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Jenseits des Programmatischen

Musik für Klarinette und Streicher von Peter Eötvös und Carl Maria von Weber

Thomas May

„Ich versuche die Welt mit Klängen zu beschreiben, genauso wie es Schriftsteller mit Worten, Maler mit dem Pinsel und Regisseure mit der Kamera tun“, sagt Peter Eötvös. „Wir beschreiben oft dasselbe, nur das Medium ist ein anderes.“ Eötvös’ Auffassung von der Aufgabe des Komponisten wird durch die Programmauswahl des heutigen Abends und die Querverbindungen zwischen den einzelnen Werken in eindrucksvoller Weise auf die Probe gestellt. Zwar sind alle Werke, die Jörg Widmann und das Cuarteto Quiroga für diese Aufführung ausgewählt haben, „rein“ instrumental. Doch die beiden Kompositionen von Eötvös – von denen eine heute ihre Uraufführung erlebt – gehen auf eine literarische Quelle eines der großen Meister der Weltliteratur im 20. Jahrhundert zurück: James Joyce’ Ulysses, aus dem der Schauspieler Paul Rhys Ausschnitte lesen wird.

Musik ohne Text, die tief unter ihrer Oberfläche vergraben gleichwohl Spuren von Text in sich trägt: Welche Beziehung besteht zwischen diesen Stücken und dem Text, von dem sie inspiriert sind? Sicherlich keine „programmatische“ im traditionellen Sinn – vielmehr stehen diese neuen Kammermusikwerke von Eötvös für die rein „absolute“ Seite dieses konventionellen Gegensatzes, einem Relikt der Romantik.

Eötvös betont, dass sich das Medium, mit dem er als Komponist arbeitet, von denen unterscheidet, die Joyce und Künstlern oder Künstlerinnen in Disziplinen wie Film und Malerei zur Verfügung stehen. (Auch das Werk eines anderen bedeutenden Modernisten, Kasimir Malewitsch, beschäftigt Eötvös in jüngster Zeit, wie sein Orchesterwerk Reading Malevich aus dem Jahr 2018 zeigt.) Was den musikbesessenen Joyce angeht, so verwies er selbst im SirenenKapitel des Ulysses auf den Einsatz der musikalischen Fugentechnik. Für Eötvös besteht im Unterschied dazu seine Aufgabe darin, die Sprache der Klänge als sein Medium zu nutzen. Durch die konkrete Wahl der Instrumente – die Kombination von Klarinette und Streichquartett – evoziert er gattungsspezifische Vorläufer wie das bekannte Beispiel vom Anfang des romantischen Jahrhunderts, das das heutige Programm beschließt.

Jahrzehnte bevor die Diskussion über programmatische versus absolute Musik in die Bildung zweier Lagern mündete, die einander erbittert gegenüberstanden, bewegte sich Carl Maria von Weber mühelos zwischen Instrumentalkompositionen und Werken für das Opernhaus. Zwar wird Weber heute vor allem mit der Bühne in Verbindung gebracht, doch hat er auch mehrere Werke zum Kernrepertoire der Klarinette beigesteuert und dem Instrument, etwa in seinem bekannten Klarinettenquintett, einen „vokalen“ Klang verliehen, der sich so elegant artikuliert, dass es keiner Worte bedarf.

Sirenen, Joyce und die Verführung durch die Instrumentalstimme Musikalische Transformationen von Peter Eötvös

Gleichermaßen aktiv als Komponist, Dirigent und Pädagoge, hat Peter Eötvös im vergangenen Jahr, in dem er seinen 75. Geburtstag feierte, eine bemerkenswerte Anzahl neuer Werke vorgestellt. Dazu gehören neben Joyce für Klarinette und Streichquartett sein drittes Violinkonzert Alhambra für Isabelle Faust, das vom Nō-Theater inspirierte Secret Kiss (nach Alessandro Bariccos Roman Seide) und das erst im vergangenen Monat im Kammermusiksaal der Philharmonie uraufgeführte Aurora für Kontrabass, Akkordeon und Streichorchester (das vom Anblick des nördlichen Polarlichts bei einem Flug über Alaska inspiriert ist).

Eine Reihe starker außermusikalischer Impulse sorgte für diese geradezu eruptive Produktion neuer Werke. Im Fall von Joyce diente ein Auszug aus dem 11. Kapitel von Ulysses, dem Meisterwerk des irischen Autors, als literarischer Katalysator. Genauer gesagt war es Eötvös’ eigene musikalische Verarbeitung dieser literarischen Quelle in seinem zweiten Streichquartett mit dem Titel The Sirens Cycle aus den Jahren 2015/16. Wie Arnold Schönberg in seinem Streichquartett Nr. 2 ergänzt Eötvös die Streicher um eine Sopranstimme, wobei ansonsten keinerlei Zusammenhang zwischen den beiden Werken besteht. The Sirens Cycle ist als Triptychon angelegt, das drei verschiedene literarische Darstellungen des altgriechischen Mythos der Sirenen zur Grundlage hat – jener Meeresbewohnerinnen, deren betörend schöne Musik tödliche Gefahr bedeutet, weil sie Seeleute zum Schiffbruch führt und damit in den Tod lockt. Homers Odyssee ist der klassische Text, mit dem diese Geschichte dem Kanon der abendländischen Literatur einverleibt wurde, doch die verführerische Kraft der Sirenen hat auch später unzählige weitere Erzählungen inspiriert.

