Mein Todfreund, der Alkohol.

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Reinhard Siemes (29.8.1940 – 16.4.2011) Geboren in Remscheid, aufgewachsen in Schwelm, Westfalen. 1960 -1962 Meisterschule für Grafik, Druck und Werbung in Berlin. 1963 -1970 Texter in Werbeagenturen, Düsseldorf und Basel. 1971-1972 Selbstständiger Texter in Düssedlorf. 1973 -1975 Texter in Werbeagenturen, Düsseldorf und München. 1976 -2005 Büro für Werbung, Reinhard Siemes, München. 1978 -2002 Mitglied und Vorstand des Art Directors Club für Deutschland. 1984 -1986 Präsident des Art Directors Club für Deutschland. 1997-1999 Mitglied im Beirat Sprache des Goethe Instituts. 2006 -2011 Ladenbesitzer (Antiquitäten) in Rogaška Slatina, Slowenien.

„Kann man einem Trinker helfen? Viele, die es versuchen, verzweifeln daran. Kann man einen Trinker verstehen? Mit diesem Buch ein wenig. Reinhard Siemes schreibt über seinen Todfreund, der ihn die längste Zeit seines Lebens verfolgte. Ich fragte ihn: Das Tödliche am Suff verstehe ich, aber warum denn Freund? Dem Alkohol verdanke er Ideen, auf die er ohne nicht gekommen wäre. Als er das sagte, war er nüchtern, aber irrte trotzdem. Reinhard Siemes wäre auf noch mehr und noch bessere Ideen gekommen, wenn ihm diese Freundschaft erspart geblieben wäre. Die Veröffentlichung seines Buches sollte er nicht mehr erleben. So ist es das Vermächtnis eines Menschenfreundes, der viel für andere tat, für den aber nicht genug getan werden konnte, um ihn von seinem Todfeind zu befreien.“ Sebastian Turner ist Herausgeber des Tagesspiegel.

1980 -2002 Seminare ‚Kreatives Denken und Texten’ an Hochschulen, Fachhochschulen und für Unternehmen. Unter anderem LMU München, HdK Berlin, Donau-Universität Krems. 1981-2003 regelmäßige Beiträge für die Fachzeitschriften werben & verkaufen und Horizont. Beiträge für Transatlantic, Playboy, SZ-Magazin, taz., Serie für Max. Kolumnen in Berliner Morgenpost und Tagesspiegel. Seit 1982 Kunstobjekte ‚Betrachtungsweisen’, die niemanden interessieren. Seit 2003 Gedichte, die niemand lesen will.

€ 24,90 (D)

Circa 60 Auszeichnungen in Deutschland, Österreich, Schweiz und USA. 2010 Ehrenmitglied ‚Lebenswerk’ des Art Directors Club für Deutschland. 9 783899 862263 >

Reinhard Siemes. Mein Todfreund, der Alkohol.

SU_avedition_siemes_alkohol_Todfr_U_07_15 03.08.15 07:31 Seite 1

Reinhard Siemes

Mein Todfreund, der Alkohol. 56 Episoden aus dem Leben eines Reklametexters, der auch Trinker war. Und eines Trinkers, der auch Reklametexter war.

Das erste Buch eines Betroffenen ohne Larmoyanz, dicht an der Unterhaltung. Der Autor schildert seine 47-jährige Karriere als Alkoholiker mit schonungsloser Offenheit, aber auch viel Selbstironie. Keine durchgehende Trinkergeschichte, sondern 56 nasse und trockene Episoden, überwiegend aus der Wunderwelt der Werbung. Besonders aufschlussreich: Die Dialoge mit dem raffinierten Todfreund. Kritik in alle Richtungen: Fast alle ärztlichen und gruppentherapeutischen Angebote werden infrage gestellt. Die Hilflosigkeit der Therapeuten, das Sektierertum der Selbsthilfegruppen, die Starrheit vieler Kliniken, von teuren Privathäusern bis zur Landesanstalt. Es werden aber auch Wege aufgezeichnet, wie es anders geht. Ein nützliches Buch für Betroffene und Angehörige, ein informatives Buch für Ärzte und Therapeuten, ein spannendes Buch für den interessierten Normalleser.


„Normalität ist die Mitte vom Nichts.“ Reinhard Siemes


Inhalt 11

Berlin, im Dezem­ber 1964, und München, im Dezember 1993: Zwei unheilige Abende.

