Krisenintervention im Rettungsdienst - Das KIT-München

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Krisenintervention im Rettungsdienst Das KIT-München


Hinweis zu den Fotos Alle Fotos in dem vorliegenden Buch sind gestellt. Während der Einsätze des KIT-München wird grundsätzlich nicht fotografiert. Bei diesen Fotos handelt es sich um Symbolfotos, die Situationen im Einsatzgeschehen verdeutlichen sollen. Körperkontakt der KIT-Einsatzkräfte mit Betroffenen kommt in der Realität nur vereinzelt vor und geht immer von den Betroffenen aus. Die Fotos dienen nicht zu Ausbildungszwecken in der KIT-Akademie. Herzlich Dank an all diejenigen, die sich als Protagonisten zur Verfügung gestellt haben.

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Krisenintervention im Rettungsdienst Das KIT-München


BILDNACHWEIS ASB München/Oberbayern/Stephan Jansen: Titelbild, S. 3, 9, 17, 20, 21, 22, 25, 27, 32, 33, 35, 39, 41, 45, 46, 47, 49, 51, 56, 57, 61, 77, 79, 83, 86, 89, 91, 93 Michael Nagy, Presse- und Informationsamt, Landeshauptstadt München: S. 4 Christoph Gramann: S. 6 ASB München/Oberbayern: S. 10, 19, 63, 68, 72, 75 ASB München/Oberbayern/Tobias Engelmann: S. 12, 55 dpa/picture-alliance: S. 14, 73, 75 picture-alliance/epa/Jason Szenes: S. 63 picture-alliance/dpa/Zoltan_Mihadak: S. 67 picture alliance/dpa/Carlo Ferraro: S. 70 picture alliance/dpa/Guillaume Horcajuelo: S. 71 picture alliance/ROLAND SCHLAGER/APA/picturedesk.com/ROLAND SCHLAGER: S. 76

IMPRESSUM Herausgeber:

Arbeiter-Samariter-Bund München/Oberbayern e. V. www.asb-muenchen.de

Text:

Katrin Freiburghaus

Redaktion:

Petra Linné

Fotografie:

Stephan Jansen

Grafische Gestaltung:

Dominik Lommer art and graphics, München

Druck:

Kreiter Druckservice GmbH, Wolfratshausen

©Arbeiter-Samariter-Bund München/Oberbayern e. V., 2021 ISBN 978-3-00-070908-1 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Arbeiter-Samariter-Bunds München/Oberbayern unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.


Inhalt Grußwort Oberbürgermeister Dieter Reiter

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Grußwort Landrat Christoph Göbel

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KIT-München – die Gründung eines wegweisenden Pilotprojekts

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Das KIT-München – Schließen einer Versorgungslücke

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Historische Eckdaten

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Alltäglicher Ausnahmezustand – Einsatzprofil und Arbeitsweise des KIT-München

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Bewältigungsstrategien

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Einsatzberichte der ehrenamtlichen Einsatzkräfte

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Traumaforschung – Wirksamkeitsstudie der Ludwig-Maximilians-Universität München

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Psychosoziale Akuthilfe als Bestandteil der staatlichen Regelversorgung

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Aussagen von Betroffenen

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Grenzenlos einsatzbereit – Großschadenslagen und Auslandseinsätze des KIT-München

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Einblicke in 20 Jahre Krisenintervention auf der ganzen Welt

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Berufung statt Beruf – Ehrenamt und Ausbildung im KIT-München

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Ausbildung in der KIT-Akademie

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Wer kümmert sich um die KIT-Einsatzkräfte? Supervision und Einsatznachbereitung

