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Anouar Brahem

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Anouar Brahem

Anouar Brahem

Die Tradition verwandeln

Anouar Brahem und seine Musik

Kevin Le Gendre

„Blue Maqams“ ist eine interessante Wortkombination. Es ist der Titel des jüngsten Albums und Live-Programms des tunesischen Oud-Virtuosen Anouar Brahem, gleichzeitig stellen diese Worte aber auch eine faszinierende Begegnung zwischen englischer und arabischer Sprache dar – ein Gedanke, der aus dem Wunsch des Künstlers entspringt, etwas Spezifisches zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei zu viel zu verraten.

„Ich wollte unbedingt ein arabisches Wort im Titel haben, deshalb ‚maqam‘, und ich hatte die Farbe Blau im Kopf, ohne eine besondere Bedeutung“, erklärt Brahem. „Der Titel fiel mir ein, bevor ich das Album gemacht habe. Aber als wir dann im Studio waren, stellte ich fest, dass ich im maqam spielte.“ Dieser Ausdruck bezeichnet die uralten Melodiemuster oder Modi, die das Herzstück der hochexpressiven klassischen Musik Nordafrikas und des Nahen Ostens bilden. Dies ist die Kultur, in der Brahem aufwuchs und von der seine musikalische Identität durchdrungen ist, doch hat er sich in einer seit mehr als drei Jahrzehnten andauernden, experimen tier freudigen Karriere auch vielen westlichen Kunstformen zugewandt. Dazu zählt vor allem Musik afroamerikanischer Herkunft. „Ich habe nie versucht, Jazzmusiker zu sein, und ich halte mich auch für keinen“, sagt Brahem. „Aber ich glaube, ich habe die Mentalität eines Jazzmusikers, jeden falls fühle ich mich dieser Musik sehr verbunden.“

Ganz unabhängig davon ist Blue Maqams klingende Bestätigung seiner kompositorischen und improvisato rischen Fähigkeiten zusammen mit amerikanischen und euro päischen Musikern, die sich auf dem allerhöchstem Niveau der Kreativität bewegen: dazu gehören der Bassist Dave Holland, der Pianist Django Bates und (für die Aufnahme) der Schlagzeuger Jack DeJohnette, an dessen Stelle im heutigen

Konzert Nasheet Waits zu hören ist. Sie alle sind selbst Bandleader und gefragte Begleiter, die mit einer Reihe von hochkarätigen Künstlern aufgetreten sind, darunter Dudu Pukwana, Miles Davis, Evan Parker, Sidsel Endresen und Jason Moran.

Brahem selbst erntet seit seinem 1991 entstandenen Debütalbum Barzakh immer wieder Lobeshymnen. Sein Name steht für einen durch und durch fortschrittlichen Geist innerhalb der arabischen Musik, der zutiefst seinen heimatlichen Wurzeln verpflichtet, aber dennoch von einer internationalen Perspektive geprägt ist. Sein Album Madar von 1994, auf dem Brahem gemeinsam mit dem norwegischen Saxophonisten Jan Garbarek und dem indischen Tabla-Meister Ustad Shaukat Hussain zu hören ist, zählt zu den wichtigsten Werken in der Diskographie des Oud-Spielers: es nimmt den Hörer gefangen mit majestätisch-lyrischem Ausdruck, fein ausbalancierten Soli und komplexem Zusammenspiel. Thimar, aufgenommen 1998 zusammen mit Holland und dem Multi-Holzblasinstrumentalisten John Surman, war ein weiteres herausragendes Werk mit einem „universellen Klang“, das sich durch die leuchtende Schönheit der Musik ebenso auszeichnet wie durch unaufdring liche Improvisation.

Die stilistische Breite seines bisherigen Schaffens erklärt Brahem mit einer nicht nachlassenden Spontaneität bei der Zusammensetzung jeder Gruppe, die er leitet. „Ich lege die Kombination der Instrumente nie im Voraus fest“, verrät er. „Ich glaube, ich versuche einfach, zuerst die Gedanken fließen zu lassen und dann, je nachdem was passiert, wenn mir diese Gedanken kommen, denke ich genauer über die Instrumente und die Musiker nach.“ Trotz alledem war es ein ganz bestimmter Klang, der in seinem Kopf Gestalt annahm, als er die Aufnahme von Blue Maqams vorbereitete. „Diesmal dachte ich schon in einem frühen Stadium vor allem ans Klavier“, erzählt Brahem von der Entstehung seines jüngsten Ensembles. „Ich habe lange nach dem richtigen Pianisten gesucht. Es gibt heute natürlich viele sehr gute, aber es musste jemand mit großem Fingerspitzengefühl sein. Mit der Arbeit von Django Bates war ich nicht vertraut, aber nach einigen längeren Diskussionen mit Manfred Eicher [dem Produzenten und Gründer von ECM, Brahems Plattenlabel] und dem Anhören vieler Aufnahmen spielte mir Manfred etwas vor, das er gerade mit Django aufgenommen hatte. Als ich es hörte, dachte ich sofort, ‚Ja, ich sollte dieses Album mit ihm machen.‘

