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Habeck sozial

Habeck sozial

Sie schlafen hinterm Bahnhof, unter Brücken, in Hauseingängen – Menschen ohne eigene Wohnung und Obdach. Die meisten von ihnen sind Männer. Doch seit Jahren wächst auch die Zahl obdachloser Frauen. Selbst Familien sind immer öfter betroffen.

Liebevoll wiegt Patricia ihren drei Monate alten Sohn im Arm hin und her. Er soll ein bisschen schlafen. Doch irgendwie will er dafür nicht so richtig die Umdrehungen kriegen. Zu laut und zu wuselig ist es hier in der Gemeinschaftsküche in der Unterkunft für obdachlose Frauen. Die Küche muss sich die 40-Jährige mit einer weiteren Familie teilen. Einer Mutter mit zwei Töchtern und einem Sohn. An der Wand in der Küche steht ein großer Tisch mit vier Stühlen. Auf der gegenüberliegenden Seite stehen Kühlschränke, ein Herd, eine Spüle und ein Schrank. Die wenigen Ablageflächen die es gibt, sind mit Geschirr, Pfannen, Töpfen, Besteck und Essensachen zugestellt. Patricia zeigt auf eine große Tasche, die in der Küchenecke steht. Sie ist randvoll bepackt mit leeren Cola-Dosen. »Das sind seit einiger Zeit meine Wachhalter«, verrät sie schmunzelnd.

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Seit fast einem Jahr wohnt die frisch gebackene Mutter nun schon in der Frauenunterkunft in der Langensalzastraße 17 in Hannover. Die ersten vier Monate davon im Sleep in, danach hat sie ein Zimmer in der ersten Etage bekommen. Elf Qua-

dratmeter für sich und ihr Baby. Ausgestattet mit einem kleinen Spind, einem Tisch, mit Kinderbett und Liege sowie einem Wickeltisch. Im Zimmer verteilt stehen Taschen, voll mit Baby-Kleidung. »Es ist hier viel zu wenig Platz. Ich räume die Sachen immer von einer Ecke in die andere«, klagt sie etwas verzweifelt. Besonders am Anfang fiel es der 40-Jährigen alles andere als leicht, mit der Situation zurecht zu kommen. »Die ersten Wochen, da war das irgendwie alles zu viel. Man wird sich plötzlich bewusst, ich bin obdachlos. Ich wohne in einer Notunterkunft. Und auf einmal fühlt man sich als Versager. Dann hat man den kleinen Wurm auf dem Arm und will eigentlich was Besseres für den. Das ist schon hart. Wenn er dann geweint hat, habe ich oft mitgeweint«, schluchzt sie leise. Auch wenn die frisch gebackene Mutter erst mal froh ist, ein Dach über dem Kopf zu haben, schon alleine wegen des Kindes, so fehlt ihr dennoch das Gefühl von Häuslichkeit, einfach mal die Tür hinter sich zu machen zu können, auf dem Sofa zu sitzen und zur Ruhe zu kommen. »Wenn ich unterwegs bin, sage ich auch nie, dass ich jetzt nach Hause fahre. Ich sage immer, dass ich jetzt in die Einrichtung fahre. Weil, das ist einfach kein Zuhause«, sagt sie traurig. Doch das war auch mal anders.

Keine Anträge, kein Geld, keine Miete

Anfang 2020 hatte Patricia noch ein richtiges Zuhause, in einer richtigen Wohnung. Etwa neun Jahre hat sie auf rund 48 Quadratmeter gelebt. Mit eigener Küche, eigenem Bad, und Zimmern, die man hinter sich zu machen konnte. Bis zu jenem bestimmten Morgen: »Plötzlich hat es Ding Dong gemacht. Dann durfte ich noch eine Tasche packen und das war es dann«, erzählt sie. Weil Patricia seit Monaten ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte, wurde sie vom Vermieter schließlich vor die Tür gesetzt. Allerdings nicht ohne Vorankündigung und nicht von heute auf morgen. »Ich habe leider auch diese ›Briefkasten nicht aufmachen‹-Krankheit. Deshalb habe ich mich auch um die Briefe nicht wirklich gekümmert. Und ehe man sich dann versieht, sind ein paar Monate rum. Aber ich kann den Vermieter auch ein bisschen verstehen. Man lässt sich das ein paar Monate gefallen und irgendwann sagt man dann eben: Jetzt nicht mehr!«, zeigt Patricia trotz ihrer Situation Verständnis.