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VORWORT

Halt und Hoffnung – hier und jetzt! Seit seiner Gründung vor 100 Jahren ist der Anspruch des ASB München/ Oberbayern getreu seinem Motto „Wir helfen hier und jetzt.“, überall dort für Menschen da zu sein, wo er gebraucht wird. In seinen Gründungsjahren betraf das in erster Linie die medizinische Grundversorgung von Arbeitern und ihren Familien. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren gefährlich, eine Unfall- und Notfallversorgung nicht vorhanden. Die ASBKolonnen erfüllten diese Aufgabe politisch und konfessionell unabhängig, auf eigene Initiative hin und vor allem: ehrenamtlich. Wo das soziale System Lücken offenbarte, eigneten sich die ASB-Einsatzkräfte Wissen an, setzten es ein und gaben es weiter, um die Löcher möglichst nachhaltig zu stopfen. Auf diese Weise wurde an den Grundlagen für ein System mitgearbeitet, das für alle Menschen da war - und heute glücklicherweise Bestandteil der staatlichen Grundversorgung ist. Der Rettungsdienst ist deshalb heute eine selbstverständliche, staatlich finanzierte Leistung für alle Bürgerinnen und Bürger. Doch das gilt längst nicht für alle Bereiche, auf die der ASB als zunehmend umfassende Hilfsorganisation seine Bemühungen im Laufe eines Jahrhunderts ausgedehnt hat. Die Lücken im Versorgungsnetz sind nicht verschwunden - sie klaffen nur an anderen Stellen: Betreuung im Alter, Betreuung der Jüngsten, Anlaufstelle für neue Mitglieder der Gesellschaft. Überall, wo Menschen keine Lobby haben, sind Hilfsorganisationen unverändert gefordert. Dies mit ehrenamtlicher Hilfe zu leisten, erfordert großes persönliches Engagement und den Wunsch, für Werte wie Gleichheit und Toleranz nicht nur passiv, sondern durch den Einsatz von eigenen Ressourcen einzustehen: mit Zeit, Ideen, Durchsetzungskraft. Aus diesen Ressourcen ging 1994 auch das erste Krisen-InterventionsTeam - das KIT-München - hervor, weil es dort ansetzte, wo die mittlerweile vorhandene rettungsdienstliche Versorgung endete und Menschen mit traumatisierenden Erlebnissen allzu oft allein zurückließ, weil sie in den Strukturen nicht vorkamen. Dieser Zustand widersprach jedoch dem 2


Leitgedanken des ASB, Hilfebedürftigen stets unbürokratisch und ohne Fragen nach der Finanzierung Unterstützung zukommen zu lassen. Aus Unmut und Hilflosigkeit wurde ein Konzept, das in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Nachahmer fand und mittlerweile flächendeckend in Deutschland umgesetzt wird. Weil psychosoziale Betreuung von Hinterbliebenen, Angehörigen oder anderweitig von psychisch belastenden Ereignissen Betroffenen trotzdem unverändert keinen Platz in der staatlichen Regelversorgung hat, ist das KIT-München seit 27 Jahren ehrenamtlich bei den Menschen, um in den dunkelsten Momenten Halt zu geben und Perspektiven aufzuzeigen. Um dieses ehrenamtliche Team zu führen, weiterzuentwickeln und zu organisieren, hat der ASB psychosoziale Fachkräfte angestellt, die dem Team der ehrenamtlichen Einsatzkräfte Sicherheit geben. Dieses Buch soll Schlaglichter auf die Entwicklung des KIT, seine Ideale und Arbeitsweise werfen und jene zu Wort kommen lassen, die es tragen: seine Einsatzkräfte.

Dr. Christian Wolf Vorsitzender des Vorstands

Manchmal hilft schon eine tröstende Hand. 3


GRUSSWORT

Oberbürgermeister Dieter Reiter

In einer Stadt von der Größe Münchens passiert es leider jeden Tag, dass Menschen nach einem Unfall oder dem plötzlichen Tod eines Angehörigen unmittelbar seelischen Beistand und erste praktische Hilfe brauchen. Deshalb wurde vor 27 Jahren als weltweit erste Einrichtung ihrer Art beim ASB München das Krisen-Interventions-Team (KIT) München gegründet. Seitdem betreuen, beraten und begleiten seine rund 40 ehrenamtlich tätigen Einsatzkräfte aus mehreren Hilfsorganisationen rund um die Uhr etwa 2.000 Menschen jährlich, die unmittelbar nach einem außergewöhnlichen Vorfall unter schweren Belastungen leiden oder unter akutem psychischen Schock stehen. Ihre fundierte theoretische und praktische Ausbildung in der hauseigenen KIT-Akademie sorgt dafür, dass die Helfer*innen fachlich kompetent in den Einsatz gehen und psychisch gesund daraus zurückkehren. Denn um Mitmenschen, die sich in einer Extremsituation befinden, beizustehen, setzen sie ihre eigene Unbeschwertheit aufs Spiel und nehmen in Kauf, dass sie vielleicht nächtelang von den Eindrücken einer Tat oder eines Unglücks verfolgt werden. Trotzdem helfen sie beim nächsten Mal wieder.

