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Nikolaj-Szeps Znaider & Robert Kulek

Von Trauermärschen und Liebesszenen

Werke für Violine und Klavier

Jürgen Ostmann

Filmmusik avant la lettre

„Ach, der Erich Wolfgang hat immer schon für Warner Brothers komponiert. Er hat es bloß nicht gewusst.“ Diese ironische Bemerkung des Dirigenten Otto Klemperer bringt die Tragik einer Komponistenlaufbahn auf den Punkt. Erich Wolfgang Korngold begann als Wunderkind von beinahe Mozartschem Format in Wien, Gustav Mahler und Richard Strauss äußerten sich begeistert über sein Talent, Alexander Zemlinsky wurde sein Kompositionslehrer. Die Oper Die tote Stadt machte den 23-Jährigen über Nacht berühmt, und in den frühen 1920er Jahren bezeichnete das Neue Wiener Tagblatt ihn und Arnold Schönberg als die „größten lebenden Komponisten Österreichs“ – Schönberg als den intellektuellen Musiker, Korngold als den unbekümmerten Musikanten, für den Komponieren eine selbstverständliche Lebensäußerung ist. Nach seiner Flucht vor den Nazis konnte sich Korngold in Los Angeles niederlassen und genoss beim Filmstudio Warner Brothers die luxuriösen Arbeitsbedingungen eines Stars. Seine Filmpartituren setzten Maßstäbe, die bis heute kaum überboten worden sind, und sein Stil wurde häufig imitiert. So fühlte sich Klemperer nachträglich selbst bei frühen Arbeiten Korngolds an Hollywood-Tonfilme erinnert – die es in der Jugendzeit des Komponisten ja noch gar nicht gegeben hatte. Mit seinen späteren Werken für den Konzertsaal an die Erfolge der 20er Jahre anzuknüpfen, gelang Korngold indes nicht: im Europa der Nachkriegszeit gehörte seine hochromantische Musiksprache unwiderruflich der Vergangenheit an.

Begonnen hatte Korngold die Arbeit für die Leinwand 1934, als ihn Max Reinhardt bat, für seine Verfilmung von Shakespeares Sommernachtstraum Mendelssohns Bühnenmusik zu arrangieren. Ein anderes Shakespeare-Stück war Anlass für die Entstehung des Werkes, das das heutige Programm eröffnet: Für eine Wiener Inszenierung von Viel Lärm um nichts im Jahr 1920 wurde Korngold mit der Komposition einer Schauspielmusik für Kammerorchester betraut. Der Erfolg der Premiere (am 6. Mai im Schlosstheater Schönbrunn) war größer als erwartet, und weil für immer neue Zusatzvorstellungen die ursprünglich eingeplanten Musiker nicht mehr verfügbar waren, schrieb Korngold „schnell entschlossen ein Arrangement für Geige und Klavier“ – so erinnerte sich seine Frau Luzi. Den Klavierpart spielte er selbst, die Geigenstimme übernahm Rudolf Kolisch. Später fand diese Duobearbeitung Eingang ins Repertoire vieler bedeutender Geiger.

Die viersätzige Suite beginnt mit einem ausdrucksvollen, von subtilen Tempo-Modifikationen geprägten Satz in unverkennbar wienerischem Tonfall: „Mädchen im Brautgemach“ porträtiert Shakespeares Protagonistin Hero, die sich auf ihre Hochzeit mit Claudio vorbereitet. Im „Zeitmaß eines grotesken Trauermarsches“ ist das folgende Stück „Holzapfel und Schlehwein“ zu spielen. So heißen bei Shakespeare die beiden betrunkenen Wachtmeister, die sich in einem pompösen und dabei leicht stolpernden Rhythmus präsentieren. Die „Gartenszene“ beschwört in elegischen Melodiebögen die wachsende Zuneigung des zweiten Liebespaares, Beatrice und Benedikt. Und der „Mummenschanz“ bildet den fröhlichen Ausklang der Suite; Korngold schreibt dazu eine Hornpipe. Wie sich die Karriere des jungen Mannes entwickeln würde, konnte das Publikum von 1920 nicht ahnen. Im Rückblick aber scheint es völlig einleuchtend, dass der Schöpfer dieser charakter- und stimmungsvollen Miniaturen sich später zu einem brillanten FilmmusikKomponisten entwickelte.

