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Arbeit am Mythos
Arbeit am Mythos
Komponieren für Flöte
Martin Wilkening
Instrument und Erfindung: Jörg Widmann
„Wir können keine neue, utopische musikalische Sprache erfinden, und ebenso wenig ihre Instrumente. Aber wir tragen beständig zu ihrer Entwicklung bei. Früher ging die praktische Erfahrung am Musikinstrument jeder theoretischen Kenntnis von Kreativität voraus. Bis zu Wagner waren alle Komponisten, mit Ausnahme einiger Opernkomponisten, Virtuosen aus eigenem Recht. Erst später begann die musikalische Kreativität sich schrittweise von ihren spezifischen Werkzeugen zu trennen, mit einer wachsenden Loslösung von diesen wunderbaren akustischen Maschinen.“
Eine zunehmende Trennung der Musikschaffenden in Komponisten und Interpreten im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts, die Luciano Berio 2006 in Vorlesungen mit dem Titel Die Zukunft erinnern konstatierte, gilt für Jörg Widmann nicht. Als Klarinettist und Komponist ist er beides – um Berios Ausdruck noch einmal aufzugreifen – aus eigenem Recht. Und so zeichnen sich seine Werke nicht nur durch ihre idiomatisch treffende Schreibweise aus, sondern auch durch den Erfindungsreichtum, mit dem diese Schreibweise erweitert oder in ihrem Ausdrucksgehalt umgedeutet wird. Das Instrument erscheint bei Widmann gleichzeitig vertraut und doch neu. Davon zeugt selbst ein relativ klein dimensioniertes Stück wie die Petite Suite – tatsächlich keine eigenständige Komposition, sondern ein Extrakt aus dem Flötenkonzert Flûte en Suite von 2011, das auf Anregung Emanuel Pahuds entstand. Aus den sieben Sätzen des Konzerts hat Widmann drei – Allemande, Lamento und Sarabande – für das Solostück ausgewählt und dabei die Flötenstimme fast unverändert übernommen, lediglich die Verläufe gekürzt oder gestrafft. Das musikalische Geschehen konzentriert sich so ganz auf die ausdrucksvolle melodische Linie, die den gesamten Klangraum der Flöte erschließt. Die Sätze sind in ihrer motivischen Substanz verwandt, die Gestik entwickelt sich vor allem aus den elementaren Figuren des Auf- und Absteigens.
Im zentralen Lamento wären, der Tradition einer musikalischen Klage gemäß, dunkle Klangfarbe und langsame Bewegung zu erwarten. Der dunkle Ton ist jedoch in die Allemande verlagert, der gemessene Schritt in die Sarabande. Weite Teile des Lamento bewegen sich in extrem hoher Lage, und so erscheint diese Klage auf ungewohnte Weise elementar, erinnert vielleicht an schrille Totenklagen archaischer Kulturen oder an mimetisch nachempfundene Seufzer und Schreie. Auch beschwört das Stück auf unerwartete Weise die Erinnerung an jenen griechischen Mythos, der die Geburt der Flöte (und damit der Musik) aus einem Erlebnis des Verlusts darstellt: dem Gott Pan, der der Nymphe Syrinx nachstellt, bleibt nach deren rettender Verwandlung in ein Schilfrohr nichts als das Schilf selbst. Ovid lässt einen Zeugen berichten, „dass die in Bewegung versetzte Luft, während Pan dort seufzte, im Schilf einen zarten Ton erzeugt habe, der einer Klagenden glich; dass der Gott, ergriffen von der neuen Kunst und der Süße des Tons gesagt habe: Diese Art der Unterhaltung mit dir wird mir bleiben; und dass er, nachdem er Schilfrohre von ungleicher Länge durch Wachs als Bindemittel miteinander verbunden, das Mädchen wenigstens dem Namen nach gehalten habe.“
Die Traversflöte: Johann Sebastian Bach
Das Querflöten-Repertoire schlägt einen Bogen um das 19. Jahrhundert, das mit dem hellen, feinen und leichtbeweglichen Klang des Instruments nicht viel anzufangen wusste. Debussys Verwendung der Flöte in Syrinx und Prélude à l’après-midi d’un faune markiert diesbezüglich einen Neubeginn. Die erste Blütezeit der Flötenliteratur war spätestens mit Mozarts bekannter Abneigung gegen das Instrument zu Ende gegangen.