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Ich kann nicht ermessen, was das bedeutet, aber ich kann es mir ein bisschen besser vorstellen seit dem Tag des rassistischen Attentats am OEZ vor fünf Jahren, einem der einschneidendsten Ereignisse der jüngeren Stadtgeschichte. Auch damals war das KIT München über eine Woche im Dauereinsatz, um Angehörige der Toten, Verletzte, Augenzeugen und Überlebende zu betreuen. Und bei zahlreichen weiteren Ereignissen im In- und Ausland war es nicht anders. Seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 in New York, also seit mittlerweile 20 Jahren, wurde das KIT-München immer wieder für Auslandseinsätze vom Auswärtigen Amt angefordert, wenn bei Katastrophen im Ausland betroffene Deutsche vor Ort waren. Und gerade auch während der Corona-Pandemie waren die Einsatzkräfte des KIT-München für die Menschen, die ihres Beistands bedurften, persönlich präsent und haben sie stabilisiert und begleitet. Ich finde es wichtig, dass sich unsere Gesellschaft ins Bewusstsein ruft, was Sie, liebe Helfer*innen des KIT München, leisten. Sie sind für andere da in Extremsituationen, die zum Leben gehören, aber von fast allen gerne verdrängt werden, solange sie nicht direkt betroffen sind. Sie verdrängen das Erschreckende nicht, sondern halten zusammen mit den Betroffenen den Schrecken aus. Damit schaffen Sie die Grundlage dafür, dass er irgendwann überwunden werden kann. Ich danke Ihnen für Ihr mutiges und wahrhaft mitmenschliches Engagement, auch im Namen aller Menschen in dieser Stadt, denen Sie schon geholfen haben, und im Namen aller anderen, die nicht wissen können, ob Sie nicht auch einmal Ihre Hilfe brauchen werden.

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GRUSSWORT

Christoph Göbel Landrat des Landkreises München

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Mitglieder des Arbeiter-Samariter-Bundes, die Arbeit der Kriseninterventionsteams ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Notfallversorgung geworden. Ich freue mich deshalb sehr, dass die Menschen im Landkreis München durch das Buchprojekt anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Arbeiter-Samariter-Bundes München/Oberbayern mehr über diese wertvolle Hilfe erfahren. Wie wichtig es ist, dass Menschen in Krisen- oder Katastrophensituationen schnell die richtige Betreuung erhalten, hat uns nicht zuletzt die Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz gelehrt. Schon nach den Anschlägen auf das World Trade Center 9/11 haben die Ehrenamtlichen des KIT-München vor Ort und hier zuhause die schnelle psychosoziale Notfallversorgung von deutschen Überlebenden, Augenzeugen, Angehörigen oder sonstigen Betroffenen übernommen. Dabei soll die Arbeit des KIT-München die professionelle Versorgung durch Psychologen und Therapeuten nicht ersetzen. Sie kann aber die Akutbetreuung sicherstellen und die Betroffenen wieder stabilisieren, sie 6


bei Bedarf zur weiteren Betreuung an geeignete Einrichtungen weiter verweisen. Das KIT-München wird aber auch in anderen belastenden Situationen alarmiert, beispielweise bei Suizid, wenn Personen vermisst werden oder wenn eine Todesnachricht an Angehörige überbracht werden muss. Mein großer Dank und Respekt gilt hier den aufopferungsvollen Einsatzkräften der Kriseninterventionsteams, die diese Arbeit rein ehrenamtlich und unbezahlt verrichten. Die Finanzierung ihrer Tätigkeit erfolgt überwiegend aus Spendenmitteln. Dem ASB München/Oberbayern gratuliere ich herzlich zu seinem großen Jubiläum. Die vielen engagierten Mitglieder sind ein wichtiger Stützpfeiler unserer Gesellschaft und Garant für schnelle Hilfe im Notfall. Es ist ein gutes Gefühl, Sie alle an unserer Seite zu haben. Für die Zukunft wünsche ich Ihnen weiterhin viel Erfolg. Herzlichst Ihr

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KIT-MÜNCHEN – DAS ERSTE SEINER ART

