
10 minute read
Und morgen fängt das Spiel von vorne an
Und morgen fängt das Spiel von vorne an
Ludwig van Beethovens Klaviersonaten
Wolfgang Stähr
Gepriesen sei Dein Name
Nur wenige wissen, dass Ludwig van Beethoven den jungen Marx las und lobte, ganz ausdrücklich: „Beym Durchblättern fielen mir einige Aufsätze in die Augen, die ich sogleich für Producte des geistreichen Herrn Marx erkannte; ich wünsche, daß er stets fortfahre, das Höhere u. Wahre im Gebiethe der Kunst immer mehr u. mehr aufzudecken; dieß dürfte das bloße Silbenzählen wohl nach u. nach in Abnahme bringen.“ Beethoven hatte sich die neueste Ausgabe der Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung vorgenommen, als deren Redakteur der von ihm so geschätzte Marx amtierte: Adolf Bernhard Marx aus Halle, eigentlich ein Jurist, der sich jedoch zur Musik berufen fühlte, als Komponist flüchtige lokale Erfolge feiern konnte, als Publizist, Historiker und Theoretiker hingegen Autorität und Einfluss gewann. Das verpönte „Silbenzählen“, die papierenen musikologischen „Buchhalteranalysen“ mit ihrer Taktgruppenarithmetik und ihren Modulationsschaltplänen, brachte freilich auch er nicht aus der Welt, zumindest nicht aus der akademischen.
So oder so – es bleibt doch eine offene Frage, was „das Höhere u. Wahre im Gebiethe der Kunst“ sei. Und gleich noch eine zweite: Wie man es „aufdecken“ und zur Sprache bringen könne. Beethovens Musik eignete sich offenbar in bis dahin unbekanntem
Maße für die intime Kommunikation und die privatesten Bekenntnisse; sie eröffnete zwischenmenschliche Korrespondenzen, die andernfalls, ohne sie, stumm und anonym geblieben wären. Sie begründete und bekundete seelische Wahrheiten, die sie obendrein noch zu einer höheren Sinnstiftung aufwertete: ein Phänomen, das nicht gänzlich neu war – man denke etwa an den religiösen KlopstockKult in Zeiten der Empfindsamkeit –, und das doch die wechselnden Moden erstaunlich langlebig überdauerte. Wie viele Jahre und Meilen trennen Beethovens 1796 in Wien veröffentlichte Klaviersonate A-Dur op. 2 Nr. 2 von der 1911 erschienenen Erzählung Das Granatarmband des russischen Schriftstellers Alexander Kuprin! Und dennoch war diese Sonate dem Autor so gegenwärtig, so vertraut wie ein Lebenselement, ein Erkennungszeichen oder eine Losung. Kuprin stellte seiner Erzählung ein Motto voran: „L. van Beethoven / Sonate op. 2, Nr. 2. / Largo appassionato“, als wäre damit bereits alles gesagt und der Leser von Anfang an eingeweiht.
Alexander Kuprin, der ein überaus kurzweiliges Leben führte – als Infanterieleutnant, Gerichtsreporter, Zirkusdirektor, Zahnarzt, Wanderschauspieler und Landvermesser (nur der Eintritt ins Kloster kam über den Vorsatz nicht hinaus), erzählt von der Fürstin Wera Nikolajewna, die von einem unbekannten Verehrer, heute würde man sagen: einem Stalker verfolgt, beobachtet, bewundert, mit anhimmelnden Briefen bedrängt und schließlich mit dem Geschenk des titelgebenden Granatarmbands in Verlegenheit gebracht wird. Ihr Mann und ihr Bruder können den aufdringlichen Galan überführen und zur Rede stellen, einen kleinen Beamten der Rechnungsrevisionsbehörde, der in einer stickigen Dachkammer haust. Er gelobt, der Fürstin fortan aus dem Weg zu gehen – und noch am selben Abend greift er zur Pistole und erschießt sich. In einem Abschiedsbrief an seine Angebetete aber hat er zuvor noch geschrieben: „Wenn Sie sich an mich erinnern, so spielen Sie die Sonate A-Dur op. 2, Nr. 2, oder lassen Sie sich diese Sonate vorspielen.“ Und er denkt dabei an „Beethovens bestes Werk“, den langsamen Satz der Sonate, das Largo appassionato. Die Fürstin, die nach dem Tod ihres Bewunderers zu ahnen beginnt, dass sich hinter der anscheinend so lächerlichen Schwärmerei des scheuen Staatsdieners eine „wahre, selbstverleugnende Liebe“ verbarg, hört sich am Ende tatsächlich das Largo an, „dieses außergewöhnliche, in seiner Tiefe einmalige Werk“ – und sie hört daraus die Strophen eines imaginären Gedichts, die letzten Geständnisse ihres toten Verehrers, die in einem feierlichen, beinahe liturgischen Ton ge-