25

Berlin, 1998: „Glauben Sie mir, es gibt nichts Unwichtigeres als Werbung.“

29

New York, im Dezember 1982: Die schönsten Puffzimmer gibt es im Waldorf Astoria.

37

Herdecke, im September 1972: Drei Möwen durch­fliegen eine Glas­scheibe, ohne dass sie splittert.

45

Wien, im Septem­ber 1981: Das Casino auf der Kärntnerstraße bezahlt drei Fla­schen Champagner. Ausnahmsweise.

49

München, im August 1996: Ein Gespräch mit mei­nem Todfreund, bei dem ich keine besonders gute Figur mache.

52

München, im Ok­to­ber 1998: Wie gut, dass Menuhin keinen BMW fährt und nicht mit Claudia Schiffer verwandt ist.

63

Düsseldorf, im Dezember 1968: Verrückt in der Werbung ist nur, wer glaubt, er sei normal.

71

Düsseldorf, im Januar 1973: Das vermeintliche Gelage der Ordens­schwestern.

76

Cannes, im Juni 1986: Wo Werber das Geld lassen, das übrig bleibt, nachdem sie sich einen schwarzen Porsche gekauft haben.

82

München, im März 2005: Das hat J. S. Bach nur für mich geschrieben.


88

München, im Juli 1987: Die Angst des Trinkers vor der Veränderung.

91

München, im April 1980/März 1981: Wie ich einen seriösen Klavier­händler ruinierte.

99

München, im März 1991: Mein Tod­freund greift die AA an, und ich ver­teidige sie sogar.

102

Berlin, Juni 2007: Die Beobach­tun­gen der Gabriela Oswald.

106

Berlin, Juni 2007: Nicht mein Tod­freund, nein, die Umstände sind an allem Schuld.

113

Frankfurt, im März 1978: Der zwei­geteilte Henninger Turm.

117

München, im August 1984: Ich werde Vereins­präsident, nicht ganz wider Willen.

122

Frankfurt, im September 1986: Der Tempelhofer Treppensturz.

128

München, im Oktober 1976: Vom Reklame­texter zum Kleinverleger.

134

Düsseldorf, im Mai 1973: Ich trinke keinen Jäger­meister, weil andere ihn trinken sollen.

142

Wendisch Rietz bei Berlin, im Juli 2006: Ein Engel am See und andere Bilder.

148

Drei Wochen spä­ter: Wie gut, dass der Staat so lieb zu seinen Beamten ist.

152

Rogaška Slatina, im Dezember 2010: Tangerine statt Laško Pivo.


160

Celje, im April 2010: Warum ich Dr. Tkalec den schönsten Schluck Wasser meines Lebens verdanke.

169

München, im Juni 2003: Lästerlyrik versus erd­geschwerte ­Blaumondzeit.

182

Berlin, im August/September 2008: Der sächsische Pfleger und die Ost-Knackis.

195

München, im Sep­tember 2002: Das Jesuskind im EC nach München.

200

Düsseldorf, im April 1970: Huf­schmied für Eselin Sylvia gesucht.

203

Düsseldorf, im September 1971: Die meistgeklaute Zeitschrift Deutschlands.

207

Düsseldorf, im Februar 1972: Jeder Säufer hat einen, der noch weiter unten ist.

210

Düsseldorf, im Januar 1965: Die wunderbare Wir­kung der Gerber Kinderkost.

213

Basel, im Juni 1969: Was macht ein Sauschwab in der schönen Schweiz?

223

Düsseldorf, im Oktober 1969: Wie ich die Jünger von Joseph Beuys schockte.

228

Düsseldorf, im Mai 1966: Vom krea­ti­ven Olymp auf den Steinfußboden der Realität.

231

Oberberg, im September 1996: Wer feiner säuft, darf auch einen feineren Entzug machen.


244

München, im Okto­ber 1996: Die Hackordnung der Suchtkranken.

247 Zagreb/Priština, im April 1970: Die Eroberung des Amselfelds durch eine Reisegruppe aus Düsseldorf. 259

Düsseldorf, im August 1973: Der Herr bewahre mich vor Krebs, Hagel und dicken Frauen.

261

München-Haar, im Mai 1989: Was machen Ärzte, die von der großen Karriere träumen, mit besoffenem Abschaum?

277

Einen Tag später: Der Mensch braucht ja so wenig, um glücklich zu sein.

283

München, im November 1995: Die raffinierten Argumente meines Todfreunds.

287

München, im Juni 1977: Wir konnten zusammen nicht kommen.

290

Berlin, im März 1979: Eine traurige Nachricht wird noch ­trauriger, wenn sie von einem Arschloch erzählt wird.