Die Gründung eines wegweisenden Pilotprojekts KIT-München-Gründer Dr. Andreas Müller-Cyran über die Anfänge der Krisenintervention beim ASB, über Lücken im System und den schwierigen Umgang mit dem plötzlichen Tod. Als Initiationsereignis für die Gründung des KIT gilt der tödliche Trambahn-Unfall eines Kindes. Welchen Stellenwert hatte dieser Einsatz tatsächlich für den Aufbau der Krisenintervention? Andreas Müller-Cyran: Es gab diesen Einsatz, aber er steht stellvertretend für die immer wiederkehrende Erfahrung vieler Rettungskräfte, dass in einer Versorgung, in der kein Platz für die Verfassung der Angehörigen ist, etwas fehlt. Meine Chance war, dass ich aufgrund meines beruflichen Umfelds und meiner Ausbildung die Möglichkeit hatte, Lösungsansätze dafür in eine Struktur und ein System zu überführen. Wie ist man ohne KIT mit Situationen umgegangen, in denen Angehörige oder Zeugen offensichtlich Probleme mit dem Erlebten hatten? Müller-Cyran: Man muss es so offen sagen: nach Gutdünken. Die Kollegen haben es trotzdem versucht, aber es war im Einsatzrahmen eigentlich nicht vorgesehen. Darüber hinaus wussten wir einfach wenig. Um in einer solchen Situation die richtige Ansprache zu finden, braucht man relativ differenziertes psychotraumatologisches Grundwissen. Das hatten wir alle nicht, und das stellte auch niemand zur Verfügung. Das heißt, dass man Menschen damit im Grunde allein lassen musste? Müller-Cyran: In letzter Konsequenz ja. Wir mussten uns als Rettungskräfte für den nächsten Einsatz bereithalten. Aber die Situation war sehr unbefriedigend, weil wir gemerkt haben, dass wir die Menschen mit 8


Eindrücken allein lassen, an die sie ein Leben lang denken werden. Ich erinnere mich an Zeiten, zu denen wir beklommen in der Wohnung standen und irgendwann den Piepser aus und wieder eingeschaltet haben, weil der dann ein Geräusch macht, sodass man sich unter diesem Vorwand aus der Situation befreien konnte. Aber glücklich war damit niemand. Woran liegt es, dass die psychische Gesundheit unmittelbar Beteiligter oder Betroffener so lange kaum eine Rolle spielte? Hat das damit zu tun, welchen Stellenwert psychische Unversehrtheit in der Wahrnehmung hat und hatte?

Andreas Müller-Cyran ist ehrenamtlicher Rettungsassistent und Gründer des KIT-München. Er ist Doktor der Psychologie und Leitung Krisenpastoral in der Erzdiözese München und Freising. Für sein Engagement und seine wegweisenden Impulse im Bereich der psychosozialen Notfallversorgung wurde ihm 2013 das Bundesverdienstkreuz und 2021 die Auszeichnung der bayerischen Landeshauptstadt „München leuchtet - Den Freundinnen und Freunden Münchens“ verliehen.

Müller-Cyran: Durchaus. Die Zeit, in die die Gründung des KIT fällt, war eine Zeit, in der Psychotraumatologie in Deutschland bestenfalls in den Kinderschuhen steckte - auch akademisch. Es gab ganz wenig Forschung - dafür aber viele Widerstände in Bezug auf das Thema. Welche Idee lag der Gründung des KIT konkret zugrunde? Müller-Cyran: Wir haben in unserer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren sehr gute Strukturen aufgebaut, wenn es um den langsamen Tod geht: Es gibt Palliativmedizin, Hospizvereine. Das ist gut so. Im Rettungsdienst haben wir es aber mit einem plötzlichen Tod zu tun. Der wird gerne verdrängt, ist gesellschaftlich aber relevant, weil bis zu 25 Prozent der Menschen plötzlich oder unerwartet sterben. Damit wird sich dafür, dass es tägliche Realität ist, sehr wenig beschäftigt. Dem müssen wir uns in unserer Gesellschaft stellen. 9


Wo setzt die Krisenintervention genau an? Müller-Cyran: Dort, wo sich die Situation selbst unserer Beeinflussung entzieht. Wir sind als Rettungskräfte im Kampf gegen den plötzlichen Tod oft hilflos und ohnmächtig. Wenn wir bei einem Einsatz mit einem Toten konfrontiert werden, verdeutlicht das, dass wir die fundamentale Hilfe - nämlich den Toten wieder lebendig zu machen - nicht leisten können. Es ist deshalb unsere Aufgabe, mit den Trauernden einen Weg zu finden, mit dem, was sie erlebt und erlitten haben, leben zu können. Außerdem kommt uns eine Brückenfunktion bei der Vermittlung in die psychosoziale Regelversorgung zu. Wir setzen zugleich aber auch einen ersten Impuls.

