Unternehmen beschleunigen

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Maßnahmen: -

Bisher analoge Verwaltungsverfahren zügig und umfassend digitalisieren und Behörden angemessen mit modernster IT ausstatten. Entscheidend für den Erfolg und Voraussetzung einer echten Verwaltungsmodernisierung ist die Schaffung wesentlicher Grundlagen für eine vollständig digitale Abwicklung der Prozesse zwischen Verwaltungen und Unternehmen. Dazu zählen ein voll einsatzfähiges und bundesweit einheitliches Unternehmenskonto für die Authentifizierung, die zügige Modernisierung der Registerlandschaft für die Verwirklichung des Grundsatzes der einmaligen Datenerfassung (Once-Only), die konsequente Ausrichtung von Gesetzen auf einen digitalen Vollzug (Digitalcheck), die Reduzierung bestehender Schriftformerfordernisse mittels Generalklausel sowie die strukturelle und kontinuierliche Einbindung von Unternehmen als Power-User;

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Die Anforderungen aus der Forschung und Technologieentwicklung der produzierenden Industrie an das Genehmigungsrecht und die -verfahren berücksichtigen;

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Rein elektronischer und digitaler Schriftverkehr, einschließlich der Akzeptanz elektronischer Unterschriften;

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Die von der Bundesregierung angestrebten vereinfachten und beschleunigten Verfahren der Forschungsförderung für Krisensituationen und prioritäre Handlungsfelder unmittelbar operationalisieren;

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Vereinfachung und Digitalisierung der Förderprozesse durch klare Prozesse mit definierter Bearbeitungszeit von der Ausschreibung bis hin zur Förderentscheidung – diese sollten direkt mit der Ausschreibung klar kommuniziert werden;

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Flexible Gestaltung von Projektlaufzeiten, die, wenn erforderlich, auch einen Projektabbruch ermöglichen;

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Freiheitsgrade schaffen und nutzen (für ALLE Forschungsförderinstrumente u. -programme); Reallabore für neue und agile Förderformate;

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Harmonisierung der Antragstellung und digitale Projektabwicklung – wünschenswert wären hier einheitliche bearbeitbare, digitale Arbeitsvorlagen und Formulare von der Projektskizze bis hin zum Verwendungsnachweis und ein bundesweites Portal zur elektronischen Abwicklung von Förderprojekten.

Wir müssen jetzt verkrustete Strukturen aufbrechen, unser Land für die Gegenwart befähigen und auf das Kommende vorbereiten. Deutschland muss sich weiter zu einem der attraktivsten globalen Standorte für die Erforschung und Anwendung von Technologien zur Lösung der drängenden Gegenwarts- und Zukunftsfragen verwandeln. Dies ist nur möglich, wenn die deutsche Industrie in die Weiterentwicklung des Innovationssystems und der Forschungsförderinstrumente eng eingebunden wird.

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Impressum Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) Breite Straße 29, 10178 Berlin www.bdi.eu T: +49 30 2028-0 Lobbyregisternummer: R000534

Redaktion Dr. Carsten Wehmeyer Referent Digitalisierung und Innovation T: +49 30 2028-1580 c.wehmeyer@bdi.eu

BDI Dokumentennummer: D 1542

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