292

Düsseldorf, im Oktober 1978: Ein Nachnahmebrief mit zwei Blatt Papier für 1600 Mark.

297

Berlin, im Oktober 2008: Ein kleiner Vogel, der zu einer Katze und zu mei­ner großen Liebe geworden ist.

305

Berlin, im Dezem­ber 1960: Das Wunder von der Masurenallee.

309

Berlin, im März 1961: Die nächt­lichen Besuche einer lispelnden Kornflasche.


315

Rogaška Slatina, im Herbst 2006: Früher oder später sind alle Bezie­hun­gen ruiniert, auch meine.

319

München, im August 1994: Mein Todfreund wäre der ideale Politiker.

327

Hydra, im Juni 1987: Die griechi­sche Dreierbande und die Kunst, sich ohne Worte zu verstehen.

336

Düsseldorf, im März 1963: Mit CLIN wird alles sauber wie durch einen Zauber.

340

Rogaška Slatina, im August 2005: Die freilaufenden Bademäntel vom Zdraviliški trg.

346

München, im November 2005: Vergangenheit günstig abzugeben.

352

Berlin, im Juli 2007: Endlich weiß ich, wie es ist, wenn dich ein Be­sof­fener zuquatscht.

356

Zwischen Hanno­ver und Düssel­dorf, im Juli 1973: Warum man im Speisewagen der Bundesbahn keine Suppe essen sollte.



Berlin, im Dezem­ ber 1964, und München, im Dezember 1993: Zwei unheilige Abende. Warum kann der Kalender am Jahresende nicht zehn Tage überspringen, vom 23. Dezember direkt auf den 2. Januar? Ich hasse die Zeit dazwischen, vor allem den 24. Dezember, und bin glücklich, wenn alle Weihnachtsbäume und Silvesterböller teurer Müll geworden sind. Das Einzige, was mich über diese Tage hinwegtröstet, ist Bachs Weihnachtsoratorium. Aber bitte nicht an einem der Festtage mit Weihnachtsbaum. Am liebsten höre ich es in der ersten Dezemberwoche, wenn die Menschen um mich herum noch einigermaßen normal sind. Den denkwürdigsten Heiligen Abend erlebte ich mutterseelenallein 1964 in Berlin auf der Wielandstraße in der Pension Dittberner. Ich war bereits aus meinem Untermieter-Apartment ausgezogen, und meine beiden Umzugskartons befanden sich auf dem Weg nach Düsseldorf, wo ich ab Januar wieder bei der Troost Werbeagentur arbeiten würde. Nach Berlin hatte ich mich nur vorübergehend abgesetzt, um meinen Personalausweis zu erneuern, der mich vor der Musterung für die Bundeswehr bewahrte. Das Pensionszimmer hatte Groß-Berliner Ausmaße und war mit schweren alten Möbeln und einem harten, durchgelegenen Bett bestückt. Dazu

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Cannes, im Juni 1986:   Wo Werber das Geld lassen, das übrig bleibt, nachdem sie sich einen schwarzen Porsche gekauft haben. Wenn nach den großen Filmfestspielen in Cannes die kleinen mit den Werbefilmen stattfinden, zeigt auch der Art Directors Club für Deutschland seine Flagge mit dem magentaroten Stern. Jeweils am Freitag vor der Preisverleihung lädt er im Strandrestaurant „Cannes Beach“ etwa 200 Gäste ein zum fröhlichen Umtrunk mit Champagner und kleinen Schweinereien, auch Fingerfood genannt. Die größere Hälfte der Gäste sind ADC-Mitglieder, die sich den Besuch des einwöchigen Reklamefestivals leisten können, schätzungsweise 4000 Mark. Die kleinere, aber wichtigere Gruppe bilden die Geladenen aus Unternehmen, meistens Marketingleute, die normalerweise zu meinen Feinden gehören. Jetzt aber scheint die Sonne, wenn auch eingetrübt, der Champagner stimmt milde, und weil ich als ADC-Präsident schon an den Vortagen mehrere Empfänge hinter mich gebracht habe, gibt es nur noch Freunde um mich herum. Otti Severin, der bis vor zwei Jahren ADC-Oberer war, ist tatsächlich einer, auch wenn er 400 Kilometer entfernt in Frankfurt lebt. Wie im Vorjahr nutzen wir die Anwesenheit von ungefähr 200 bis 300 Werbemillionen zu einer konzertierten Aktion. Der Empfang kostet schließlich eini-