halten sind: „Gelobt seist Du, leidenschaftlich gelobt und still geliebt. Gepriesen sei Dein Name.“ Beethovens Sonate als Gebet, Seelenbeichte und Memorial? Und jeder Leser wusste, was gemeint war? Aber auch der „geistreiche Herr Marx“ ließ sich schon von dem Largo aus Opus 2 mit seinem prozessionsartigen Schreitrhythmus im Bass und der andächtigen, an Choräle oder Pilgergesänge erinnernden Melodik zu einem literarisch inspirierten Kommentar hinreißen. „Der Satz selbst ist ganz ruhig, still und erhaben, gleich dem Gedanken eines edlen, in sich zurückgekehrten Jünglings auf nachtstiller Bahn, der unter dem Sternenhimmel wandelt.“ Bei so viel Poesie und Kunstfrömmigkeit könnte man fast wieder auf den Geschmack des Silbenzählens kommen.
Das Klawier und die Claviere
Doch auch ein Satz wie das Adagio molto aus Beethovens c-moll-Sonate op. 10 Nr. 1 fällt durch einen ganz eigenen, kantablen, ruhe- und weihevollen, in diesem Sinne sakralen „Ton“ auf und wurde nicht von ungefähr nach Beethovens Tod als Agnus Dei für Chor a cappella bearbeitet und obendrein für die Orgel gesetzt. Wie ließe sich dieser noble, hymnenartige, sanft entrückte, leicht entflammte Lyrismus verstehen? Als eine Religion der Innerlichkeit, eine Ahnung von besseren Welten, ein Trostwort und Friedensversprechen? In Beethovens Klaviersonaten begegnet dieser (nüchtern gesprochen) Typus der Instrumentalkantilene ein ums andere Mal, und immer in derselben Tonart As-Dur: im Seitensatz des Largo, con gran espressione aus Opus 7, im Adagio der besagten c-moll-Sonate und als Variationenthema gleich am Anfang der Sonate op. 26. Eine Musik, die zu Herzen geht, ohne Larmoyanz und Sentimentalität, und die offenbar auch ein pianistisches Ideal des „molto cantabile“ ausprägt, wie es Beethoven in einem Brief an den Instrumentenbauer Andreas Streicher formulierte: „Es ist gewiß, die Art, das Klawier zu spielen, ist noch die unkultiwirteste von allen Instrumenten bisher, man glaubt oft nur eine Harfe zu hören, und ich freue mich lieber, daß sie von den wenigen sind, die einsehen und fühlen, daß man auf dem Klawier auch singe[n] könne, sobald man nur fühlen kan[n], ich hoffe die Zeit wird kommen, wo die Harfe und das Klawier zwei ganz verschiedene Instrumente seyn werden.“ Diese Zeit kam, und Beethoven war ihr Prophet, Repräsentant und Vollender. Es bleibt ein Geheimnis, weshalb Igor
Strawinsky glaubte, der Himmel habe Beethoven die melodische Gabe vorenthalten, um sie dafür Bellini im Übermaß zu schenken. Ein sonderbares Urteil, das der Dirigent Ernest Ansermet mit dem spöttischen Kommentar bedachte: „Vielleicht hat Strawinsky, als er das sagte, insgeheim gedacht, er könnte sich so gegen einen künftigen Kritiker wappnen, der sich erlauben möchte zu sagen, zu Anfang dieses [20.] Jahrhunderts habe Gott die Gabe der Melodie Prokofjew gewährt, Strawinsky aber vorenthalten. Vielleicht wollte er also nur in guter Gesellschaft sein.“
Beethovens Sonaten haben das Klavier selbst zum Thema: das Klavier und – die Claviere, die zu seinen Lebzeiten einen rapiden Wandel in allen Aspekten des Instrumentenbaus, der Mechanik, der Tastatur, des Anschlags und der Besaitung durchliefen. Von dieser Geschichte erzählt auch die C-Dur-Sonate op. 53, die sogenannte „Waldstein-Sonate“, in der gleichzeitig verschiedene Stadien, Ideen und Ideale des Klavierspiels präsent sind: die graphische Klarheit, Trennschärfe und figurative Quirligkeit des Cembalos, der gebundene Vortrag des Orgelchorals, die Poetik des neuen Hammerklaviers, des Fortepianos mit seinen unvergleichlich sonoren und silbrigen Klangsphären. Von der Natur der Tasteninstrumente handelt Beethovens epochale Sonate, von der reinen Freude, das Klavier auszuprobieren und auszureizen. Oder wie Marx (Adolf Bernhard) sagt: von der „Wonne der Spielseligkeit“.