Einsatzfahrzeug aus den Anfängen der Krisenintervention.

Das Nachfolgemodell war bereits mit Blaulicht ausgestattet.

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Das KIT-München – Schließen einer Versorgungslücke Als sich das Krisen-Interventions-Team im Jahr 1994 einsatzklar meldete, war es weltweit das erste seiner Art und wurde in den folgenden Jahren zur Blaupause für viele vergleichbare Teams auf der ganzen Welt. Inzwischen wird der Tätigkeitsbereich von Krisen-Interventions-Teams als Psychosoziale Akuthilfen (PSAH) bezeichnet, welche einen wesentlichen (aber bei weitem nicht den einzigen) Bestandteil der Psychosozialen Notfallversorgung für Betroffene (PSNV-B) darstellt. PSNV-B insgesamt umfasst die vollständige Versorgungskette Betroffener nach belastenden Ereignissen bis hin zu einer möglichen längerfristigen Unterstützung, etwa im Rahmen einer Psychotherapie. PSAH war zum Gründungszeitpunkt zwar in einigen Ländern bereits rudimentär vorhanden, ihr Einsatz allerdings lediglich für Terror-Anschläge, Naturkatastrophen oder vergleichbare Großschadenslagen vorgesehen. Für „Individualereignisse“, wie Andreas Müller-Cyran die Vielzahl möglicher Meldebilder zusammenfasst, die nur eine oder wenige Personen betreffen, gab es hingegen keinerlei staatlich organisierte Betreuung. Was nach finsterer Vergangenheit klingt, ist nicht so lange her, wie man annehmen möchte. „Bis zum Ende der 1980er Jahre gab es so etwas wie PSNV bzw. PSAH überhaupt nicht“, sagt Sebastian Hoppe, Leiter der PSNV beim ASB München/Oberbayern, „man hatte den Bedarf daran schlicht nicht auf dem Schirm.“ Hoppe führt in Kooperation mit dem KIT-München am Lehrstuhl für Klinische Psychologie am Department Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität seit 2019 eine Studie zur Wirksamkeit der PSAH durch, um erstmalig wissenschaftlich zu untersuchen, was Einsatzkräfte des KIT-München täglich beobachten: einen positiven Einfluss von kompetentem Beistand auf Menschen in psychisch schwer belastenden Situationen. Dabei geht es längst nicht ausschließlich um Einsätze nach potentiell in Traumata mündenden Situationen wie Katastrophen, Gewalt oder schweren Unglücken, sondern in der größeren Zahl der Fälle um alles, was Hoppe „völlig normale und gesunde Trauer“ nennt, für Menschen aber trotzdem oft schwer allein zu bewältigen ist. Dass der Forschungsstand zum Einfluss der PSAH auf beide Situation schwer traumatisierende Ereignisse und Trauerfälle gleichermaßen - zu 11


diesem Thema mehr als spärlich ist, führt er auf dieselbe Ursache zurück, aus der körperlich unversehrt Betroffene von Unfällen, Gewalttaten oder plötzlichem Tod trotz eines zunehmend engmaschigen Netzes medizinischer Erstversorgung lange konsequent durch das Versorgungsraster fielen: „Historisch haben psychische Beschwerden verglichen mit körperlichen schon immer eine untergeordnete Rolle gespielt. Psychische Erkrankungen waren lange Zeit schambehaftet, das wirkte sich natürlich auch auf die Notfallversorgung in dem Bereich aus - indem sie lange gar nicht stattfand.“ Ein so banaler wie offensichtlicher Grund dafür ist, dass psychische Verletzungen nicht bluten - und für Außenstehende dadurch als weniger bedrohlich empfunden werden, obwohl Betroffene womöglich gerade das schlimmste Erlebnis ihres Lebens verarbeiten. Allein mit der Tragödie Für Betroffene bedeutete das konkret, dass sie nach dem Verlust eines geliebten Menschen fast schon systematisch mit ihrer Situation allein waren, weil der Fokus der Einsatzkräfte auf den Verletzten lag, nicht aber auf den Menschen, die mit dem erlittenen Verlust und nach Unfällen nicht selten auch mit (mindestens subjektiv empfundenen) Schuldgefühlen weiterleben mussten. Ob Eltern eines tödlich verunglückten Kindes vom Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht wurden, um Abschied nehmen zu können, hing von der Aufmerksamkeit und Bereitschaft der Rettungskräfte