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ges, und ein Teil des Geldes soll bitte in die Vereinskasse zurückfließen. Wir suchen uns Opfer aus, die für mindestens 2000 Mark pro Jahr Fördermitglied werden sollen. Nicht sofort, sondern erst nach unserer gezielten Überzeugungsarbeit. Sofern wir die Kandidaten nicht kennen, lassen wir uns von unserer Düsseldorfer Clubsekretärin Ingeborg Reese zeigen, wer was ist und wo er steht. Sie hat nicht nur die Gästeliste, sondern auch ein aus­gezeichnetes Personengedächtnis, während unseres in den letzten Tagen etwas verblichen ist. Dann wählen wir die Aspiranten mit den dicksten Werbeetats aus und beobachten eine Zeit lang ihre Champagnergläser. Behalten sie über längere Zeit den gleichen Pegel, können wir den Glas­ halter vergessen. Wer sich jedoch von den hübschen jungen Französinnen häufiger ein Schlückchen nachgießen lässt, wird zu unserer Zielperson. Der heutige Spät­nachmittag ist sehr schwül, und eine diffuse Hochnebeldecke liegt über Cannes. Pralle Sonne wäre besser, denn sie wird in Verbindung mit dem Champagner zum Katalysator. Unsere Drückeraktion beginnt mit einem Glücksfall. Der Marketingleiter der August Oetker KG kommt auf mich zu. Wir haben ihn bisher nicht beachtet, er trinkt Orangensaft. „Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich. Fahrenson & Fehse vor sieben Jahren, die Agfa-Anzeigen.“ Und ob ich mich erinnere. Nicht an sein Gesicht, auch nicht an seinen Namen, aber an die Agfa-Anzeigen. Klaus Fehse, sein Chef mit Tendenz zu origineller Werbung, hatte mich häufiger als Texter engagiert und schätzte meine zickige Art zu schreiben. Besonders nachdem ich für ihn sechs Chivas-Regal-Anzeigen aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzte und dabei einen Text in meinem Sinn modifizierte. Wortwörtlich hätte die Übersetzung lauten müssen: „Sie können auch ohne Chivas Regal leben. Fragt sich nur, wie?“ Aufgrund meiner feuchten Vergangenheit machte ich daraus: „Sie können auch ohne Chivas Regal leben. Aber ist das ein Leben?“ Fehses Begeisterung für diese Version kam nicht von ungefähr. Er trank gern sehr guten Rotwein und zwischendurch einen 20 Jahre alten Whisky. Außerdem rauchte er Pfeife, aß mindestens so gern wie gut und fuhr ­einen bordeauxroten 170er Mercedes aus den Fünfzigerjahren, natürlich ge­pflegt bis in die Reifenprofile. Kurzum, er war das, was man einen Genießer nennt. Darum entsprach meine Chivas-Regal-Version weit mehr seinen Intentionen als die amerikanische Vorlage.

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Düsseldorf, im Mai 1966:   Vom krea­ tiven Olymp auf den Steinfußboden der Realität.

Ich habe es geschafft, bin Texter in der besten Werbeagentur Deutschlands. Und das kam so: Vor einem Jahr lernte ich auf einer Reklamever­ anstaltung des Werbervereins Art Directors Club Atze kennen, Berufs­ber­ liner und Kundenberater der Werbeagentur Doyle, Dane, Bernbach, kurz DDB. Sie hat ihren Hauptsitz in New York und verwirrt die Branche mit einer neuen, intelligenten Art zu werben: Nicht schreien, sondern überzeugen, eine Sache von allen Seiten zeigen. Und das auf intel­ligente und überraschende Weise. Vor drei Jahren ist sie über den Teich nach Düsseldorf gekommen und bringt alle deutschen Werbeagenturen zum Staunen. So originell und unterhaltend kann Reklame sein? Für VW entwickelte sie zum Beispiel eine Anzeige, die ein Ei zeigt, bemalt mit der Rückansicht des Käfers. „Es gibt Formen, die man nicht verbessern kann.“ Die Reduktion und die einfache Sprache im Anzeigentext wurden sogar Gesprächsthema bei Leuten, die Werbung bisher als Verdummung abgelehnt hatten. Jetzt fragen sie sich, was als nächstes kommt und sind bisher nicht enttäuscht worden. Für Grafiker und Texter in anderen Agenturen ist DDB der Olymp und