Allein Freyheit
1802 veröffentlichte Beethoven in Wien zwei Klaviersonaten unter der Opuszahl 27, die zweite in cis-moll (von der Nachwelt poetisch mit Mondschein assoziiert), die erste in Es-Dur, die eine wie die andere aber vom Komponisten „Sonata quasi una fantasia“ überschrieben und mit diesem Titel absichtsvoll zwischen den Stühlen platziert. In der Sonate wird der Überfluss an subjektiven Einfällen, Launen und Impulsen kanalisiert und einem Plan unterworfen, während der „stylus phantasticus“ selbst in der schriftlich fixierten Musik noch die Spontaneität einer Improvisation bewahrt, mit ihren abrupten Kontrasten, Abschweifungen und Inkonsequenzen. Sonata quasi una fantasia: Dieser Titel sollte freilich nicht überinterpretiert werden, schon gar nicht zu einem Denken in fundamentalen Widersprüchen verleiten, als sei die Sonate der Käfig, durch dessen Gitterstäbe der frische Wind der Fantasie weht; oder als unterliege jede Sonate in Stein gemeißelten Geboten, von denen
auch nur um ein Jota abzuweichen einer musikhistorischen Revolution gleichkäme. Vielleicht verführt schon der Epochenbegriff der Klassik, der Nimbus des Klassikers, zu falschen Erwartungen an ewig gültig Formen, schlackenlose Wahrheiten, zeitenthobene Meisterschaft. Die drei Klaviersonaten Opus 31 komponierte Beethoven 1802 für das Répertoire des Clavecinistes des Züricher Verlegers Hans Georg Nägeli, und der wünschte sich ausdrücklich „Clavier-Solos in grossem Styl, von grossem Umfang, in mannichfaltigen Abweichungen von der gewöhnlichen Sonaten-Form“. Mit diesem Ansinnen freilich rannte er bei Beethoven sperrangelweit offene Türen ein. „Allein Freyheit, weiter gehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen schöpfung, zweck“, verkündete Beethoven: ein kreatives Credo, das gerade die Individualität des Werkes verlangt und verteidigt, nicht seine Klassizität und Allgemeingültigkeit. Beethoven erfand die Sonate, jede Sonate, neu, einzigartig, unwiederholbar, kaum aber je so radikal wie in der d-mollSonate, der zweiten aus Opus 31, in der kein Thema fixiert, keine Form ausgeprägt wird. Alles ist Bewegung, die Musik ist vollkommen frei, geht immer weiter, die Schöpfung selbst, das Finden und Erfinden, der Zauber und der Eigensinn der Kunst sind ihr einziger, eigenster Zweck. Angefangen mit einem Arpeggio, einer geradezu archetypischen musikalischen Geste des Präludierens: Der Barde greift in die Saiten, der Magier spricht die Losung, das Spiel kann beginnen.
Die G-Dur-Sonate op. 31 Nr. 1 hingegen nimmt einen Anfang, als wolle sich der Komponist über die Subskribenten des Répertoire belustigen: über die Amateure und Dilettanten, die wie Stümper, Tölpel und Möchtegernmusiker vorgeführt werden, selbst wenn sie Beethovens Notentext akkurat und fehlerfrei zu spielen wissen. Oder gerade dann – da Beethoven nach einer hereinplatzenden und hinabstürzenden Sechzehntelkaskade eine unvermittelt zwischen piano und forte wechselnde Akkordfolge anschließt, bei der die rechte und die linke Hand systematisch synkopisch gegeneinander versetzt werden. Der nichtsahnende Hörer freilich muss den fatalen Eindruck gewinnen, dass der Pianist partout nicht imstande sei, das beidhändige Spiel zu koordinieren, derart klappert der Vortrag noch beim wiederholten Versuch. Dass sich der Tastenkünstler alsbald in etüdenhaft auf- und abwogendes Passagenwerk rettet, macht die Sache auch nicht gerade besser. Ein böser Scherz, den sich Beethoven da einfallen ließ, ganz in der humoristischen Tradition seines Lehrers Joseph Haydn, der sich zum Beispiel ein „Menuet
alla zoppa“, ein „hinkendes Menuett“ ausgedacht hatte oder ein Klaviertrio mit einem heimtückisch unspielbaren Violinpart: zur Erheiterung des Publikums, aber gewiss nicht des Blut und Wasser schwitzenden Geigers. „Es ist nun mal nicht zu leugnen, daß die Spottlust, die Freude am Widerspruch der Dinge, etwas Bösartiges in sich trägt“, stellte Heinrich Heine fest. Ein bösartiger Humor? Gestehen wir es nur ein: So glaubten wir unsere Klassiker gar nicht zu kennen.