James Joyces bahnbrechender moderner Roman Ulysses, erschienen 1922, zeichnet die in der Odyssee erzählten Abenteuer nach; Kapitel 11 ist der Begegnung mit den Sirenen gewidmet. Homer zufolge wurde Odysseus zwar vor ihnen gewarnt, kann jedoch seine heftige Neugier auf ihren Gesang nicht unterdrücken. Deshalb befiehlt er seiner Mannschaft, ihn fest an den Mast zu binden und sich anschließend die Ohren mit Wachs zu verschließen. Joyce überträgt die Episode in ein Hotelrestaurant, in das seine Hauptfigur Leopold Bloom zum Essen gekommen ist, während seine Frau Molly (eine untreue Penelope) im Begriff ist, sich mit ihrem Liebhaber zu treffen. Blooms Aufmerksamkeit wird völlig von den Bardamen in Anspruch genommen, die hier für die Sirenen stehen.

Eötvös beginnt nicht mit Homer, sondern mit einer weiteren Variante, nämlich Das Schweigen der Sirenen, einem sehr kurzen Text von Franz Kafka, der 1931 posthum veröffentlicht wurde. In Kafkas Version stopft sich Odysseus die Ohren mit Wachs zu, wobei dieser Erzählung zufolge eine solche Vorsichtsmaßnahme eigentlich nicht genügt, um der Gefahr der Sirenen zu entgehen, da ihr Schweigen tödlicher sein kann als ihr Gesang. Odysseus hört ihr Schweigen jedoch nicht und überlebt dadurch. Für Joyce trennte Eötvös den ersten Teil des etwa 20-minütigen Sirens Cycle als eigenständiges Werk ab und ersetzte den Sopran durch eine Soloklarinette. Die Worte, die in der Vokalversion zerlegt und auf eine erstaunlich vielfältige Reihung hoher Koloraturgesten aufgefädelt werden, sind gewissermaßen zum Schweigen gebracht – wie die Sirenen –, tauchen aber in den veränderten Phrasierungen der Klarinette unterschwellig wieder auf.

Wie in der Kafka-Geschichte werden die behandelten Themen immer vielschichtiger und komplexer, je eingehender sie analysiert werden. Nehmen wir etwa die Geschlechterfrage: Im Original singt eine Sopranistin die Worte, oft im extrem hohen Register, während Joyce diese Rolle der Klarinette zuweist. Das Instrument, so erklärt Eötvös, „gibt das Sinnieren des ausgesprochen maskulinen Protagonisten Leopold Bloom über die attraktiven Bardamen mit gebührend kraftvollen musikalischen Gesten wieder“. Tatsächlich ist Eötvös in den letzten Jahren mit ungebrochener Begeisterung zu diesem Text von James Joyce zurückgekehrt und hat als Antwort darauf eine Reihe weiterer Instrumentalstücke geschrieben (darunter A Call für Solovioline, das einen „sirenenhaften Klang“ variiert, der seinerseits von einer Zeile in Ulysses ausgeht, und das vierhändige Klavierstück Lisztomania). Joyce besteht aus sieben unterschiedlich langen Abschnitten. Der Originaltext von Joyce enthält selbst zahlreiche Verweise auf Musik und Klänge – sei es auf tatsächliche Kompositionen wie The Rose of Castille, eine englische Oper aus der viktorianischen Zeit von Michael William Balfe, oder „Rhapsodien von Liszt“ oder auf produzierte Klänge: „zwitschern“, „klimpern“, „Münze klang“, „Schenkelklatsch“, „bombardende Akkorde“, „tirilierend“, „Platschen und stilles Brausen“. Bei Joyce gibt es sogar rein lautmalerische Ausbrüche („Fff! Uuh! … Rrrpr. Kraa. Kräändl“).

Eötvös hat den Solopart auf die besondere Charakteristik und die technischen Möglichkeiten der Klarinette neu zugeschnitten. Der Solist stellt also eine neue Stimme dar, keine „übersetzte“ Version der Sopranstimme, obgleich es viele Ähnlichkeiten zwischen beiden gibt. Der Komponist erklärt: „Die Betonung und die Dauer von Vokalen oder Konsonanten spielt für die Klarinettenfassung selbstverständlich keine Rolle. Aber der Charakter ist ebenso frech und witzig wie der Text von Joyce. Das habe ich beibehalten.“ Gleichzeitig verfügt die Klarinette „von Natur aus über viel mehr dynamische Möglichkeiten als der Gesang, und diese habe ich auch eingesetzt.“