Während Korngolds Suitensätze, den Stationen des Dramas angepasst, starke Kontraste bieten, ist Johannes Brahms’ erste Violinsonate – bei aller reichen Differenzierung im Einzelnen – von einer eher einheitlichen Atmosphäre geprägt. Der Kritiker und BrahmsFreund Eduard Hanslick beschrieb sie als „versöhntes Resignieren“. Das mag mit dem sehr persönlichen Hintergrund des Werks zu tun haben: Die Umstände seiner Entstehung und manche musikalische Details verbinden es eng mit Clara Schumann. Als am 16. Februar 1879 ihr Sohn Felix, Brahms’ Patenkind, im Alter von 24 Jahren an Tuberkulose starb, reiste der Komponist nach Frankfurt, um seiner langjährigen Freundin beizustehen. Einige Monate darauf schickte er ihr die gerade fertiggestellte Sonate mit den Worten: „Es wäre mir eine gar große Freude, wenn ich ihm ein kleines Andenken schaffen könnte.“ Clara antwortete: „Liebster Johannes, ich muss Dir ein Wort senden, Dir sagen, wie ich tief erregt bin über Deine Sonate. [...] ich spielte sie mir natürlich gleich durch und musste mich danach ordentlich ausweinen, vor Freude darüber. Nach dem ersten feinen reizenden Satz und dem zweiten kannst Du Dir die Wonne vorstellen, als ich im dritten meine so schwärmerisch geliebte Melodie mit der reizenden Achtelbewegung wiederfand! Ich sage ‚meine‘, weil ich nicht glaube, dass ein Mensch diese Melodie so wonnig und wehmutsvoll empfindet wie ich.“ Clara konnte mit Recht von „ihrer“ Melodie sprechen, geht das Hauptthema des Finales doch auf das ihr gewidmete Regenlied op. 59 Nr. 3 bzw. das mit der gleichen Phrase beginnende Lied Nachklang op. 59 Nr. 4 zurück (was dem Werk den Beinamen „Regenlied-Sonate“ eintrug). Brahms hatte die beiden Lieder im Frühjahr 1873 geschrieben und ebenfalls als Geste des Trostes an Clara geschickt: Kurz zuvor musste sie ihren Sohn Ludwig in eine psychiatrische Anstalt einweisen lassen, ihre Tochter Julie starb bei der Geburt ihres dritten Kindes, und Felix’ Tuberkulose wurde diagnostiziert. Die Texte beider Lieder von dem mit Brahms befreundeten Dichter Klaus Groth thematisieren, wie fallender Regen die Erinnerung an vergangenes Glück wach werden lässt.

Als Ausgangspunkt und ideelles Zentrum der Sonate galt lange Zeit das Finale, das neben der Liedmelodie auch die „tropfende“ Begleitung des Klaviers zitiert. Allerdings sandte Brahms seiner Freundin bereits Anfang Februar 1879 auf einem erst 2004 wiederentdeckten Blatt den Beginn des zweiten Satzes zu. Auf die Rückseite schrieb er: „Liebe Clara, Wenn Du Umstehendes recht langsam spielst, sagt es Dir vielleicht deutlicher als ich es sonst könnte wie herzlich ich an Dich u. Felix denke – selbst an seine Geige, die aber wohl ruht […].“ Felix starb wenige Tage später, und es ist anzunehmen, dass Brahms erst dann, womöglich in direkter Reaktion auf die Todesnachricht, den trauermarschartigen Mittelteil in das Adagio integrierte – er ist jedenfalls auf dem an Clara gesandten Blatt noch nicht enthalten. Der pochende Rhythmus verbindet diese Stelle unüberhörbar mit beiden „Regenliedern“.

Ihr Auftaktmotiv mit seinen drei repetierten, punktierten Noten findet sich im Übrigen bereits im ersten Thema des eröffnenden Vivaces. Und auch das Seitenthema dieses Satzes nimmt den Rhythmus bei veränderter Melodie wieder auf. Brahms hatte offenbar von Beginn an die „Regenlieder“ im Sinn und verband sie auch immer mit Felix’ Schicksal. Als er im Mai 1878 in Pörtschach am Wörthersee die Arbeit an der Sonate aufnahm, befand er sich auf der Rückfahrt von seiner ersten Italienreise. In Palermo hatte er Felix besucht, der sich dort zur Kur aufhielt. Brahms’ Reisebegleiter, der Arzt Theodor Billroth, hatte den Patienten untersucht und feststellen müssen, dass es für ihn keine Hoffnung mehr gab.

