Erziehungswissenschaftliche Zugänge zur Waldorfpädagogik

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Ernst Schuberth

Ganze zurück. Das gegenläufige Denken bezeichnet Steiner als »synthetisch«: Es versucht, das Ganze aus der Funktion der Teile zu bestimmen. In der Wissenschaft sind wie im Alltagsleben zweifellos beide Formen der Fragestellung möglich und sinnvoll. Betrachtet man beispielsweise die beim Lotto eingehenden Wettscheine mit den auf ihnen angegebenen Zahlauswahlen, so ergibt sich nur eine statistisch beschreibbare jeweilige Gesamtheit von Auswahlen, die Einzelwette ist in keiner Weise aus der Gesamtheit der geschlossenen Wetten bestimmbar. Umgekehrt setzt schon im einfachsten Fall das Lesen einer mehrstelligen Zahl eine Bestimmung aus der Gesamtgestalt voraus; oder: Jeder Teil eines Organismus trägt nur im Hinblick auf das Ganze Sinn und ist nur aus ihm heraus verständlich. In einfachster, aber grundlegender Weise ist dieser Unterschied von analytischen und synthetischen Frageformen im Erstrechenunterricht zu üben. Wenn in einer Waldorfschule die Kinder das Rechnen lernen, so wird vom Begriff der Einheit im Sinne einer Ganzheit oder »Menge« ausgegangen – nicht in dem Sinne, wie in dem gerade zitierten Text von Rudolf Steiner die Einheiten als »Elemente« verstanden wurden. Man zeigt etwa, wie die eine Hand sich in fünf Finger, die Gestalt (äußerlich) in zwei zusammenspielende Teile (Hände, Füße, Ohren etc.) gliedert. Die Rechenoperationen entstehen dann in einfachster Weise als Gliederungen innerhalb einer solchen Zahl. Beim ersten Rechnen wird den Kindern beispielsweise gezeigt, wie die Zwölf sich verschieden in 7 + 5 oder 3 + 8 + 1 usw. gliedern kann. Eine ganz unpräzise, aber hübsche Frage an die Kinder ist: Was ist die »schönste« Zwölf? Ein Kind sagt vielleicht: 12 = 6 + 6. Manche Kinder finden das zu wenig abwechslungsreich. Sie bevorzugen: 12 = 4 + 2 + 6. Ein besonders »schlaues« Kind sagt vielleicht: 12 = 12 + 0. Sehr schön sind auch 12 = 3 + 4 + 5 und 12 = 1 + 2 + 3 + 3 + 2 + 1. Unverändert in allen Antworten bleibt die Zwölf. Sie ist das Ganze, das zusammenhaltend über allen Antworten steht. Aber wie viele Antworten gibt es auf die Frage nach der Zwölf! Nicht alle sind richtig. Ein Kind sagt vielleicht auch: 12 = 7 + 6. Das ist falsch. Man kann also nicht Beliebiges sagen, und doch, welch ein Unterschied zur üblichen Frage: Wie viel ist 7 + 5? Hier weiß natürlich der Lehrer die Antwort; er steht als Kontrolleur da und verteilt »richtig« und »falsch«. Es ist eigentlich für den Lehrer eine rhetorische Frage. Wenn dagegen der Lehrer fragt: »Was ist die Zwölf?« oder gar: »Was ist die schönste Zwölf?«, dann stellt jedes Kind mit seiner Antwort ihm eine Aufgabe, die er rechnen muss. Das Kind lernt an einem scheinbar formalen Beispiel halb unbewusst zu verstehen, dass eine Frage viele richtige Antworten haben kann, ohne dass beliebig irgendetwas gesagt werden dürfte.


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