Dass es zu den Mietschulden gekommen ist, dafür macht sich die zierliche Frau selber, aber auch das Jobcenter verantwortlich: »Ich hatte gearbeitet, dort aber nach einem halben Jahr wieder aufgehört. Dann musste ich neue Anträge stellen, obwohl sich ja im Vergleich zu vor dem Job nichts geändert hatte. Das Arbeitsamt hat dann alles zur Arge geschoben, Jobcenter hat hin und her geschoben, ist nicht so richtig in Wallung gekommen, dann kam Corona, man kam nirgends mehr rein und dann habe ich es total schleifen lassen. Hab mich nicht gekümmert, keine Anträge rechtzeitig abgegeben. Und wenn keine Anträge da sind, dann gibt

»Man wird sich plötzlich bewusst, ich bin obdachlos. Ich wohne in einer Notunterkunft. Und plötzlich fühlt man sich als Versager.«

Patricia

Foto: G. Biele

Frauenunterkunft Langensalzastraße

Seit Ende 2018 bietet die Unterkunft in der Langensalzastraße für 56 alleinstehende wohnungslose Frauen und deren Kindern ein Dach über dem Kopf. Zusätzlich gibt es noch einen Notschlafplatz-Bereich, den sogenannten Sleep in, in dem derzeit zwölf obdachlose Frauen in der Zeit von 17 Uhr bis zum nächsten Morgen um 9 Uhr einen sicheren und warmen Platz zum Schlafen finden können. »Seit etwa zwei Monaten können die Notschlafstellen auch am Tag in der Zeit von 10 bis 16 Uhr genutzt werden«, ergänzt Paulina Andrzejewska vom Betreiber Living Quater. (Asphalt berichtete). Während der Sleep in-Bereich zu den vorgegebenen Zeiten für alle Frauen offen ist, werden die Plätze für Aufenthalt in der Unterkunft vom Wohnungsamt zugewiesen. GB

Vor etwas mehr als zwei Jahren sind in der Unterkunft für Frauen in der Langensalzastraße die ersten Bewohnerinnen eingezogen. Es ist die dritte Einrichtung für obdachlose Frauen in Hannover.

es auch kein Geld und dann wird auch keine Miete gezahlt. Und plötzlich sind dann vier, fünf Monate vorbei.« Nachdem Patricia vor die Tür gesetzt wurde, hatte sie gerade mal einen Monat Zeit, um ihre Sachen wieder auszulösen. »Ich frage mich, wer hat innerhalb von vier Wochen das Geld zusammen, um seine Sachen wieder auszulösen, wenn er gerade wegen Mietschulden aus der Wohnung geflogen und auf der Straße gelandet ist? Die haben alles, was in der Wohnung war vernichtet. Ich habe nichts mehr. Keine Fotos, keine Papiere, nichts mehr. Arbeitsverträge, Speicherkarten vom Fotoapparat, Kindheits-Andenken – alles weg. Mein ganzes voriges Leben vernichtet. Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was alles weg ist. Dann könnte ich anfangen zu heulen«, sagt die 40-Jährige den Tränen nahe mit zittriger Stimme.

Die ersten Wochen nach dem Verlust ihrer Wohnung hat Patricia mit ihrem Freund im Zelt am Fährmannsufer geschlafen, bevor sie durch Zufall vom Sleep in, den Notschlafplätzen in der Langensalzastraße, gehört hat. Und noch etwas hat sie in diesen ersten Wochen erfahren: »Es war gerade Anfang der Corona-Zeit, da hatte ich Durchfall und ich musste mich ständig übergeben. Ich dachte ich hab ne Magenverstimmung und bin zur Ärztin gegangen. Die hat dann einen Test gemacht und mich beglückwünscht. Fünfmal habe ich den Test machen lassen, weil ich das einfach nicht wahrhaben wollte – schwanger. Das ist doch das letzte, was man will, wenn man gerade aus seinem Zelt kriecht«, betont sie.