Bachs Partita für Soloflöte – wie die Cellosuiten und Violinpartiten als Folge von Tanzsätzen angelegt – entstand um 1720. Zu dieser Zeit begann die Traversflöte, damals noch aus Holz, mit einfachen Grifflöchern und nur ansatzweise mit Klappen versehen, in Deutschland gerade erst die Blockflöte abzulösen. Ein großer Teil des Flötenrepertoires jener Jahre bestand aus Adaptionen von Werken für Violine, und es ist vermutet worden, dass zumindest der erste Satz von Bachs Partita ursprünglich für dieses Instrument gedacht war. Da das Stück nur in einer einzigen Handschrift überliefert ist, die nicht vom Komponisten stammt, muss die Frage nach seiner Originalgestalt unbeantwortet bleiben. Ungewöhnlich für eine Flötenkomposition ist jedenfalls, dass die ohne Ruhepunkte durchlaufenden Sechzehntel dieses ersten Satzes keine Einschnitte zum Atmen zu gewähren scheinen. Die Atemstellen hat der Flötist durch überlegte Phrasierung und richtige Tempowahl selbst zu bestimmen. Bach bezeichnet den Satz nicht als Präludium, sondern als Allemande, was für ein eher ruhig fließendes Tempo spricht. Dennoch bleibt für die Kunst des richtigen Atmens ein Moment des Utopischen wirksam.
„Instrumente benötigen eine lange Zeit, um sich selbst zu transformieren, und sie neigen dazu, hinter der Entwicklung des musikalischen Denkens zurückzubleiben“, bemerkte Luciano Berio. „Es ist eine bezeichnende Schwierigkeit, Gedanken und theoretische Reflektionen an die Wirklichkeit des Instruments anzupassen, das durch die Geschichte, die es inkorporiert, und die Wege und Techniken, durch die es die Geschichte bewohnt, schon aus sich selbst heraus expressiv ist. Aber wie immer ist es nicht das musikalische Denken, das sich dem Instrument zu unterwerfen hat; vielmehr ist es der Gedanke selbst, der ein bewusstes Gefäß für das Instrument und sein physisches Vermächtnis werden muss.“
Metall: Edgard Varèse
Der Klangcharakter einer Querflöte wird insbesondere durch die innere Formung der Röhre und ihre Wandstärke bestimmt. Doch auch das Material des Instrumentenkörpers spielt eine Rolle. Hierauf bezieht sich der Titel von Edgard Varèses Density 21.5: Er bezeichnet das spezifische Gewicht des Elements Platin. Platin ist schwerer und vor allem härter als Silber und Gold, die beim Flötenbau nur unter Beimischung anderer Metalle verwendet werden können. Entstanden ist Density 21.5 im Jahr 1936 als Auftragswerk zur Vorstellung eines neuen Instruments, einer Platin-Flöte, die sich der Flötist Georges Barrère hatte anfertigen lassen.
