MAX JOSEPH #4 Münchner Opernfestspiele 2017

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Beobachterposition. Spiel und Repräsentation kreuzen sich in installa­ tiven Anordnungen, die die Rolle des ­Publikums infrage und auf die Probe stellen, indem die klassische ­Bühnensituation auch durch einen technologisch erweiterten Orchesterklang durchbrochen wird. Die Klänge eines zwölfköpfigen Instrumentalensembles werden durch ein 4D-Spatialsoundsystem und visuelle Projektionsflächen architektonisch geformt. Beethovens Musik trifft an der imaginären Grenze von Alt und Neu auf die Klangvisionen Benedikt Brachtels, der sich als „­Bartellow“ einen Namen in der elektronischen Clubszene gemacht hat. Sein feinsinniger, von rauschenden Frequenzen durchzogener Sound hat keine Angst vor treibenden Rhythmen und minimalen Repetitionen, überraschenden Glitches und scheinbar zufälligen Klangereignissen. Frei von ästhetischen Dogmen lässt seine unhierarchische Musikauffassung alte Stoffe neben elektronischen Klängen bestehen. Damit entspricht er den medialen Vorgaben der Digitalisierung, die jedem immer und alles zur Verfügung stellt: „Der Komponist wird zum Selektor, dem die Aufgabe zufällt, Sinn herauszufiltern.“ Benedikt Brachtel weiß um die Funktio­ nen und Möglichkeiten des Digitalen, die das Selbstverständnis des Musiktheaters als multimediales ­ Gesamtkunstwerk im Kern be­ ­ treffen: Virtualität, Hybridität und neue Technologien versteht er als öffnende Erweiterungen der Kunstform Oper. Claudia Irro vergleicht die Forschungsreihe Prozessor und speziell [catarsi] mit einem Katalysator – also einem chemischen Stoff, der eine Reaktion bewirkt. Und auf Rückwirkungen zielt auch das Musiktheaterkollektiv AGORA – nicht nur mit Blick auf die oben beschriebene (Re-) Aktivierung des Publikums, sondern auch in der künstlerischen Kollek­ tivarbeit: „Bei uns denkt etwa der ­Bühnenbildner auch über musika­

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lische und der Komponist ebenso über dramaturgische Entscheidungen nach“, erklärt Irro, „so kommt man zu anderen Ergebnissen“ – und dem selbstgesteckten Ziel näher, das „Phänomen Oper in Bezug auf ­ ­Institutionalisierung, auditive und visuelle Rezeptionsweisen durch den Zuschauer sowie Narrativität und Aktualität zu untersuchen“. Das Spielzeitthema Was folgt ergibt sich aus Sicht von A ­ GORA nicht zuletzt aus einer ­affektiven Berührung des Publikums, das bei [catarsi] durch eine musiktheatrale Katharsis ­geschickt wird.

AGORA ist ein 2015 entstandenes Musik­­­thea­terkollektiv, dem derzeit die Künstler ­Benedikt Brachtel, Anna Brunnlechner, ­B enjamin David, Claudia Irro und Valentin Köhler angehören. Die mehr­jährige Arbeit der einzelnen Mitglieder von AGORA an ­etablierten Theaterinstitutionen ebenso wie in der Freien Szene beeinflusst ihre Frage­ stellungen und Auseinander­setzungen rund um das Repertoire und die Form des zeit­ genössischen Musiktheaters. In der Spielzeit 2016/17 entwickelte das ­Kollektiv an der ­B ayerischen Staatsoper ­unter dem Titel ­Prozessor eine vierteilige ­Reihe, die mit ­[catarsi] abgeschlossen wird.

Anna Schürmer studierte Geschichte, ­Musikwissenschaften und Literatur in Berlin. Sie forscht zur elektronischen und digitalen Musik des 21. Jahrhunderts – u. a. in ihrer ­Eigenschaft als Mitglied der ERC-Forschergruppe „The Principle of Disruption“ – und ­arbeitet regelmäßig für Funk- und ­Print­medien, u. a. die neue musik­zeitung und den Deutschlandfunk.

FESTSPIEL-WERKSTATT [catarsi] AGORA Musiktheaterkollektiv Uraufführung am Mittwoch, 28. Juni 2017, Postpalast an der Hackerbrücke Weitere Termine im Spielplan ab S. 212

Fotos Stefan Loeber


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