Hohe Dunkelziffer

Patricia ist kein Einzelfall. Nach letzten Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) hatten 2018 etwa 59.000 Frauen in Deutschland keine eigene Wohnung (geflüchtete Frauen nicht eingerechnet). Die Dunkelziffer liegt jedoch weitaus höher. In den meisten Fällen wird Obdach- und Wohnungslosigkeit eher als Männerproblem wahrgenommen, doch rund 30 Prozent aller Wohnungslosen in Deutschland sind Frauen. Weil ihnen die Situation oft peinlich

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Aktuell haben rund 60.000 Frauen keine Wohnung.

»Es wird ja schon ist, versuchen sie zunächst so des Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) starke immer ein großer lange wie möglich bei Freun- Schwankungen seit Beginn der Pandemie beobachten. »Wäh-

Zusammenhang den oder Bekannten unterzukommen. Viele ziehen dabei rend des ersten Lockdowns sind die Hilfeanfragen in den Beratungsstellen für kurze Zeit erstmal zurückgegangen. Als dann zwischen weibli- von Couch zu Couch, von Un- die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen wieder gelockert cher Obdachlo- terkunft zu Unterkunft. Gerade wurden, kam es bundesweit zu einem massiven Anstieg der sigkeit und Ge- bei weiblichen Wohnungslo- Inanspruchnahme«, berichtet Katja Grieger, Geschäftsführerin walterfahrungen sen ist das Couchsurfing weit vom bff. »Viele der Betroffenen haben uns berichtet, dass sie vermutet.« verbreitet, weshalb hier auch häufig von verdeckter Wohwährend des Lockdowns erstmal abgewartet hätten. Den Lockdown sozusagen überstanden hätten, in einer ziemlich unerKatja Grieger, Geschäfts- nungslosigkeit gesprochen träglichen Situation. Teilweise sei es sogar zu sehr eskalierter führerin vom bff wird und sie daher im Straßen- Gewalt gekommen«, so Grieger weiter. Und weil aufgrund der bild kaum sichtbar sind. Kontaktbeschränkungen das soziale Umfeld und somit die soMietschulden, so wie in Patricias Fall, ziale Kontrolle weggebrochen war, gab es auch weniger Menist nur ein Grund, warum Frauen woh- schen, die die Betroffenen darauf hätten ansprechen können. nungslos werden. Weitere Gründe sind Denen aufgefallen wäre, dass vielleicht irgendetwas nicht beispielsweise die Trennung vom Part- stimmt. ner, eine psychische Erkrankung oder die Flucht vor häuslicher Gewalt. Gerade zu Beginn der Corona-Krise stiegen daher die Befürchtungen, dass durch den harten Lockdown die Zahl der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen und somit die Wohnungslosigkeit rapide zunehmen würde. Tatsächlich konnten die Mitarbeiterinnen des Bundesverban-

Kaum Hilfsangebote

Ob auch die Zahl wohnungsloser Frauen während der Corona-Krise stärker gestiegen ist, darüber kann Grieger nur spekulieren: »Es wird ja schon immer ein großer Zusammenhang zwischen weiblicher Obdachlosigkeit und Gewalterfahrungen vermutet. Viele Frauen haben aber auch Kinder. Ob man dann

bff: Frauen gegen Gewalt e.V.

Rund 200 Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen sind im bff (Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe) in Deutschland zusammengeschlossen. Sie leisten den hauptsächlichen Anteil der ambulanten Beratung und Hilfestellung für weibliche Gewaltopfer. Hier können sich Frauen sowohl namentlich als auch anonym hinwenden und in einem ersten Beratungsgespräch klären, wie gefährlich ihre derzeitige Situation ist und welche Möglichkeiten der Unterstützung es für sie gibt. »Liegt jedoch gerade eine akut massive Gewaltsituation vor, dann sollte die Frau auf jeden Fall zunächst die Polizei rufen«, rät Katja Grieger vom bff. Einmal im Jahr werden in den 200 Beratungsstellen die Zahlen der stattgefunden Inanspruchnahmen abgefragt. »Über alle bff Beratungsstellen hinweg gab es im gesamten Bundesgebiet ungefähr 75.000 Frauen, die 2019 durch uns beraten wurden«, merkt Grieger an. Die passende Beratungsstelle vor Ort finden Betroffene unter www.frauen-gegen-gewalt.de. Unter der Nummer 08000 116 016 ist das bundesweite Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« rund um die Uhr kostenlos erreichbar. Dort ist auch eine Beratung in 17 Sprachen sowie eine Kontaktaufnahme mit Gebärdendolmetschung möglich. GB

