Mythos und Geheimnis. Der Symbolismus und die Schweitzer Künstler (extrait)

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Abb. 14 Félix Vallotton Bildnis Stéphane Mallarmé, 1895 Holzschnitt, 34 × 22 cm Sammlung Jean-David Jumeau-Lafond

Abb. 15 Paul Gauguin Seid Symbolist, Bildnis Jean Moréas erschienen in La Plume, 1. Januar 1891 Sammlung Jean-David Jumeau-Lafond 2. Stuart Merrill, À Puvis de Chavannes. Poèmes, 1887-1898, Mercure de France, Paris 1897, S. 209. 3. Albert Aurier schreibt: „Maler eignen sich, wie ich weiß, nicht so sehr zum Philosophieren […], sie sind Träger vergessener Worte in einer Zeit des Skeptizismus […] und deshalb ist es gut, dass sie zugleich Künstler und Theoretiker sind“, Albert Aurier, „Les symbolistes“, in: Revue encyclopédique, 1. April 1892, S. 475. 4. Maurice Denis, „Définition du néotraditionnisme“, in: Art et critique, 23. und 30. August 1890. 5. Albert Aurier, „Les isolés. Vincent Van Gogh“, in: Mercure de France, Januar 1890. 6. Albert Aurier, „Le symbolisme en peinture. Paul Gauguin“, in: Mercure de France, März 1891. 7. Albert Aurier, „Les symbolistes“, op. cit.

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Um 1890 war die Pariser Kunstszene bereit für den Aufschwung einer „anderen“ Kunst: Der Akademismus erlöschte langsam, und der Impressionismus begann zu langweilen („zu engstirnig“ meinte Redon). Die materialistische, entgeistigte und krämerhafte zeitgenössische Gesellschaft fand in diesen letzten Ausprägungen einer naturalistischen Kunst (für die erste Richtung war sie illusionistisch, für die zweite optisch) ein getreues Abbild der Welt; mit ihnen konnte sich ein Bürgertum zufriedengeben, das die Bilder William Bouguereaus kaum anders aufhängte als jene Claude Monets: über der Anrichte im Esszimmer. Doch die Welt sehnte sich nach dem Mysterium. Zwei Jahre vor Moréas’ Manifest hatte Joris-Karl Huysmans À rebours (Gegen den Strich) publiziert, den Roman der Dekadenz, der seiner „lebensmüden“ und von seiner Zeit angewiderten Hauptfigur eine Erlösung durch die Kunst und erlesenste Sinneseindrücke anbot. Unter den Auspizien Baudelaires und dessen Any Where out of the World entdeckte der Held, der Duc des Esseintes, Künstler wie Moreau, Pierre Puvis de Chavannes, Redon und CharlesMarie Dulac, berauschte sich an Parfüms und Likören und ließ einen Schildkrötenpanzer vergolden. Gemäß der Empfehlung, die Baudelaire in seinem Vorwort zur Philosophie der Einrichtung von Edgar Allan Poe gab, richtete er in seinem Haus einen „Traumsalon“ (in der Art eines Rauchsalons oder Boudoirs) ein. Entsprechend bildete der gesamte künstlerische Symbolismus in Frankreich einen Traumsalon in „natürlicher“ oder besser „kultureller“ Größe, da die Symbolisten nach dem Vorbild Baudelaires und Oscar Wildes der Natur, die sie für vulgär und vorhersehbar hielten, mit Misstrauen begegneten. Sie hegten einen ganz anderen Ehrgeiz: das zu zeigen, was man nicht sieht. Deshalb verehrte eine ganze Generation wie des Esseintes Gustave Moreau, den „Traummonteur“, wie er sich selber nannte, und Puvis de Chavannes, dessen Fresken laut Stuart Merrill „das antike Paradies“ darstellten, „in dem unsere Väter schönere Körper mit weniger hässlichen Seelen zusammenfügten2.“ Redons Traumwelten, Rodolphe Bresdins „unentwirrbare“ Druckgrafiken, um Robert de Montesquiou zu zitieren, oder die Traumbilder der englischen Präraffaeliten zählten ebenfalls zu den Vorbildern der Künstler, die mit dem akademischen Unterricht ebenso brechen wollten wie mit der Diktatur der Freilichtmalerei. Zu ihren Leitbildern gehörten aber auch bedeutende „Alte“ wie Turner, William Blake und vor diesen Leonardo da Vinci, Michelangelo, Albrecht Dürer und die italienischen Primitiven, die alle eine als demiurgisch erachtete Kunst geschaffen hatten. Auch wenn diese Beschirmer in ihrem Geist präsent waren, darf man die jungen Symbolisten nicht als Epigonen bezeichnen. Der Symbolismus umfasste verschiedene ästhetische Tendenzen, was ihn jedoch über Fragen des Konzepts und der Form hinaus kennzeichnet, ist die Bestätigung von Individualitäten, die mehr denn je ihre Eigenständigkeit behaupten. Der idealistische Maler schafft seine Welt, überträgt seine Vision mit dem Pinsel auf einen Träger und gibt seiner „Idee“ Form; so sieht sich der Historiker vor einer schwierigen Aufgabe, wenn es darum geht, ein allgemeineres Bild zu entwerfen. Der Pariser Aufschwung äußerte sich in programmatischen Texten und neuen Ausstellungsorten. Die Bedeutung der Manifeste beruhte zum einen auf der unstillbaren Freude der Franzosen an der Rhetorik, zum anderen auf der Notwendigkeit, eine Ästhetik zu rechtfertigen, die sich dem Naturalismus entschieden entgegenstellte3 . Ein paar Jahre nach Moréas’ Artikel meldete sich die künstlerische Welt zu Wort: 1890 veröffentlichte Maurice Denis seine Définition du néotraditionnisme (Definition des Neotraditionalismus)4 , und 1891 verteidigte Joséphin Péladan (Abb. 16) in mehreren Texten seine Rosenkreuzer-Ästhetik, der er in „L’Art idéaliste et mystique” („Idealistische und mystische Kunst”) einen theoretischen Unterbau gab. Um nur die wichtigsten Vertreter dieser Bewegung anzuführen, sei noch der Kritiker Gabriel-Albert Aurier erwähnt, der zwischen 1890 und 1892 drei wichtige Artikel publizierte. Ausgehend von Vincent van Gogh im ersten5 , Paul Gauguin im zweiten6 und einer größeren Künstlergruppe im dritten Aufsatz7, legte er eine detaillierte Definition dessen vor, was ein (ideistisches, symbolistisches, synthetisches, subjektives und dekoratives) Kunstwerk zu sein habe. Über die Nuancen in der Auffassung der Beziehung zwischen der Idee und ihrer bildnerischen Umsetzung, die unterschiedlichen Formulierungen und die manchmal


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