Ich hatte das Gefühl, dass Django etwas ganz Besonderes beitragen würde zu dem, was wir vorhatten“, fährt Brahem fort. „Sein Anschlag, sein Pianissimo, ist sehr gut, und das war deshalb so wichtig, weil die Musik vor allem melodisch geprägt ist. Damit sich Oud und Klavier gut mischen, braucht es wirklich diese Leichtigkeit im Anschlag, diesen sehr sensiblen Zugang. Ich habe schnell gemerkt, dass er die richtige Kombination aus Nachdruck und Zurückhaltung hat.“

Brahems Interesse für Musik, das eine ätherische Perspek tive ebenso beinhaltet wie eine ganz anschauliche, existiert parallel zu seiner langjährigen Begeisterung für darstellende Kunst; insbesondere das Kino spielte eine wichtige Rolle in seiner persönlichen Entwicklung. Obwohl er seine Ausbildung am Konservatorium in Tunis absolvierte, erweiterte Brahem schon als 18-Jähriger seinen musikalischen Horizont, indem er zu den unterschiedlichsten Plattenaufnahmen beim Hören mitspielte. Einige seiner ersten öffentlichen Auftritte in den achtziger Jahren waren der Instrumentalmusik gewidmet, nicht der (für einen Oudspieler eher typischen) Begleitung von Sängern, womit er sofort die Aufmerksamkeit mehrerer Film- und Theaterregisseure erregte. Tatsächlich fand seine erste professionelle Begegnung mit Jazzmusikern bei einer gemeinsamen Aufnahme für einen tunesischen Filmregisseur statt.

Insgesamt tendiert Brahems Œuvre in die Richtung einer intimen, oft poetischen Form von Kammermusik, in der die von einer zurückhaltenden Dynamik geprägte Spannung entweder ganz ohne Schlagzeug auskommt oder es nur sehr dezent einsetzt. Traditionelle nahöstliche und türkische Instrumente wie Bendir, eine Rahmentrommel, und die Bechertrommel Darbuka haben sich in seinen Arrangements als höchst wirkungsvoll erwiesen, weshalb der Einsatz eines herkömmlichen Schlagzeugs in Blue Maqams umso bemerkenswerter ist. An Brahems Album Khomsa von 1994 war auch der bekannte norwegische Schlagzeuger Jon Christensen beteiligt, doch der zusätzliche rhythmische Drive, wie er durch die Einbeziehung von Snare, Bassdrum und Becken entsteht, muss, ebenso wie das Klavier, in Brahems Musik immer besonders sensibel gehandhabt werden.

Die wahre Begabung seiner Partner, sagt Brahem, zeigt sich für ihn in dem hohen Maß an Konzentration, zu dem sie während des Musizierens fähig sind. „Egal in welcher Situation, ob auf der Bühne mit einer Band oder im Studio“, erklärt er, „zuoberst in meinem Bewusstsein, und das ist wirklich unabdingbar, steht immer die Frage, wie gut ein Musiker zuhören kann. Auf der Bühne hat heute natürlich jeder Lautsprecher vor sich stehen, damit wir uns untereinander besser hören können. Aber wissen Sie was? Ich mag das überhaupt nicht. Man darf sie nur im Rahmen des Notwendigen einsetzen und dabei nie vergessen, dass Musik, ganz sicher in meinem Fall, akustisch passiert, und dass es vor allem aufs Zuhören ankommt. Eine der ganz großen Qualitäten der Musiker, mit denen ich arbeite, ist ihre Fähigkeit zum Zuhören und dazu, sich voll aufeinander einzustellen.“

Sich mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen spielt für die Entwicklung von Brahems Schaffen ebenfalls eine zentrale Rolle, was seinen ersten Auftritt im Pierre Boulez Saal, mit seinem stilistisch weitgefächerten Programm, nur folgerichtig erscheinen lässt. Die internationalen Bands mit Musikern aus Afrika, Amerika und Europa, die er geleitet hat, spiegeln direkt den transkontinentalen Lebensstil wider, der ihm sowohl Tunis als auch Paris zur Heimat hat werden lassen und ihn zu Auftritten auf der ganzen Welt führt. „Musik ist für mich schon immer eine außergewöhnliche Form von Reisen gewesen. Alles, was ich als junger Mensch an Musik entdeckt habe – Flamenco, Musik vom Balkan usw. – war Teil einer Reise. Ich kannte als Kind meine heimatliche Umgebung, und Musik brachte mich an andere Orte. Ich habe das Reisen durch Hören sehr genossen – es gehört zu den faszinierendsten Dingen in meinem Leben.“

Auch das Instrument, das er spielt, ist in gewisser Weise symbolisch. Die Oud hat eine vielfältige und abwechslungsreiche Geschichte. „Sie ist ein weitgereistes Instrument“, erklärt Brahem. „Man kannte sie im Irak und Iran, sie hat die arabische Welt erobert, den Balkan, die Türkei, und selbst in Europa lässt sich ihr Einfluss erkennen. Sie ist der Vorläufer der Renaissancelaute. Manche Menschen behaupten, dass es in der Geschichte keine kulturellen Objekte gibt, die weiter gereist sind als Musikinstrumente.“

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