Die Wahl des Metalls beeinflusst die Farbe, Dichte und das Ansprechen des Tons – der Klang der Platin-Flöte wird als voluminöser, direkter und kerniger empfunden. Für Varèse war dieser materialhafte Aspekt des Klangs nicht nur eine unverbindliche Zutat. Zum einen beziehen sich mehrere seiner Werktitel (etwa Hyperprism) auf physikalische Eigenschaften. Zum anderen berührt das Metall Platin, das in Europa erst spät bekannt wurde, in Südamerika aber viel früher schon bei den Inkas im Gebrauch war, einen geographischmythologischen Assoziationskreis, der zentral für Varèses Denken war. Auf die Auseinandersetzung mit indianischen Kulturen beziehen sich Werke wie Déserts und Ecuatorial, aber auch Amériques – die beiden Amerikas –, das mit seinem Flötensolo zu Beginn unverkennbar Debussys Flöte des Fauns und des Pan in Erinnerung ruft. (Georges Barrère war in der Uraufführung von Prélude à l’après-midi d’un faune der Solist gewesen.) Varèses Density 21.5 ist beides: eine Aneignung und Übertragung des Pan- und Syrinx-Mythos in den neuen Horizont amerikanischindianischer Kultur und eine Wendung zum klingenden Material selbst, jenseits von Mythos und Geschichte. Ersteres erschließt sich unmittelbar durch die ausdrucksvollen, kleinzellig entwickelten melodischen Gesten, die ganz in der Tradition des impressionistischen Flöten-Idioms stehen. Letzteres ist musikalisch am deutlichsten im Mittelteil des Werks zu fassen: Dort wird der melodische Fluss unterbrochen, und Varèse kombiniert stattdessen kurze Töne mit Klappengeräuschen, in denen tatsächlich die Resonanz des metallischen Hohlkörpers direkt hörbar ist. Aufgrund dieser materialbezogenen Dimension bezeichnete der Flötist Aurèle Nicolet das Stück geradewegs als „Anti-Syrinx“. Für solche perkussiven, pizzicatoähnlichen Klänge ist die Platin-Flöte deutlich besser geeignet als die Silber-Flöte. Mittlerweile gehören Techniken wie diese zum Standardvokabular neuer Flötenmusik, doch für die damalige Zeit stellten sie etwas Neues dar, und Varèse verleiht ihnen durchaus poetische Bedeutung. Mit seinen wiederholten, leicht veränderten Gesten wirkt das Stück wie eine Anrufung, eine Evokation. Der Mittelteil dagegen öffnet mit seinen Pausen die Weite des Raums, im Lauschen auf Antwort, auf Erhörung – die in Form einer fast wörtlichen Reprise auch erfolgt.
Mit dem Titel seines Stücks rückt Elliott Carter einen anderen Aspekt von Flötenmusik in den Vordergrund: Scrivo in vento („Ich schreibe in den Wind“) thematisiert die schwingende Luft und den gestoßenen Atem, der diese Schwingungen anregt. Als Metapher weist der Ausdruck hin auf Vergänglichkeit, Vergeblichkeit des Tuns, und enthält damit zugleich eine Aussage über das Wesen des Klanges selbst, der nicht im Raum zu fassen ist, sondern nur als flüchtige Erscheinung in der Zeit.
Die Worte stammen aus einem Sonett von Petrarca, das auch der Partitur vorangestellt ist. In vielfältigen Paradoxien und Antithesen besingt es die Erfüllung durch unerfüllte Liebe: in der Lust am Leiden, der Freude im Traum, dem Bauen auf Sand, dem Schwimmen in einem Meer ohne Grund und Ufer. Carter übersetzt die starken Spannungen der Sprachbilder Petrarcas aus dem 14. Jahrhundert in musikalische Kontraste von 1991. Als Initiale erscheinen gehaltene Töne in tieferer Lage, aus denen sich in kleinen Schritten Melodieansätze formen – eine Gestik, die auch in den Werken von Widmann, Varèse und Takemitsu den Ausgangspunkt bildet, und die als klingende Repräsentation des Instruments selbst, der schwingenden Luft in der Röhre unmittelbar einleuchtend erscheint. Carter unterbricht diese Bewegung aber sehr bald durch hohe, gestoßene Töne. Die Kontraste der Lagen, der Artikulation und der Dynamik werden dann auf vielfältige Weise entwickelt, vertauscht, neu kombiniert. Doch die Musik kehrt immer wieder zu dem ruhig bewegten Anfangsgestus zurück, wie die stets neuansetzenden Zeilen oder Strophen eines Gedichts, so dass die Musik gleichsam den Charakter einer Rezitation erhält, einer musikalischen Lektüre des PetrarcaSonetts.
