Mythos und Geheimnis. Der Symbolismus und die Schweitzer Künstler (extrait)

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Paris: Symbolismus und Symbolisten

streitlustigen Künstlergruppen hinaus ist der französische Symbolismus mit diesem letztlich ziemlich kohärenten theoretischen Apparat eindeutig zu identifizieren. Auch wenn in späteren, häufig parteiischen oder von einer dogmatisch „modernistischen“ Kunstgeschichte beeinflussten Deutungen versucht wurde, Schranken zu errichten zwischen Künstlern oder Künstlergruppen (Synthetisten und „Nabis“ hier, Neoimpressionisten dort, Idealisten und „Bildermaler“ anderswo), lässt die intensive Tätigkeit der 1890er Jahre eine Vielzahl von Künstlern erkennen, die enge Beziehungen pflegten, Überzeugungen teilten, häufig gemeinsam ausstellten, Orte und Kreise wechselten, einen Stil oder eine Losung übernahmen, um sie am nächsten Tag auszutauschen, fern aller künstlichen Konstruktionen, einschränkenden Bezeichnungen und starren Anschauungen, die ihnen 50 Jahre später in Untersuchungen zugeschrieben wurden. Da es die Kunsthistoriker in Paris im Unterschied zu den belgischen, schweizerischen, italienischen und deutschen Symbolismen mit einer komplexen und ästhetisch vielseitigeren symbolistischen Welt zu tun hatten, suchten sie die ästhetischen Tendenzen scharf voneinander abzugrenzen, entschieden sich dabei aber häufig für die bequemste Lösung, indem sie bestimmte persönliche Antagonismen wörtlich verstanden oder rückwirkend einen ihrer eigenen Weltanschauung entsprechenden Manichäismus der Kunst des 20. Jahrhunderts auf den Symbolismus anwandten: „Fortschrittliche“ gegen „Konservative“, „Formalisten“ gegen „Literaten“. Die Realität des französischen Symbolismus hat kaum etwas mit solchen Fiktionen zu tun. Der Maler Maurice Denis, der an eine „plane, in einer bestimmten Ordnung mit Farben bedeckte Fläche“ glaubte (eine Erklärung, die trotz ihm und sehr zu seinem Missfallen zum Synonym für Moderne geworden ist8), war auch der Künstler des „innerlichen Sujets“, der geistigen Inbrunst und des „katholischen Mysteriums“, der die „Ideisten“ 1892 in der Revue blanche verteidigte9, während ihn Octave Mirbeau in seiner heftigen Kritik der „Seelenkünstler“, die nichts als „Literaten“ wären, mit Alphonse Osbert, Carlos Schwabe, Armand Point und Alexandre Séon gleichsetzte und mit besonderer Strenge behandelte10. Sâr Péladan, Magier der Rosenkreuzer-Bewegung, scharfer Kritiker der Gegenwart und Bewunderer der Alten, den man häufig pauschal einer konservativen Weltsicht bezichtigte, verdammte den Akademismus und stellte in seinen Salons so innovative Künstler wie Ferdinand Hodler, Félix Vallotton, Charles Filiger, Fernand Khnopff, George Minne oder den jungen Georges Rouault aus. Der Kritiker Alphonse Germain, der Péladan nahe stand, befürwortete dennoch einen idealistischen Neoimpressionismus, der das Erbe Georges Seurats mit Séons Schaffen verband11. Aurier schließlich, heroischer Verteidiger der Nabis (einer „Gruppe“, die keine war und deren Name, im privaten Kreis geprägt und seinerzeit nie in der Öffentlichkeit erwähnt, erst vor nicht langer Zeit offizielle Anerkennung fand12), mischte dennoch in seinem Artikel über die Symbolisten Moreau, Puvis de Chavannes, die Präraffaeliten, Monet, Pierre Bonnard, Édouard Vuillard, Paul Sérusier, Ker-Xavier Roussel, Filiger, Seurat, Charles Guilloux, Henry de Groux, Séon und Albert Trachsel in mehrfacher Hinsicht bunt durcheinander, das heißt Synthetisten, Impressionisten und Neoimpressionisten, mystische Landschaftsmaler, „Unklassifizierbare“, Künstler, die im Salon de la Rose+Croix oder bei den Indépendants ausstellten, usw. Im Gegensatz zu dem, was man in vielen Untersuchungen lesen kann, ist der Pariser Symbolismus weder eine einfache Sache noch eine schwarzweiße Welt, sondern eine subtile Konstellation mit wechselnden Farben, in der sich Künstler, Ästhetiker, Einflüsse und Anregungen ständig mischen, kreuzen und zugleich weiterentwickeln. Zu diesem bereits „komplexen“ Bild kommt die Vielzahl der Ausstellungsorte für Symbolisten hinzu. Die Aufspaltung des offiziellen Salons hatte 1890 zur Gründung der Société nationale des beaux-arts geführt, die den neuen Tendenzen aufgeschlossener gegenüberstand als die Société des artistes français: Einige Symbolisten gaben weiterhin dem ersten Salon den Vorzug, andere wählten den neuen. Parallel dazu war der Salon des Indépendants seit 1884 einer der Orte, die Künstlern ohne akademische Ausbildung

Abb. 16 Walter Damry Joséphin Péladan, 1894 Fotografie, 19 × 12 cm Musée d’Orsay, Paris Inv. Pho1992-18

8. Maurice Denis distanzierte sich von einer allzu formalistischen Deutung seines Satzes: „Es ist […] der erste Satz, der am meisten gelesen wurde […]. Ich schrieb ihn mit 20 Jahren, beeinflusst von Ideen Gauguins und Sérusiers“, Maurice Denis, Le Ciel et l’Arcadie, hg. von Jean-Paul Bouillon, Hermann, Paris 1993, S. 5, Anm. 3. 9. „Keiner hat besser als sie die Schönheit einer Linie oder einer Farbe verstanden. Und wir sehen nicht, dass sie in irgendeinem Sinn mehr Maler wären, wenn sie ihre Motive aus Dorfversammlungen, Boulevards oder Vororten beziehen würden“, Maurice Denis (unter dem Pseudonym Pierre L. Maud), „Notes d’art et d’esthétique“, in: La Revue blanche, Juni 1892, S. 364-365. 10. Octave Mirbeau, „Les artistes de l’âme“, in: Le Journal, 23. Februar 1896, wiederaufgenommen in Octave Mirbeau, Combats esthétiques, Séguier, Paris 1993, S. 132-135. 11. Vgl. Jean-David Jumeau-Lafond, „Le néoimpressionnisme idéaliste d’Alexandre Séon“, in: Rossella Froissart, Laurent Houssais, JeanFrançois Luneau (unter der Leitung von), Du romantisme à l’Art déco, lectures croisées, mélanges offerts à Jean-Paul Bouillon, PUR, Rennes 2011, S. 63-76. 12. Der Ausdruck Nabi wurde vor den 1940er Jahren nie öffentlich verwendet, wie dies Catherine Méneux hervorgehoben hat im „Nabi“-Seminar des Programms Redefining European Symbolism (Amsterdam, 26. November 2010).

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