Und nichts ertönt als Töne
„Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müßte“, diese Klarstellung findet sich in Goethes Maximen und Reflexionen. „Sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und veredelt alles, was sie ausdrückt.“ Träfe denn auch das Gegenteil zu: Würde die Musik durch Literatur und Liturgie – trivialisiert? Einem Zweck unterworfen, mit fremdem Stoff kontaminiert? „Die Kunst ist ein Spiel – das vornehmste von allen: Machen wir keine Religion daraus und kein Pensum!“, mahnte im 20. Jahrhundert der Schweizer Komponist Frank Martin.
Beethovens E-Dur-Sonate op. 14 Nr. 1 aus dem Jahr 1798 wurde nie zur Ersatzreligion (oder zum Kultstück) erhoben, dafür umso beharrlicher als angeblich leicht und lieblich den Anfängern ans Herz und aufs Pult gelegt: zum Einstieg und Eintritt in die höhere Sphäre der Beethoven-Sonaten. Alles liegt offen zutage in den drei durchweg raschen Sätzen, wie am hellen Mittag; Ursache und Wirkung fallen in eins, jede Note beweist ihren Wert, jedes Vorzeichen zeitigt sogleich eine Veränderung, gut zu hören, klar zu sehen: wie eine Linie gezogen wird, was eine Synkope sei, wie das Klavier im Diskant klingt und wie im Bass, worin der Unterschied besteht, ob eine Melodie in kleinen Schritten oder weiten Sprüngen erfunden wird, einmal vokal, zum Mitsingen, einmal instrumental, zum Nachspielen. Ja, diese Schule sollte man, möchte man durchlaufen, um einen grundlegenden, unverfälschten Begriff von der Musik zu erhalten, ihrer Würde, ihrem Spiel: einer Musik, die nicht als Medium fungiert, die überhaupt keinen Absichten dient, und seien es die besten und höchsten, sondern ganz allein sich selbst genügt. Musik über Musik. Aber wäre dies tatsächlich ein Pensum für den Anfang, nicht eher ein Ziel? Wartet eine solche Sonate nicht erst
am Ende des Weges, wenn ein Allegretto dem Gemüt ungleich willkommener ist als ein Largo appassionato? Beethoven schrieb sein Opus 14 zwar noch in jungen Jahren und mitnichten als altersweises Spätwerk, und doch ließe sich diese Komposition auch als eine Bilanz verstehen, eine Selbstbetrachtung, eine Art destillierte Kunst: Was bleibt, wenn einmal versuchsweise jeder Stoff, jedes Bekenntnis, jegliche Subjektivität abgerechnet werden und nichts ertönt als Töne. Wenn selbst der Ausdruck nur als Spielart erprobt wird, wie eine Modulation oder ein Registerwechsel. Bezeichnenderweise endet die E-Dur-Sonate mit einer beiläufigen Geste, als würde ein Notenheft zugeklappt. Was ja auch tatsächlich der Fall und die Folge ist. Niemand wird zum Himmel erhoben, keiner ist am Boden zerstört, und morgen fängt das Spiel von vorne an.
Wolfgang Stähr, geboren 1964 in Berlin, schreibt über Musik und Literatur für Tageszeitungen, Rundfunkanstalten, die Festspiele in Salzburg, Luzern und Dresden, Orchester wie die Berliner und die Münchner Philharmoniker, Schallplattengesellschaften und Opernhäuser. Er verfasste mehrere Buchbeiträge zur Bach- und Beethoven-Rezeption, über Haydn, Schubert, Bruckner und Mahler.