Transkription: Marin Marais
Traversflöte, Silber-Flöte oder Platin-Flöte? Die Frage nach der Verbindung zwischen Notentext und spezifischem Instrument zu dessen Realisierung kann unter verschiedenen Vorzeichen gestellt werden. Und sie führt zu der sehr viel grundsätzlicheren Frage nach dem Verhältnis von musikalischer Idee und Notentext. Ferruccio Busoni hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die platonisch inspirierte These aufgestellt, dass eigentlich jede Komposition schon eine Transkription darstelle, die Transkription einer Idee. Berio spricht von der Aufgabe des Komponisten, „einen Dialog zu schaffen, wie metaphorisch auch immer, zwischen ‚Himmel‘ (der Idee) und Erde, zwischen ‚Seele‘ und Körper (dem Instrument), oder zwischen musica mundana, musica humana und musica instrumentalis. Jede Form des Schöpferischen, die unberührt davon ist, diese hartnäckige und bedeutende Lücke zu überbrücken, ist zum Schweigen verdammt.“ Vor diesem Hintergrund relativiert sich nicht nur die Skepsis, die dem Phänomen der Transkription mitunter entgegengebracht wird. Vielmehr lässt sich die gelungene Transkription so geradezu als Brückenschlag zwischen Idee und Instrument begreifen, weil sie die Spannung zwischen beidem neu ins Bewusstsein ruft. Marin Marais, der bedeutende französische Gamben-Virtuose, schreibt selbst im Vorwort zu der 1701 erschienen Ausgabe seiner Kompositionen, die auch die 32-teilige Variationen-Reihe Les Folies d’Espagne für Gambe und Basso continuo enthält: „Ich habe große Sorgfalt darauf verwendet, diese Stücke so zu komponieren, dass sie auf allen möglichen Instrumenten gespielt werden können, darunter Orgel, Cembalo, Laute, Violine und Flöte. Ich wage zu behaupten, dass diese Absicht erfolgreich war, da ich sie selbst auf beiden letztgenannten Instrumenten gespielt habe.“ Schließlich ist es auch die Variationsform selbst, die mit dem immer neuen Umkreisen einer Idee (des Themas) in vielfältigen Erscheinungsformen (den Variationen) jene Spannung zwischen dem Vorgestellten und dem konkret Erklingenden zu ihrem Formprinzip macht. Die ekstatisch sich steigernde Jagd nach der Idee, die das achttaktige, nur durch seine Akkordfortschreitungen und den Dreiertakt definierte „La Foglia“-Thema in unzähligen Versionen von Variationszyklen verschiedener Komponisten auslöste, findet ihr literarisches Gegenstück im Idealismus des Don Quichotte und seinen „spanischen Verrücktheiten“ („les folies d’Espagne“).
Anwesenheit/Abwesenheit: Luciano Berio
„Mich faszinieren musikalische Vorstellungen, die es ermöglichen, eine Polyphonie von unterschiedlichen Gestaltungen der Bedeutung zu entwickeln – Vorstellungen, die sich nicht der Möglichkeit verweigern, spezifische und konkrete instrumentale Gesten zu benutzen. Sie etablieren dann eine große Spannweite von fernen Echos und Erinnerungen, die es dem Komponisten erlaubt, einen Dialog spezifischer An- und Abwesenheiten zu entwerfen: einen musikalischen Raum, bewohnt durch die bedeutungsvolle Anwesenheit des Abwesenden und das Echo des abwesend Anwesendem.“
Berios Gedanke eines Dialogs von An- und Abwesenheiten gehört zu den Grundbedingungen von Kunst. Er wird bereits im Mythos von Pan und Syrinx benannt, in dem das Schilfrohr mit seinem Klang an die Stelle der Nymphe tritt. Er entfaltet sich im Zwiegespräch zwischen Werken, in der historischen Akkumulation eines spezifisch instrumentalen Vokabulars, in den Echos der Transkriptionen und Bearbeitungen und schließlich (eigentlich: zu allererst) auch innerhalb der Form- und Strukturprozesse jedes einzelnen Werks. Ein Beispiel dafür ist die Idee einer Mehrstimmigkeit in der Einstimmigkeit, der sogenannte lineare Kontrapunkt, bei dem in einer melodischen Linie durch Brechung der Lagen die Illusion eines mehrstimmigen Geflechts entsteht: die Anwesenheit des Abwesenden. Diese