„Unbehinderter Fluss“

Im März 1949, etwa zwei Jahre vor seinem Tod, verwendete Arnold Schönberg zum ersten und einzigen Mal für eines seiner Werke den Titel „Fantasie“. Als Bezeichnung für formal freie, improvisatorisch anmutende Stücke scheint dieser Begriff nicht recht zu Schönberg zu passen – schließlich gilt seine Zwölftonmethode als eine strenge, von Ge- und Verboten geprägte Kompositionsweise. Ein ganzes Stück, so lautet ihre Hauptregel, soll auf der ausschließlichen Verwendung einer sogenannten Reihe beruhen, in der kein Ton der chromatischen Skala mehrfach vorkommt und keiner fehlt, also keiner bevorzugt oder benachteiligt wird, wie das im traditionellen Dur-Moll-System regelmäßig der Fall ist. An der Benennung überrascht aber nicht nur die Gattungsbezeichnung, sondern auch die Angabe der Besetzung: „Phantasy for Violin“ steht in großen Lettern über den Noten der Erstausgabe, und darunter in viel kleinerer Schrift: „with Piano Accompaniment“. Die daraus ersichtliche Rangordnung erläuterte Schönberg 1951 gegenüber dem Musikwissenschaftler Josef Rufer: „Um dieses Stück ganz entschieden zu einem Solostück für Geige zu gestalten, habe ich zuerst die ganze Geigenstimme komponiert und dann die Klavierbegleitung hinzugefügt. Als etwas Hinzugefügtes, als eine Begleitung, damit es nicht als ein Duett verstanden wird. […] Ich habe geglaubt, ein Stück zu schreiben, dessen unbehinderter Fluss nicht auf irgendwelche formale Theorien zurückzuführen ist.“ Die führende Rolle der Violine und die Konzeption ihrer Stimme ohne Rücksicht auf das Partnerinstrument – beides sollte offenbar die Tendenz der Zwölftonmethode zu Logik und Strenge unterlaufen und zu einer „fantasieartigeren“ Musik führen. Dem Hörer teilt sich diese Absicht allerdings nicht direkt mit, sind doch auch im Klavierpart alle musikalischen Gestalten aus der Reihe abgeleitet – und damit ebenso „thematisch“ wie die des Soloinstruments.

Wenn Schönbergs Komposition ihrem Titel gerecht wird, dann aus einem anderen Grund: Das einsätzige Stück besteht aus mehreren ineinander übergehenden Teilen von klar gezeichnetem Charakter, doch wie viele es sind und wo ihre Grenzen verlaufen, lässt sich nicht exakt sagen. Schließlich scheinen manche der Teile, Phasen oder Episoden organisch auseinander hervorzugehen, während andere einander unterbrechen – ähnlich den Gedankensprüngen oder Stimmungswechseln eines Menschen, der seiner Fantasie freien Lauf lässt. Die rhapsodische Haltung des eröffnenden und abschließenden Grave-Abschnitts, die zupackend energische des Più mosso, der verklärte Ausdruck des Lento, der Charme des Grazioso oder der widerborstige Humor der Scherzando-Passagen – wie kommen all diese Eindrücke unter den Bedingungen der Reihentechnik zustande? Yehudi Menuhin erklärte dazu, die Fantasie klinge für ihn, „als würden in einem Theaterstück alle Figuren willkürliche Silben von sich geben anstatt zu sprechen, aber man erkennt auch ohne Worte trotzdem die ‚Liebesszene‘ etc. wieder.“

In diesem Vergleich wären die „Worte“ mit der vertrauten Tonsprache der Funktionsharmonik gleichzusetzen. Wenn sie ausfällt, bleiben elementare Gestaltungselemente wie Tempo- und Dynamikverläufe, aber auch die in der Zwölftonmethode enthaltenen Mittel der unmittelbaren Tonwiederholung und des Ostinatos. Schönberg nutzte sie mit großem Einfallsreichtum, um die in den Vortragsanweisungen verbal bezeichneten Charaktere kompositorisch zu realisieren. Darüber hinaus bewirken tänzerische Dreierrhythmen, „versehentliche“ Konsonanzen und bestimmte melodische Gesten, dass das Stück manchen Hörern gar ausgesprochen „wienerisch“ erscheint. Diesen Eindruck hatte etwa Schönbergs Assistent Leonard Stein, der bei der Uraufführung den Geiger Adolph Koldofsky begleitete. Die beiden spielten die Fantasie am 13. September 1949, dem 75. Geburtstag des Komponisten, in Los Angeles.