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ich hätte nie den Mut gehabt, mich dort mit meinen durchschnittlichen Arbeitsproben zu bewerben. Atze aber machte mir Mut: „Du hast nicht nur Mist produziert. Ein paar Sachen sind völlig in Ordnung.“ Bei Troost waren meine Texte immer glattgeschliffen worden. Aber ich hatte nebenbei für eine kleine, aber mutige Agentur gearbeitet, um mehr Geld für meine Wohnungseinrichtung und die Altstadtbesuche zu haben. Dabei waren ein paar kleine, fast witzige Sachen rausgekommen. Unter an­derem eine Anzeige für das Mückenschutzmittel Kita. Eine gezeichnete Mücke mit gestrichelter Aufgeregtheit und einer riesigen Sprechblase: „Sie glauben gar nicht, wie ich Kita hasse.“ Eddy Valenti, der Düsseldorfer Kreativchef aus den USA, legte die ­anderen Anzeigen zur Seite und sagte: „This is all to forget about. Aber die Mücke sagt mir, du kannst es. Wir nehmen dich.“ Das war wie ein Rit­ter­ schlag. Ich gehörte zu den sieben auserwählten Textern, die bei DDB ­arbeiten durften. Um meinen Status nach außen hin zu zeigen, legte ich mir sofort ein schwarzes Aktenköfferchen zu, wie es gerade bei Agen­tur­ leuten Mode war. Allerdings die brutale Ausführung aus dickem Spalt­ leder. Wenn ich nicht gerade mit dem Taxi die fünf Kilometer von Unterrath zu DDB fahre, laufe ich mit dem Köfferchen zur Straßenbahn, vorbei an der Eckkneipe des abgehalfterten Fortuna-Fußballers Horst Hefner. Weil der Mai sehr warm ist, steht die Tür immer offen und ich werfe auf dem Rückweg manchmal einen Blick rein. Eine typische Düsseldorfer Vorstadtkneipe mit den typischen Thekenstehern. Gestern Abend, als Heike bei Freunden war, dachte ich, es ist unfair, das Lokal fortwährend zu ignorieren. Mein Köfferchen hatte ich nicht mit, also beide Hände frei für ein vereinzeltes Probebier. Ich stellte mich an die Theke und wurde nach wenigen Minuten von einem Stammzecher angesprochen: „Sagen sie mal, sie laufen hier immer im Anzug und mit einem schwarzen Köfferchen vorbei. Sind sie Versicherungsvertreter?“ „Nein, ich arbeite in der Werbung.“ „Ach so, in der Reklame. Und was machen sie da?“ „Ich bin Texter. Ich schreibe die Überschriften und die erklärenden Texte für Anzeigen. Oder das, was die Leute in der Rundfunkwerbung sagen.“ „Ja wie? Sie setzten sich hin und schreiben den ganzen Tag nur Sätze?“ Wie es der Zufall wollte, lag auf einem Tisch die aktuelle Ausgabe der

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Rheinischen Post mit einer C & A-Anzeige auf der letzten Seite, die ich getextet hatte. Zum Foto eines Twiggy-ähnlichen Mädchens im sehr kurzen Minikleid stand die Headline: „Um dieses Kleid zu kaufen, brauchen Sie 32 Mark und Mut.“ Ich zeigte ihm die Anzeige. „Die Überschrift zu diesem Foto und der Text darunter, das habe ich geschrieben.“ Er sah sich das Werk eine halbe Minute nachdenklich an, versuchte auch die kleinen Zeilen des Textblocks zu lesen. Dann sagte er: „Kann man denn damit Geld verdienen?“

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Oberberg, im September 1996: Wer feiner säuft, darf auch einen feineren Entzug machen. Wenn der gemeine Säufer ärztliche Hilfe braucht oder sucht, landet er in einem Landeskrankenhaus, dessen Therapie vor allem darin besteht, die Patienten wegzuschließen, um sie vor sich selbst und ihrer Sucht zu schützen – wie die Ärzte zu sagen pflegen. Das geschieht zum Teil aus Geld­ mangel, zum Teil aufgrund negativer Erfahrungen, zum Teil aus Faulheit. ­Häufig jedoch aus Unkenntnis und fehlender Bereitschaft, sich über das angelernte Wissen hinaus mit Alkoholismus zu befassen. Auch heute noch wird die dritthäufigste Volkskrankheit (nach Krebs und Herzleiden) während des Medizinstudiums im Schnellgang abgehandelt. Wie auch anders? Im dünkelhaften Weltbild der Professoren sind Alkoholiker die Parias unter den Patienten, Kranke ohne Wert. Was ist das Säuferleiden gegen kaputte Herzkranzgefäße, Parkinson, multiple Sklerose oder ein ehrliches Brustkarzinom? Selbst massive Manien, die das Klinikpersonal weit mehr fordern als Alkoholismus (wenn sie nicht massiv wegmedikamentiert werden), sind anerkannter als der Suff. Nur Ärzte, die selbst Opfer der Sucht waren, können einen Alkoholkranken verstehen. Für die anderen handelt es sich um ein Leiden, dass der Be-

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München, im Okto­ber 1996: Die Hackordnung der Suchtkranken.

