MAX JOSEPH #2 Vorsicht Bumerang!

Page 40

Die schicksalhaften Verstrickungen zwischen Vergangenheit und Zukunft faszinieren ihn schon seit Langem an Semiramide, sagt er beim Treffen in einer Bar auf der belebten Piazza vor dem Teatro Rossini in Pesaro. Aus den Lautsprechern tönt zwar die übliche Popmusik, aber dennoch scheint hier Rossini überall in der Luft zu liegen. Michele Mariotti erzählt davon, wie sich die babylonische Königin in einen Mann verliebt und auf eine Zukunft mit ihm hofft, dann aber von der Vergangenheit eingeholt wird, wenn sie erkennt, dass es sich in Wahrheit um ihren verschollenen Sohn handelt. Für Mariotti selbst ist das Adriastädtchen Pesaro auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Wie Rossini, der „Schwan von Pesaro“, ist er hier geboren und aufgewachsen. Hier hat er studiert – natürlich am Conservatorio Gioachino Rossini –, hier hat er beim jährlichen Rossini Opera Festival, dessen Intendant sein Vater ist, von Anfang an den Großen dieses Repertoires bei der Arbeit zugeschaut, hier lebt er noch heute und hier dirigiert er immer wieder Opernproduktionen. Im letzten Sommer war es La donna del lago, Rossinis erster Vorstoß in die Romantik. „Von klein auf habe ich Rossini eingeatmet“, sagt er. Doch er will sich keineswegs nur auf dessen Opern festlegen: Rossini werde immer eine zentrale Rolle in seiner Arbeit spielen, er dirigiere aber auch viel symphonisches Repertoire und auch Opern von Verdi, Bellini und Mozart. „Meine Beschäftigung mit anderen Komponisten, insbesondere mit Verdi, hat in letzter Zeit auch meinen Blick auf Rossini verändert.“ So versuche er etwa, dort, wo es passt, insbesondere die vorromantischen Aspekte der Musik herauszuarbeiten, und

bei der Gestaltung der Koloraturen und vokalen Verzierungen sei er sparsamer und subtiler geworden, weniger auf Virtuosität bedacht als auf Ausdrucksstärke. Gerade wegen seiner familiären Beziehungen zum Rossini Opera Festival legt Michele Mariotti großen Wert darauf, dass seine Dirigentenkarriere nicht in Pesaro begonnen hat. Erst nachdem er sich in anderen Theatern einen Namen gemacht hatte und schon Chefdirigent am Teatro Comunale di Bologna war, kam er in seine Heimatstadt zurück. Mit seinen Auftritten beim Rossini-Festival geriet er aber plötzlich ins internationale Rampenlicht. Das war 2010 mit Sigismondo, einer der vielen Raritäten, die in Pesaro – und fast ausnahmslos dort – zu erleben sind. Diese Produktion war aber nicht nur für seine Karriere, sondern auch für ihn persönlich besonders wichtig, da er dabei seine Frau, die Sopranistin Olga Peretyatko, kennenlernte. Und im Rückblick fällt ihm auf, dass auch die Karrieren von Daniela Barcellona, Alex Esposito und Joyce DiDonato erst in Pesaro so richtig in Schwung gekommen sind. Umso mehr freut es ihn, dass er gerade mit diesen Künstlern an der Bayerischen Staatsoper zum ersten Mal Semiramide einstudieren kann, eine Oper, die er zwar sehr gut kennt, aber noch nie dirigiert hat. „Mit diesem Werk hat Rossini eine Kathedrale des Belcanto errichtet.“ Ein Koloss sei diese letzte von Rossini für Italien komponierte und am Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführte Oper, der Höhepunkt einer Gattung, ein finales Aufbäumen von Ziergesang und Schönklang. Auf den ersten Blick scheint dies ein Rückschritt Rossinis gewesen zu sein, eine Flucht in den Klassizismus, in musikalische Formen, die Rossini

„Rossini wollte nie die Realität abbilden wie die Romantiker. Er wollte die Realität durch seine Poetik filtern. Aber er wollte beweisen, dass er trotzdem fähig ist, sich dem Stil der Romantik anzupassen.“ Text Florian Heurich

33


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.