Nach der Uraufführung des Klarinettenquintetts Joyce konnte Jörg Widmann Eötvös dazu bewegen, eine eigenständige Solofassung zu schaffen. Der Klarinette kommt im Quintett eine zentrale Rolle zu, aber auch das Streichquartett spielt längere Passagen alleine – die Beziehung zwischen diesen beiden Einheiten ist ein wesentlicher Teil des Dramas –, außerdem erzeugt das Streicherensemble ein enormes Spektrum an Klangfarben, die die Wirkung des Soloparts noch verstärken. So ist Joyce für Soloklarinette gleichzeitig auch ein ganz anderes Stück, auch wenn sein musikalischer Inhalt erkennbar nah am Original liegt. Mit der direkten Gegenüberstellung der beiden Werke hofft Eötvös zu erreichen, „dass das Publikum selbst entdecken kann, wie es möglich ist, über das gleiche Thema auf unterschiedliche Weise zu sprechen, selbst auf dem gleichen Instrument“.

Musikalische Freundschaft und Webers Klarinettenquintett

Peter Eötvös und Jörg Widmann verbindet eine langjährige Zusammenarbeit. Der Ungar bewundert die vielseitige Künstlerpersönlichkeit Widmanns, der wie er selbst als Musiker, Komponist und Lehrer wirkt. Ähnliche Verbindungen zu Klarinettisten haben den Kernbestand der Klarinettenliteratur mitgeprägt: Am bekanntesten ist die Synergie zwischen Mozart und Anton Stadler sowie zwischen Brahms und Richard Mühlfeld. Zwischen diesen beiden Beispielen liegt das von Carl Maria von Weber und Heinrich Joseph Baermann, dem ersten Klarinettisten in der Hofkapelle des Königs von Bayern, dessen Spiel ihm die Anerkennung Mendelssohns, Meyerbeers und Webers – den er 1811 kennenlernte – einbrachte.

Die Freundschaft, die zwischen Weber und Baermann entstand, trug unmittelbar Früchte. Webers 1811 entstandenes Concertino war ein solcher Erfolg, dass er noch im selben Jahr zwei Konzerte und einen Variationensatz für Klarinette und Klavier schrieb. Tatsächlich widmete der Komponist mit einer einzigen Ausnahme alle seine Werke für Klarinette Baermann und lobte nicht nur das warme Cantabile, das zu seinem Markenzeichen wurde, sondern auch seine „Finger so springend wie eine Uhrfeder“ (wie Weber es in einem scherzhaften Gedicht formulierte, das er für den Klarinettisten verfasste). Baermann war maßgeblich an der Entstehung einer neuen Spielweise des Instruments beteiligt, deren Möglichkeiten Weber vollständig ausschöpfte. Der Komponist machte diese instrumentalen Farben darüber hinaus zum integralen Bestandteil der Klangwelt seiner Opern: Die protagonistenartige Rolle, die Weber der Klarinette zuerkennt, ist aus dem Freischütz kaum wegzudenken.

Noch im selben Jahr, in dem er so rasch seine Konzerte komponierte, begann Weber mit dem Entwurf des Klarinettenquintetts, doch die Ausarbeitung des Werks zog sich wesentlich länger hin. Nach zahlreichen Unterbrechungen beendete er es im Jahr 1815 – zu einem Zeitpunkt, als der Erfolg seiner frühen Oper Silvana in Berlin ihn ermutigte, sich verstärkt der Oper zuzuwenden.

Trotz seiner kammermusikalischen Besetzung ist das Klarinettenquintett seinem Geist nach eher ein Konzert. Der Solopart steht eindeutig im Vordergrund, während die Streicher eine im Wesentlichen begleitende Rolle spielen. Das eröffnende Allegro stellt die Fähigkeit des Solisten heraus, hohes und tiefes Register fließend miteinander zu verbinden, während der langsame Satz (ein „Fantasia“ überschriebenes Adagio in g-moll) mit seiner Ausdrucksintensität in die Welt der Oper entführt. Der Klarinettenstimme erfordert zudem eine enorme Kontrolle über die Dynamik ebenso wie chromatische Flexibilität. Der dritte Satz, einer der ersten Abschnitte, die Weber für das Quintett komponierte, verwandelt das Menuett in ein rhythmisch bewegtes, ungestümes Capriccio. Diese drei Sätze wurden erstmals 1813 in Anwesenheit des Komponisten Louis Spohr (auch er ein bedeutender Schöpfer von Musik für Klarinette) aufgeführt. Im Jahr 1815 vollendete Weber das Rondo-Finale und brachte das Quintett so mit einer höchst reizvollen, frischen Musik von origineller Virtuosität zum Abschluss.

Übersetzung: Sylvia Zirden

Thomas May ist freiberuflicher Autor, Kritiker, Dozent und Übersetzer. Seine Texte sind in internationalen Medien erschienen. Er schreibt für die Programmhefte des Lucerne Festival sowie für die New York Times und Musical America.

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