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Da staunt selbst der Iron Man
from B&I Die Industrie-Zeitung, Ausgabe 6/24 (November)
by B&I Die Industrie-Zeitung | Betriebstechnik und Instandhaltung
In Berufen, in denen körperliche Belastungen durch schweres Heben und Tragen alltäglich sind, stellt der Einsatz von Exoskeletten eine innovative Lösung zur Unterstützung und Entlastung der Mitarbeitenden dar. Sowohl in der Industrie als auch in der Logistik sind die Vorteile dieser Technologie wissenschaftlich belegt, allerdings gibt es einiges zu beachten.
Es mutet ein wenig an wie die Metallrüstung von Iron Man im gleichnamigen Blockbuster, denn ein Exoskelett umschließt den Körper von außen. Diese Technik ist jedoch gar nicht so neu, wie man das meinen würde – in der Natur haben sich Exoskelette beispielsweise bereits bei vielen Lebewesen bewährt. Insekten und Krustentiere etwa verfügen über äußere Panzer, die ihre inneren Organe stabilisieren und schützen. Inspiriert von dieser natürlichen Bauweise hat der Mensch diese Idee aufgegriffen.

„Anders als wirbellose Tiere haben wir zwar selbst ein Skelett, doch es ist nicht immer für die Belastungen ausgelegt, denen wir gegenüberstehen“, erklärt Detlef Detjen, Geschäftsführer der Aktion Gesunder Rücken (AGR) e.V., und ergänzt: „Nicht ohne Grund sind Rückenschmerzen, insbesondere im Bereich der Lendenwirbelsäule, eine der häufigsten Ursachen für eine Berufsunfähigkeit.“ Tätigkeiten wie schweres Heben und Tragen oder langes Arbeiten in vorgebeugter Haltung belasten die Bandscheiben der Lendenwirbelsäule erheblich und können langfristig zu ernsthaften Gesundheitsproblemen führen.
Exoskelette sind tragbare mechanische Systeme, die den menschlichen Körper bei diesen körperlich belastenden Tätigkeiten unterstützen. Sie finden insbesondere in der Industrie Anwendung, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten und muskuläre Ermüdung zu reduzieren. Die Technologie entlastet Muskeln, Knochen und Gelenke bei wiederholten Bewegungen, wie dem Heben und Tragen von schweren Lasten oder Arbeiten in ungünstigen Körperhaltungen.

Exoskelette lassen sich grundsätzlich in zwei Kategorien einteilen: aktive und passive Systeme.
Passive Exoskelette sind mechanische Hilfsmittel, die ohne externe Energiequellen auskommen. Sie nutzen mechanische Strukturen wie Federn, Bänder oder Gelenke, um Bewegungen des Körpers zu unterstützen. Diese Systeme speichern während bestimmter Bewegungen Energie und geben sie bei Bewegungen wie dem Heben oder Beugen wieder frei.
Ihr Hauptvorteil liegt in der Einfachheit und geringen Wartung, da sie keine Motoren oder Batterien benötigen. Allerdings sind sie in ihrer Unterstützungskapazität begrenzter, da sie rein mechanisch arbeiten und keine aktiven Anpassungen an den Nutzer vornehmen können.
Aktive Exoskelette hingegen verfügen über Motoren und Sensoren, die Bewegungen des Nutzers in Echtzeit über wachen und anpassen. Diese mechatronischen Systeme nutzen elektrische Energie, um gezielt Kraft bereitzustellen, die den menschlichen Körper unterstützt.
Sie können nicht nur beim Heben, Tragen und Absenken von Lasten helfen, sondern auch beim Gehen und Stehen Energie sparen, indem sie das Gewicht, das auf den Körper wirkt, aktiv kompensieren.
Diese Systeme sind komplexer und bieten ein höheres Unterstützungsniveau, erfordern jedoch auch regelmäßige Wartung und Schulung der Benutzer.
Aktive Systeme in der Praxis
Eine Firma, die solche aktiven Systeme bereits nutzt, ist der Medizinproduktehersteller Medi mit seiner Zentrale im nordbayerischen Bayreuth, der 25 internationale Niederlassungen unterhält und in über 90 Länder exportiert.
Täglich werden hier Waren und Materialien in hoher Stückzahl angeliefert und anschließend die produzierten Medizin-, Sport- und Fashion-Produkte weltweit verschickt. Beim Anliefern, Sortieren, Ein- und Auslagern, Verpacken und Versenden geht es nicht ohne Handarbeit, um reibungslose Abläufe sicherzustellen.
Das hier genutzte aktive Exoskelett wird am Oberkörper und an den Oberschenkeln angebracht und durch eine Weste sowie Gurte sicher fixiert. Dabei sorgt es für eine umfassende Unterstützung bei körperlich belastenden Tätigkeiten.
Unterstützung bis 30 Kilogramm
Das verwendete Exoskelett ist mit Elektromotoren und Sensoren ausgestattet, die Bewegungen aktiv verstärken. Diese Unterstützung ist besonders hilfreich beim Heben, Tragen und Absetzen von Lasten sowie beim Gehen, da das System bis zu 30 Kilogramm Gewicht kompensiert.
Es richtet den Oberkörper auf, vermindert den Druck auf die Lendenwirbelsäule bei längerem Arbeiten in vorgebeugter Haltung und entlastet Gelenke, Wirbelsäule und Muskeln. Dies führt zu einer besseren Körperhaltung und einem sichereren, komfortableren Arbeiten bei wiederholten Bewegungen.