Von Zeit zu Zeit denke ich zurück an meinen Aufenthalt in Oberberg. Auch wenn die vier Wochen nach Meinung der meisten Psychologen und Gruppen viel zu kurz waren, haben sie mir sehr gut getan. Ich brauche keinen Bundeswehrbetrieb, wie er bei Langzeittherapien in vielen staat­ lichen Einrichtungen praktiziert wird. Noch weniger die Entmündigung in einem Gefangenenlager à la Synanon, angeblich eine Lebensschule auf Zeit. Das Prinzip ist überall gleich: wochenlang kein Telefon, keinen Zugang zu den Medien (in machen Häusern nicht einmal eine Zeitung), kontrollierte Hofgänge und strenge Zeitvorgaben für alles, was du tust. Furzen nur abends von 22.30 bis 22.35 Uhr. Besucher haben einen Monat lang keinen Zugang. Bei Synanon sogar drei. Du sollst tagelang mit dir allein sein, um über dich nachzudenken und später in der Gruppe und mit Hilfe der Gruppe zu dir zu finden. Das Sucht-Ich oder der Todfreund soll systematisch aus deinem Leben verdrängt werden. Die von Synanon glauben sogar, du kannst ihn eliminieren, auslöschen, weshalb man bis zu drei Jahre lang interniert bleibt.

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Das muss kein Irrweg sein. Viele Abhängige, die den Synanon-Knast durchlaufen haben, sind hinterher lange Zeit sauber und geraten erst nach Jahren zurück an die Nadel oder die Flasche. Rund 20 Prozent bleiben sogar drogenfrei auf Lebenszeit, sagen die Synanon-Oberen. Mein Pro­ blem mit diesen Zwangsmaßnahmen ist der Glaube, sie seien universell anwendbar und wirksam. Wenn sie ihre Krankheit ausleben, sind alle Süchtigen gleich: erster Kontakt mit dem Stoff oder Reiz, Befriedigung und Glücksgefühle, der Wunsch, die Glücksgefühle zu wiederholen, Steigerung der dazu notwendigen Mengen, Abhängigkeit, Kontrollverlust, ohnmächtige Gier. Den Weg zurück in ein suchtfreies, zufriedenes Leben muss jeder für sich selbst finden und gehen. Doch statt Beistand bekommt er eine starre, zementierte Therapie übergestülpt. Das Individuum existiert nicht mehr. Zimmer 12 ist gleich Zimmer 24, Insasse gleich Insasse. Nur so lernt er soziales Verhalten, sagen die Wärter. Nur so bekommt er das AmeisenSyndrom, sage ich, und ist ohne Weckerinnen, Wächterinnen oder Wärmeträgerinnen als Einzelwesen kaum noch lebensfähig. Ich aber will ­wieder der werden, der ich in trockenen Zeiten war. Ohne neue Abhängigkeiten von Gruppen oder Ideologien. Ärzten und Therapeuten fällt es leider schwer, die Freiheit des Indivi­du­ ums zu berücksichtigen. Sie werden darauf auch nicht vorbereitet. Schon ihre Ausbildung erzieht zum uniformen Denken. Es gibt nur Süchtige mit ­unterschiedlichen Krankheitsbildern, d i e Alkoholiker, d i e Drogensüchtige, d i e Tablettenabhängigen – wenn überhaupt differenziert wird. Auf den Einzelnen einzugehen, seine Schwächen zu erkennen und die Stärken hervorzuholen, das wird nicht gelehrt. Außerdem kostet es Zeit und nach Ansicht der Versicherungen unverhältnismäßig viel Geld. Ein doppelter Irrtum. In Suchttherapien geht es ums Lernen, ähnlich wie in einer Schule. Der Süchtige muss lernen, mit seiner Krankheit umzugehen. Erziehungswissenschaftler haben längst bewiesen, dass es effektiver und ökonomischer ist, den Einzelnen zu fördern – statt in der Gruppe oder Klasse einen vermeintlich bewährten Lehrplan durchzuboxen. Die Betroffenen sind seltsamerweise keinen Deut besser. Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter. Der Hypersexuelle etwa sieht im Tabletten­ süchtigen keinen Leidensgenossen. Sondern einen, der sich mit fremden Stoffen versorgen muss, das Mitglied einer niederen Kaste. Die Tabletten-