Kunst hat Bach in seinen Solowerken für Melodieinstrumente konsequent entwickelt, und Berio knüpft in der Reihe seiner Sequenze daran an – insgesamt 14 Stücke für Soloinstrumente (bzw. in einem Fall Sopranstimme), die über einen langen Zeitraum hinweg zwischen 1958 und 1983 entstanden. Den Anfang machte die Flöte. Die Sequenza I ist virtuos, bis hin zu theatralisch aufgeladener Hysterie: schnelle, sprunghafte Lagenwechsel, staccato-Artikulation und Flatterzunge prägen den äußeren Eindruck. Sie erscheint wie ein Gegenbild zu den ruhig atmenden Gesten, mit denen Widmann, Varèse, Carter und auch Takemitsu den Flötenklang gleichsam naturhaft einsetzen lassen. Dies ist der Auftritt einer eigentlichen „Anti-Syrinx“. Doch Berios Stück ist voller Doppelbödigkeit. So wie sich in den sprunghaften Artikulationen ein mehrstimmiges Denken verbirgt, das sich im Verlauf des Stückes weiter entfaltet, so dient die Virtuosität der Entwicklung eines komplexen Beziehungsreichtums und einer dramatisch gespannten Form, die sich nach einer großen Steigerung im letzten Viertel ganz nach innen zu wenden scheint. Berio erfindet gerade hier, in der Zurücknahme, höchst unkonventionelle virtuose Ausdrucksmittel, etwa simultane Verläufe von crescendo und decrescendo, eine echte Zweistimmigkeit zwischen trillerartigen Klängen und Klappengeräuschen, die schließlich den Triller übertönen. Und dann folgen, zum ersten Mal in der Geschichte der Flötenliteratur, durch Überblasen erzeugte Mehrklänge, wie sie bald darauf fast zum Stereotyp avantgardistischer Virtuosität werden sollten. Hier aber sind sie mit poetischer Bedeutung aufgeladen, als Schattenklang wie eine Chiffre der Erinnerung an die „pan“-ische Erregung zuvor, nun doch wieder wie eine zarte Klage im raschelnden Schilf. Auch Berios Virtuosenstück entkommt diesem Ursprungsmythos der Kunst nicht – es läuft vielmehr direkt auf ihn zu.
Wind: To¯ru Takemitsu
Air, entstanden 1995, ist die letzte Komposition, die der japanische Komponist Tōru Takemitsu vollendete. Von den experimentellen Ansätzen seiner früheren Flöten-Soli sind hier nur mehr Spuren zu finden. In Voice hatte Takemitsu 1971 ausgiebig Gebrauch von Mehrklängen gemacht und auch die Stimme des Flötisten mit einbezogen. Itinerant von 1989 überträgt den geräuschhaften Klang der japanischen Shakuhachi-Flöte auf die europäische Querflöte. In Air dagegen finden sich nur wenige Momente von Flageolettklängen, Flatterzungen-Artikulation, Portamento oder Trillern auf einem Ton, die mit speziellen Griffen gespielt werden. Das Stück kreist in ruhiger Bewegung, die fünfmal von ganztaktigen Pausen unterbrochen wird, um wenige Motive und Gesten und kehrt am Schluss zum Anfang zurück. Die Melodik ist durch pentatonische Skalen und Ganztonleitern geprägt, die ebenso wie die Dehnungen und Stauchungen der rhythmischen Werte den schwebenden, beständig sich verformenden Charakter der Gestaltung bestimmen.
Mit diesem beständigen Transformationsprozess, in dem einzelne Motive immer wieder aufleuchten, werden Schönheit und Flüchtigkeit in einem beschworen. Dies betrifft gleichermaßen die Dimensionen von Raum und Zeit. An mehreren Stellen notiert Takemitsu als Spielanweisung „lontano“ (aus der Ferne), und in den Pausen öffnet sich der von der Flöte definierte Klang zu seiner Umgebung, zu einem Dialog mit dem umgebenden Raum, ebenso wie zu einem undefinierten Sprung in der Zeit, wenn das Geschehen danach von einem neuen tonalen Zentrum aus wieder einsetzt. So strebt diese Musik tendenziell in einem Akt konzentrierter Wahrnehmung nach der Aufhebung ihrer selbst. „Ist Ihnen bewusst“, so formulierte es Takemitsu einmal mit Bezug auf die japanische Flöten-Kunst, „dass der Ton nach dem der Shakuhachi-Meister bei seinem Spiel letztlich strebt, der Ton ist, der erzeugt wird, wenn der Wind durch ein altes Bambusdickicht bläst?“