Fabian Rauch, der Leitung Lager bei Medi, kommentiert: „Ich bin absolut überzeugt vom Einsatz der Exoskelette in der Logistik. Wir haben uns vorab umfassend über die Technologie und Möglichkeiten informiert und mehrere Systeme getestet, bevor die Entscheidung auf ein Modell mit 30 Kilogramm Unterstützung bei Hebebewegungen und zusätzlicher Laufunterstützung fiel.“ Übrigens: Wer hier ein Exoskelett nutzt, wird von einem speziell ausgebildeten Kollegen eingewiesen und gecoacht. Dieser „leitet beim effizienten Aufheben und Abstellen von Lasten sowie deren Transport genau an, um die Unterstützung durch das Exoskelett optimal auszuschöpfen“, ergänzt Rauch, der betont, dass das Feedback der Kollegen sehr positiv sei.
Funktioniert ähnlich wie ein E-Bike
Das Exoskelett bietet nicht nur zusätzliche Kraft, sondern reduziert auch den nötigen Kraftaufwand und schützt vor Verletzungen, wodurch die Produktivität gesteigert wird Sascha Bohne, Leitung Betriebliches Gesundheitsmanagement bei Medi, bestätigt die positiven Auswirkungen: „Die längere Lebensarbeitszeit sowie Rückenschmerzen als häufige Ursachen für Krankschreibungen sind nur zwei Gründe, um das Berufsleben so zu gestalten, dass wir unserer Arbeit gerne nachgehen und leistungsfähig bleiben. Bei Tätigkeiten in der Logistik ist der Rücken gefordert und belastet, dieses Ergebnis der arbeitsmedizinischen Analysen bei Medi war wenig überraschend. Deshalb wollen wir die neuen Technologien nutzen, um die Arbeit für unsere Mitarbeiter komfortabler und gesünder zu gestalten und Rückenproblemen vorzubeugen. Die Exoskelette machen es möglich.“
Dabei unterstützt das Exoskelett die Anwender sogar beim Gehen, indem es mit jedem Schritt zusätzliche Energie liefert. Der Mensch steuert das Exoskelett und nicht umgekehrt. Aktive Exoskelette passen die Stärke der Unterstützung automatisch an die Bewegungen an, wobei sie bei schnellen Bewegungen mehr Unterstützung bieten und bei langsameren Bewegungen weniger. Beim Heben von Lasten ziehen die Motoren unterstützend nach oben, und beim Absetzen bremsen sie die Bewegung sanft ab.
Das System passt sich so den Bewegungen an und bietet sogar Vorschläge für optimierte Bewegungsabläufe. Wer bereits ein E-Bike gefahren hat, kann sich die Wirkung eines Exoskeletts gut vorstellen, da es ähnlich unterstützend wirkt.
Durch die regelmäßige Nutzung entwickelt sich schnell eine Routine, die das schnelle und einfache Anlegen des Exoskeletts erleichtert, betonen die Experten von Medi. Das Grundgerät beinhaltet eine Weste sowie Rücken- und Beinplatten, die in individuellen Größen angepasst werden können und einen hohen Tragekomfort bieten.
Passives System jetzt mit AGR-Siegel
Doch nicht nur aktive, sondern auch passive Exoskelette unterstützen die Rückenmuskulatur beim Heben und Tragen, beugen Überbelastungen vor und verhindern Verletzungen.
Mechanische Elemente wie Federn, Gummibänder oder Gasdruckriemen kommen hierbei zum Einsatz, um die Bewegungen des Trägers zu unterstützen. Diese Komponenten speichern während jeder Bewegung Energie, die bei belastenden Aktivitäten wie dem Aufstehen oder Heben wieder freigesetzt wird. Besonders wichtig im Arbeitsalltag ist, dass solche Hilfsmittel die Arbeitsabläufe nicht stören. Einige Modelle lassen sich, ähnlich wie ein Rucksack, tragen Sie sind individuell anpassbar und sorgen dafür, dass der Rücken bei wiederholten Beuge- und Hebebewegungen entlastet wird, ohne die Bewegungsfreiheit einzuschränken.
Dominik Heinzelmann, Geschäftsführer der Firma Htrius, deren Exoskelett kürzlich das AGR-Gütesiegel erhielt, betont: „Daher kann man das Exoskelett auch während kurzer Pausen oder Autofahrten problemlos tragen, man muss es nicht ausziehen. Kurz die Gurte lösen und fertig.“
Das Exoskelett von Htrius zeichnet sich laut Hersteller durch eine besonders rückenfreundliche Konstruktion aus, die unter anderem ein S-förmiges Rückenteil und individuell einstellbare Gurte umfasst. Diese Merkmale sorgen für eine signifikante Entlastung der Muskulatur bei repetitiven Arbeiten. Auch Bewegungen wie Gehen und Stehen werden nicht beeinträchtigt, was das Exoskelett zu einer flexiblen Unterstützung im Arbeitsalltag macht.