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abhängigen wiederum stellen sich über die Drogensüchtigen. Kiffer sind feiner als Kokser, Kokser besser als Junkies. Und die Junkies haben immer noch uns, die Alkoholiker. Wir sind die Parias unter den Süchtigen. Selbst unter den Alkoholikern gibt es eine asoziale Ordnung. Der Sozialhilfe­ emp­fänger, der sich mit Aldi-Fusel zudröhnt, ist Dreck. Der IT-Manager, der Bio-Wein in sich reinschüttet, leidet an einem Burn-out-Syndrom. Alte Säufer sind weniger wert als junge, die polytoxen wissender als die reinen Alkoholiker. Wer oft Besuch bekommt, ist angesehener als die einsame, arme Sau. Der Marlboro-Raucher steht über dem Selbstdreher. Süchte machen nicht nur krank. Sondern auch sehr, sehr dumm.

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Zagreb/Priština, im April 1970: Die Eroberung des Amselfelds durch eine Reisegruppe aus Düsseldorf. Es ist kurz vor elf, einigermaßen nass-warm und wir sollen das Nationalmuseum besichtigen. Racke, unser Schnaps- und Weinkunde, hat uns als Star-Team der Werbeagentur DDB zu einer Besichtigungsreise in Sachen Amselfelder Rotwein nach Zagreb und ins Kosovo eingeladen: Atze, den Kundenberater, Juppy, seinen Assistenten, Kießling, den Art Director, und mich als Mann für süffige Texte. Wir sollen uns an Ort und Stelle davon überzeugen, dass Amselfelder Rotwein von guten Menschen auf ehrliche Weise mit dem Munde gemacht wird. Am Mittag sind wir bei der Navip eingeladen, der staatlichen Export­ gesellschaft für jugoslawische Alkoholika aller Art. Im Moment sprechen die Racke-Leute mit dem Navip-Chef über Preise, Fördermengen, Tanklastzüge und Kompensationsgeschäfte. Über Dinge also, die keinen Amsel­ felder-Säufer in Deutschland interessieren. Unsere Aufgabe ist es, aus dem Massenwein einen Tropfen der gehobenen Art zu machen, einen Château Djakovica Grand Cru oder was weiß ich. Das Nationalmuseum stammt aus der k.-u.-k.-Zeit und wirkt mit den alten Kanonen davor wie eine ­gammelige Filmkulisse. Es wird von einem hohen, schmiedeeisernen Zaun

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Editorische Notiz „Mein Todfreund, der Alkohol“, so wird das Buch heißen. Das wusste Reinhard Siemes schon bevor es geschrieben war. Während eines Entzugs im Frühsommer 2006 verfasste er das erste Kapitel. Bis zum Winter 2010/11 hatte Reinhard über 50 Episoden auf­ geschrieben, bearbeitet und von Vertrauten gegenlesen lassen. Das Manuskript schickte er an einige Verlage, vielleicht würde es einer veröffentlichen. Noch im Krankenhaus im März 2011 dachte er über das Buchcover nach und bat Ika, seine Lebensgefährtin darum, das Buch zu gestalten, um es in Kleinstauflage selbst zu drucken. Dazu kam es nicht mehr. Reinhard Siemes starb am 16. April 2011 in Berlin. Das Manuskript hatte er seiner Lebensgefährtin Ika Bratuscha gewidmet und hinterlassen. Seine Erinnerungen sind zu Geschichten geworden, wie er sie erzählen wollte. Der Stoff ist autobiografisch, das Ergebnis eher literarisch. Der Autor hat selbst schon einige Passa­ gen und auch Personen fiktionalisiert, um diese Menschen vor seiner Wahrheit zu schützen. Im Lektorat wurde diese Bearbeitung – wenn nötig – ergänzt und fortgesetzt. Wir dan­ken allen, die das Erscheinen dieses Buches unterstützt und möglich gemacht haben, vor allem Heike Siemes, Hartmut und Marianne Siemes, Sebastian Turner sowie Norbert Daldrop vom Verlag av edition. Berlin im Frühsommer 2015 Lektorat: Gesine Wulf Korrektorat: Alexander Kurz Satz: Kösel Media GmbH, Krugzell Umschlaggestaltung und Layout: Ika Bratuscha Portraitfotos: Ika Bratuscha Druck und Bindung: Kösel, Krugzell Printed in Germany ISBN 978-3-89986-226-3 Erste Auflage Copyright © 2015 avedition Verlag GmbH, Stuttgart avedition GmbH Senefelderstr. 109 70176 Stuttgart www.avedition.de