Auf dem Weg zur Tondichtung

Von der Kammermusik seiner Jugend wollte Richard Strauss später nichts mehr wissen. „Nach Brahms hätte man so etwas nicht mehr schreiben sollen“, sagte er einmal. Wenn die Frühwerke heute dennoch einen Platz im Repertoire haben, verdanken sie dies nicht nur ihrem Eigenwert, den sie trotz der selbstkritischen Haltung des Komponisten zweifellos besitzen. Eine wichtige Rolle spielt auch eine Art Neugier bei Interpreten und Publikum, die erst durch die folgende Entwicklung geweckt wurde. Man fragt sich: Wie beginnt die Karriere eines weltberühmten Musikers? Welchen Vorbildern schließt er sich an, bevor er seine eigene Sprache findet? Strauss war vielleicht kein Wunderkind, aber künstlerisch doch ausgesprochen frühreif. Mit vier Jahren erhielt er ersten Klavierunterricht, mit acht begann er das Geigenspiel, und als Elfjähriger ließ er sich vom Münchner Hofkapellmeister Friedrich Wilhelm Meyer in Harmonielehre, Formenlehre und Instrumentation unterweisen. Bei ihm lernte er in den folgenden fünf Jahren so viel, dass sich der Besuch einer Musikakademie erübrigte. Zudem hatte er die Möglichkeit, wann immer er wollte den Proben des Hoforchesters beizuwohnen – sein Vater war dort Erster Hornist. Und da Strauss senior einen sehr konservativen Musikgeschmack pflegte, orientierte sich auch der Sohn zunächst an den Wiener Klassikern sowie an Mendelssohn, Schumann und Brahms. Ihr Einfluss prägte Kammermusikwerke wie das Streichquartett op. 2 von 1880, die zwischen 1881 und 1883 entstandene Cellosonate op. 6 oder das Klavierquartett op. 13 (1883–85). Dagegen weist die 1887 komponierte Violinsonate op. 18, Strauss’ letzte Arbeit in der traditionellen Form der mehrsätzigen Sonate, ja überhaupt sein letztes Kammermusikwerk mit Opuszahl, schon deutlich auf Kommendes voraus. Unmittelbar zuvor hatte der 23-Jährige die sinfonische Fantasie Aus Italien geschrieben, im folgenden Jahr entstand Don Juan, die erste der einsätzigen Ton - dichtungen, deren Formen nicht mehr durch Vorbilder der Vergangenheit, sondern durch literarische Programme bestimmt wurden. In seiner Violinsonate bewegt sich Strauss gerade noch im vorgegebenen Rahmen, den er allerdings nach Kräften zu weiten versucht. So besitzt der erste Satz zwar die Anlage eines Sonatenallegros, doch erklingen nicht die üblichen zwei Themen, sondern vier. Das größte Gewicht kommt dem ersten zu, dessen Achtel-Triole mit Sechzehntel-Auftakt weite Teile des Satzes bestimmt. Daneben tragen eine fallende Legatolinie, ein Moll-Walzer und ein strahlendes Dreiklangsthema ihre melodischen Fäden zum dicht gewebten Motivnetz bei. Den zweiten Satz überschreibt Strauss „Improvisation“ – und tatsächlich wirkt die Musik wie aus spontaner Eingebung geboren. Auf eine Art „Lied ohne Worte“ folgt ein stürmischer Abschnitt, dessen Klavierpart auf Schuberts Erlkönig anspielt. Darauf wechseln sich Klavier und Geige mit graziösen Arabesken ab, und schließlich kehrt die Liedmelodie des Beginns wieder. Doch nicht nur formal, sondern auch hinsichtlich der Virtuosität schöpft Strauss alle Möglichkeiten aus: Gerade im Finale erinnert die Geigenstimme oft an den Solopart eines Violinkonzerts, und das Klavier scheint ein ganzes Orchester ersetzen zu wollen. Nach einer düstergeheimnisvollen langsamen Einleitung greift der energische Hauptgedanke den dominierenden Triolen-Rhythmus des Kopfsatzes noch einmal auf. Eine ausdrucksvolle Violinmelodie und ein tänzerisches Scherzando-Thema sind weitere Protagonisten dieses dramatischen Stücks, das schon manchen Kommentator an eine Opernszene erinnert hat.

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