Unternehmen, die Exoskelette einsetzen, profitieren von einer Vielzahl positiver Effekte. Die Reduzierung von Ausfallzeiten, Unfällen und Verletzungen führt zu einer gesteigerten Produktivität und Effizienz. Gleichzeitig verbessert sich die Zufriedenheit der Mitarbeitenden.
Nutzen belegt
In einer Pilotstudie, die in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich durchgeführt wurde, konnte nachgewiesen werden, dass das Exoskelett die Körperhaltung um 37 Prozent verbesserte und die Muskelaktivität der am Heben beteiligten Muskeln um 5 bis 35 Prozent verringerte.
Zudem ermüden die Muskeln langsamer, was laut Detlef Detjen von der Aktion Gesunder Rücken (AGR) auch die Ausdauerfähigkeit der Muskeln steigert: „Das Exoskelett scheint also auch die Ausdauerfähigkeit der Muskeln zu verbessern.“
Trotz all der guten Erfahrungen sollten laut der Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) Exoskelette erst dann eingesetzt werden, wenn technische und organisatorische Maßnahmen ausgeschöpft sind. Denn oft lassen sich Belastungen durch eine ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes oder technische Hilfsmittel wie Hebehilfen und höhenverstellbare Arbeitstische bereits erheblich reduzieren. Erst wenn diese Maßnahmen nicht ausreichen, sind personenbezogene Maßnahmen wie Exoskelette sinnvoll.

Weitere Informationen zum Thema bietet die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) online mit einer abrufbaren Muster-Gefährdungsbeurteilung für Exoskelette im PDF-Format an.
Von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) e.V. gibt es außerdem eine Leitlinie zum Einsatz von Exoskeletten im beruflichen Kontext. Das ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e.V. informiert ebenfalls ausführlich über das Thema und liefert dabei auch Hinweise zur praktischen Umsetzung.