Gesine Wulf


Reinhard Siemes (29.8.1940 – 16.4.2011) Geboren in Remscheid, aufgewachsen in Schwelm, Westfalen. 1960 -1962 Meisterschule für Grafik, Druck und Werbung in Berlin. 1963 -1970 Texter in Werbeagenturen, Düsseldorf und Basel. 1971-1972 Selbstständiger Texter in Düssedlorf. 1973 -1975 Texter in Werbeagenturen, Düsseldorf und München. 1976 -2005 Büro für Werbung, Reinhard Siemes, München. 1978 -2002 Mitglied und Vorstand des Art Directors Club für Deutschland. 1984 -1986 Präsident des Art Directors Club für Deutschland. 1997-1999 Mitglied im Beirat Sprache des Goethe Instituts. 2006 -2011 Ladenbesitzer (Antiquitäten) in Rogaška Slatina, Slowenien.

„Kann man einem Trinker helfen? Viele, die es versuchen, verzweifeln daran. Kann man einen Trinker verstehen? Mit diesem Buch ein wenig. Reinhard Siemes schreibt über seinen Todfreund, der ihn die längste Zeit seines Lebens verfolgte. Ich fragte ihn: Das Tödliche am Suff verstehe ich, aber warum denn Freund? Dem Alkohol verdanke er Ideen, auf die er ohne nicht gekommen wäre. Als er das sagte, war er nüchtern, aber irrte trotzdem. Reinhard Siemes wäre auf noch mehr und noch bessere Ideen gekommen, wenn ihm diese Freundschaft erspart geblieben wäre. Die Veröffentlichung seines Buches sollte er nicht mehr erleben. So ist es das Vermächtnis eines Menschenfreundes, der viel für andere tat, für den aber nicht genug getan werden konnte, um ihn von seinem Todfeind zu befreien.“ Sebastian Turner ist Herausgeber des Tagesspiegel.

1980 -2002 Seminare ‚Kreatives Denken und Texten’ an Hochschulen, Fachhochschulen und für Unternehmen. Unter anderem LMU München, HdK Berlin, Donau-Universität Krems. 1981-2003 regelmäßige Beiträge für die Fachzeitschriften werben & verkaufen und Horizont. Beiträge für Transatlantic, Playboy, SZ-Magazin, taz., Serie für Max. Kolumnen in Berliner Morgenpost und Tagesspiegel. Seit 1982 Kunstobjekte ‚Betrachtungsweisen’, die niemanden interessieren. Seit 2003 Gedichte, die niemand lesen will.

€ 24,90 (D)

Circa 60 Auszeichnungen in Deutschland, Österreich, Schweiz und USA. 2010 Ehrenmitglied ‚Lebenswerk’ des Art Directors Club für Deutschland. 9 783899 862263 >

Reinhard Siemes. Mein Todfreund, der Alkohol.

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Reinhard Siemes

Mein Todfreund, der Alkohol. 56 Episoden aus dem Leben eines Reklametexters, der auch Trinker war. Und eines Trinkers, der auch Reklametexter war.

Das erste Buch eines Betroffenen ohne Larmoyanz, dicht an der Unterhaltung. Der Autor schildert seine 47-jährige Karriere als Alkoholiker mit schonungsloser Offenheit, aber auch viel Selbstironie. Keine durchgehende Trinkergeschichte, sondern 56 nasse und trockene Episoden, überwiegend aus der Wunderwelt der Werbung. Besonders aufschlussreich: Die Dialoge mit dem raffinierten Todfreund. Kritik in alle Richtungen: Fast alle ärztlichen und gruppentherapeutischen Angebote werden infrage gestellt. Die Hilflosigkeit der Therapeuten, das Sektierertum der Selbsthilfegruppen, die Starrheit vieler Kliniken, von teuren Privathäusern bis zur Landesanstalt. Es werden aber auch Wege aufgezeichnet, wie es anders geht. Ein nützliches Buch für Betroffene und Angehörige, ein informatives Buch für Ärzte und Therapeuten, ein spannendes Buch für den interessierten Normalleser.


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