Speziell ausgebildete und erfahrene Mitarbeiter*innen des KIT-München sind rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr im Einsatz. 12


sowie deren zeitlichen Möglichkeiten ab. Der Regelfall war jedoch, dass Hinterbliebene auf sich gestellt waren, sobald Rettungsdienst und Polizei den Ort des Geschehens verlassen hatten; Verlust und Einsamkeit gingen für Betroffene zu lange und allzu oft Hand in Hand. Wie die Gründung des KIT-München resultierte das langsame Umdenken also nicht aus einem singulären Defizitereignis, sondern aus dem wachsenden Unbehagen von Einsatzkräften darüber, dass eine Notfall-Versorgung zunehmend als unvollständig empfunden wurde, in der psychosoziale Belange generell und die von Hinterbliebenen im Speziellen keine Rolle spielten. Einsatzkräfte der Polizei oder des Rettungsdienstes riefen beispielsweise spontan den ortsansässigen Pfarrer an, wenn es darum ging, Todesnachrichten zu überbringen oder Hinterbliebenen beizustehen. Er leistete dann, was heute die Aufgabe von dafür gut ausgebildeten Fachkräften der PSAH ist. Obwohl der Bedarf an so etwas wie PSAH also erkannt worden war, zog die Institutionalisierung zeitlich stark verzögert nach. Dabei ist die Unterscheidung in Betroffene einer Großschadenslage auf der einen Seite und Zeugen oder Betroffene anderer potentiell traumatisierender Ereignisse auf der anderen Seite aus fachlicher Sicht kaum begründbar und am ehesten durch die sehr unterschiedliche öffentliche Rezeption zu erklären: Das Sterben im privaten Umfeld geschieht oft im Stillen oder Verborgenen. Mediale Aufmerksamkeit ist somit genauso wenig vorhanden wie eine Kenntnisnahme über den kleinen Kreis der direkt Betroffenen hinaus. „Größte denkbare Katastrophe“ Dass ein unerwarteter Todesfall in der Familie oder ein schwerer Unfall gesellschaftlich alltägliche Dinge sind, ändere nichts an der Bedeutung, die ein solches Ereignis für die Betroffenen habe, betont Müller-Cyran: „Für sie handelt es sich um die größte denkbare Katastrophe. Unser Grundgedanke war und ist deshalb, auch bei individuellen Katastrophen eine Unterstützung zu geben, die der Dimension gerecht wird, die sie für den einzelnen hat.“ Zumal der unerwartete Tod gesamtgesellschaftlich betrachtet eine keineswegs vernachlässigbare Größe ist. In Deutschland gibt es neben Unfällen und dem natürlichen Tod zu Hause, der Angehörige in knapp einem Viertel der Fälle vollkommen unerwartet trifft, jährlich etwa 11000 Suizide. Stets betrifft auch dieser Schritt eines Menschen andere: fast immer Angehörige bzw. Hinterbliebene, manchmal Augenzeugen und immer auch Einsatzkräfte. 13


Dr. Andreas Müller-Cyran wurde 2013 das Bundesverdienstkreuz durch Bundespräsident Joachim Gauck verliehen.

Ein Indiz dafür, dass die Aufmerksamkeit für diesen Teil menschlicher Lebensrealität auch außerhalb des Rettungsdienstes zunahm, war 2013 die Auszeichnung von Dr. Andreas Müller-Cyran mit dem Bundesverdienstkreuz für seine Verdienste um die Psychosoziale Notfallversorgung. Mittlerweile ist die PSNV-B und insbesondere die PSAH aus dem Einsatzalltag nicht mehr wegzudenken, die Psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte (PSNV-E) hat sich leicht zeitversetzt ebenfalls stark weiterentwickelt. Sie ist jedoch nicht die Kernaufgabe des KIT-München. Zwei bis drei Einsätze täglich Das KIT-München betreut jedes Jahr etwa 2000 Menschen, die unmittelbar nach einem außergewöhnlichen Notfall unter schweren seelischen Belastungen leiden oder unter akutem psychischen Schock stehen. Es wird regulär von der Leitstelle angefordert, wenn sich Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienst mit Personen konfrontiert sehen, die als Hinterbliebene oder Zeugen keine ärztliche Notfallversorgung benötigen, wohl aber seelischen Beistand. Das ist an 365 Tagen im Jahr durchschnittlich zwei- bis dreimal täglich der Fall. Die Einsatzkräfte arbeiten auf ehrenamtlicher Basis. Die Dienst14