Foto: Jörg Farys

Katja Grieger vom bff rechnet damit, dass es nach der Corona-Pandemie viel aufzuarbeiten gibt, weil vermutliche viele Frauen mit ihren Problemen bis nach der Krise warten. so eine Entscheidung trifft, glaube ich eher nicht. In den Beratungsstellen hören wir da eher von Aushalten. Aushalten, bis der Lockdown vorbei ist. Wo hätten sie auch hinsollen? In den Medien wurde ja so schon oft berichtet, dass die Frauenhäuser bereits überlastet sind.«

Anders sehen die Erfahrungen in der Frauenunterkunft in der Langensalzastraße aus. »Seit ungefähr drei Monaten kommen vermehrt Frauen zu uns, die von zu Hause flüchten. Vor ihrem Mann. Meistens kommen die nachts und bleiben dann auch tagsüber noch hier, weil sie oft kleine Kinder bei sich haben. Das Problem ist, dass die Frauen in diesem Fall nicht wirklich obdachlos sind, denn eigentlich besitzen sie ja noch immer eine Wohnung. Deshalb gehören sie auch eher in ein Frauenhaus als zu uns«, sagt Paulina Andrzejewska.

Weil die weibliche Wohnungslosigkeit in der Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen wird, gibt es in Deutschland noch viel zu wenig Hilfsangebote speziell für Frauen. Das soll sich in Hannover aber bald ändern: »Die Unterstützung wohnungsloser Frauen ist für die Stadtverwaltung ein wichtiges Thema. Derzeit werden in der Innenstadt drei Straßensozialarbeiter eingesetzt, darüber hinaus wird Netzwerkarbeit und einzelfallübergreifende Unterstützung angeboten, organisiert und weiterentwickelt. Ein spezifisches Angebot zur Unterstützung von Frauen in Wohnungslosigkeit gibt es derzeit zwar noch nicht, dieses ist aber in Vorbereitung«, sagt Christina Merzbach, Pressesprecherin für Soziales und Gleichstellung der Landeshauptstadt Hannover.

Das größte Manko, das Patricia während ihrer Zeit auf der Straße erlebt hat, waren die sanitären Einrichtungen. »Es gibt für Frauen absolut keine Toilette, die benutzbar ist. Ich habe teilweise lieber in die Büsche gepinkelt, bevor ich auf irgendeine öffentliche Toilette gegangen bin. Allein die am Weißekreuzplatz – geht gar nicht. Gerade jetzt schreien alle immer so wegen Hände waschen und Hygiene – dort kann man das definitiv vergessen«, beklagt sie. »Und, es gibt viel zu wenig Einrichtungen für obdachlose Frauen, für behinderte Obdachlose oder für Mütter mit behinderten Kindern. Da muss auf jeden Fall noch viel mehr getan werden«, so Patricia weiter.

Eigene Pläne für die Zukunft hat Patricia bisher noch nicht geschmiedet. Schließlich würde es ja doch immer anders kommen als man denkt. Aber: »Auf jeden Fall möchte ich wieder eine Wohnung haben. Eine eigene Wohnung und ankommen. Man möchte ja auch ein Vorbild sein. Ich sage immer, man kriegt nicht nur ein Kind, man ist auch verantwortlich für ein Menschenleben. Und wenn ich jetzt verkacke, dann mache ich ein anderes Leben mit kaputt. Und das geht gar nicht.« Dafür würde Patricia auch auf jeden Fall in Zukunft viel öfter ihren Briefkasten öffnen.

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