Blickpunkt-Interview mit Dr. Jutta Aumüller

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Thema im Fokus

pen oder auch den Geschlechtern. Die Mädchen liegen beim Bildungserfolg durchweg vorne. Es gibt sogar einige Gruppen, nämlich Mädchen mit einer polnischen oder russischen Staatsangehörigkeit, die statistisch häufiger das Abitur erreichen als deutsche Mädchen. Im Gegensatz zur ersten und zweiten Generation ist die Datenlage zur dritten eher dürftig. Ist Integration hier kein Thema mehr? Es ist politisch nicht unbedingt gewünscht, das Merkmal des Migrationshintergrunds auf eine dritte Generation anzuwenden, da die Gefahr der Stigmatisierung zweifellos vorhanden ist. Die Frage ist auch, wie zielführend die Unterscheidung noch ist. Wir haben in Deutschland eine sehr große Gruppe von Personen mit Migrationshintergrund, die in ihrer Zusammensetzung sehr vielschichtig ist. Außerdem trifft diese Klassifizierung als „Migranten der dritten Generation“ nicht das Selbstverständnis der meisten Menschen mit Migrationsgeschichte, die in Deutschland aufgewachsen sind, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben und die selbstverständlich ihren Anteil an gesellschaftlicher Teilhabe beanspruchen. Jeder Mensch muss auch mal die Chance haben, nicht mehr Migrant zu sein. Richten wir nun den Blick von den ganz Jungen auf die ganz Alten, die „Pioniermigranten“, wie Sie sie mal genannt haben. Was kann getan werden, um diese Zielgruppe mit den bestehenden Angeboten noch besser zu erreichen? Vor einiger Zeit habe ich einen Tag lang in einem Sprachkurs für ältere kurdische Migrantinnen im Alter von 45 bis 60 Jahren hospitiert. Und da habe ich erlebt, mit wie viel Freude und Elan diese etwas betagteren Damen sich jetzt als Großmütter systematisch mit der deutschen Sprache befassen. Diese Generation muss keine verlorene Generation sein, wenn sie die

„Bei vielen älteren Migranten besteht noch eine Neugierde auf diese Gesellschaft, von der sie sich vielleicht auch lange Zeit ausgeschlossen gefühlt haben.“ Chance auf gesellschaftliche Teilhabe hat und dafür Anerkennung findet. Viele von ihnen – und in diesem Sinne halte ich sie für Pioniermigranten – haben erreicht, was sie sich vorgenommen und wofür sie jahrzehntelang hart gearbeitet haben. Sie haben für sich und ihre Kinder einen Neubeginn in Deutschland geschaffen. Manche haben sich ein Haus gekauft, viele haben es erreicht, sich beruflich zu etablieren. Jetzt, mit zunehmendem Alter, haben sie endlich mehr Kapazitäten frei, um sich in diese Gesellschaft einzubringen. Nötig dafür ist nach wie vor die direkte Ansprache. Man braucht Multiplikatoren aus der eigenen Community, die diese Menschen ansprechen und sie auf Angebote aufmerksam machen können. Migrantenorganisationen und andere Verbände, Integrationsbeauftragte und kommunale Gremien sollten außerdem gezielt auf Möglichkeiten der gesellschaftlichen Einbindung dieser Gruppe achten, zum Beispiel durch Konzepte der Ehrenamtsförderung oder der kommunalpolitischen Beteiligung. Bei vielen älteren Migranten besteht noch eine Neugierde auf diese Gesellschaft, von der sie sich vielleicht auch lange Zeit ausgeschlossen gefühlt haben. Brauchen wir aus Ihrer Sicht noch mehr auf diese Generation zugeschnittene Angebote? Bei den ganz Alten spielt die kultursensible Pflege eine große Rolle. Ein großer Teil der Altenpflege wird noch in den Familien selbst geleistet. Hier finden wir ein ganz positives Kulturbild von Familienzusammenhalt vor, was durchaus berechtigt sein mag. Trotzdem finde ich wichtig, dass Familienmitglieder und andere Personen, die sich der Pflege widmen, Entlastung durch unterstützende

Netzwerke finden und vor Überforderung geschützt werden. Ich denke, das Heim ist da als Schritt schon fast zu groß, nachbarschaftliche und ambulante Pflege könnte dagegen eine Möglichkeit sein. Bislang haben wir von Migrantengenerationen gesprochen. Wie sieht es mit der ersten, zweiten und dritten Generation der Aufnahmegesellschaft aus: Ist Vielfalt inzwischen für sie etwas Selbstverständliches? Es gibt durchaus generationelle Unterschiede, wie man mit Fremdheit umgeht und sie wahrnimmt. Das hat viel mit Begegnung zu tun und wie häufig die Menschen die Gelegenheit haben, sich mit Vielfalt auseinanderzusetzen. In den heutigen Schulklassen ist es eigentlich gar kein Thema mehr, wo jemand herkommt. Generell ist der Umgang der Aufnahmegesellschaft mit Vielfalt aber ambivalent. Einerseits akzeptieren in Umfragen immer mehr Herkunftsdeutsche die zunehmende gesellschaftliche Vielfalt, anderseits findet doch eine massive Ausgrenzung einzelner Gruppen statt, man denke nur an die Islamdebatte oder die Diskussion um zugewanderte Roma. Die Gefahr der Ausgrenzung bleibt. Ich bin der Meinung, dass die Einübung von Toleranz und das Erlernen von Mustern, wie man sich konstruktiv mit Vielfalt auseinandersetzen kann, und nicht zuletzt eine konsequente Politik der interkulturellen Öffnung und der Anti-Diskriminierung ganz wichtige gesellschaftspolitische Aufgaben der nächsten Jahre sein werden.

Interview: Zakia Chlihi, Referat Informationszentrum Integration, Bürgerservice

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