habenden müssen in ihrer hauptamtlichen Tätigkeit frei oder einen Beruf haben, bei dem sie sofort alles fallen lassen und losfahren können. Zwei Dienste werden parallel besetzt (so dass also zwei Einsätze zeitgleich angenommen werden können), zudem ist eine weitere Einsatzkraft rund um die Uhr im Hintergrund erreichbar und kann bei Bedarf unterstützen. Bei Transportmittel-Unfällen, Katastrophen oder terroristischen Anschlägen wie im Olympia-Einkaufs-Zentrum München kann die Aufgabe jedoch nicht von der diensthabenden Schicht allein bewältigt werden. In derartigen Fällen werden alle gut 40 ehrenamtlichen Einsatzkräfte alarmiert. Die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass sich auf diese Weise innerhalb einer Stunde zuverlässig ein Team von mindestens zehn Helfer*innen mobilisieren lässt. Seit 2001 kooperiert das KIT-München bei Katastrophen oder Terrorlagen im Ausland regelmäßig mit dem Auswärtigen Amt, sofern deutsche Staatsbürger*innen von den Ereignissen betroffen sind. Das finanzielle Grundgerüst für die kostenlose Versorgung von Betroffenen bilden Zuschüsse der Landeshauptstadt München, des Landkreises München und Eigenmittel des ASB. Um weitere Kosten für Einsatzfahrzeuge, Material und die Ausstattung der Mitarbeiter*innen zu decken sowie Aus-, Fortbildungen und Supervisionen finanzieren zu können, ist das KIT-München seit seiner Gründung unverändert auf Unterstützung durch Spenden angewiesen. Brückenfunktion und Hilfe zur Selbsthilfe Das Ziel der PSAH setzt in Abgrenzung zum Rettungsdienst, zu Feuerwehr und Polizei nicht beim Ereignis, sondern bei dessen Wirkung auf die Betroffenen an. Ziel der Psychosozialen Akuthilfe ist weder die Relativierung des Erlebten noch eine Korrektur. Sie betrachtet die betreuten Personen zudem nicht als Opfer, sondern als „temporär von der Situation überwältigt“, wie Müller-Cyran sagt. Es gehe darum, Menschen ihre eigenen Stärken bewusst zu machen und sie so „dazu zu befähigen, sich wieder zu der Situation zu verhalten“. Floskeln wie „das wird schon wieder“ oder „die Zeit heilt alle Wunden“ sind im Einsatz laut Hoppe hingegen unpassend. „Das ist das Letzte, was wir sagen würden“, betont er, „banalen Trost vermeiden wir völlig. Es geht darum, dass Betroffene eine Idee entwickeln können, dass und wie es weitergehen kann – trotz allem. Wir wissen: So hoffnungslos sich Betroffene in der Akutphase auch fühlen mögen und so überwältigend dieses 15


Gefühl auch sein mag, in der Mehrzahl der Fälle wird sich das auch wieder ändern. Nicht unbedingt heute oder morgen, aber über die Zeit. Diese Aussicht kann Menschen in einem solchen Moment helfen.“ Bleiben, wenn alle gehen Die Grundlagen dafür, diese Erfahrung für Betroffene verwertbar weiterzugeben, schafft seit 2002 die KIT-Akademie. Vera Angerer, aktive Einsatzkraft und bis Sommer 2021 Leiterin des Ressorts Ausbildung, sagt: „Es geht immer darum, die Bedürfnisse eines Menschen zu erkennen und sich daran zu orientieren, was diese Person gerade braucht, um wieder beide Füße auf den Boden zu bekommen und die eigenständige Planung der nächsten Zeit zu bewältigen.“ Die in der Regel auf die ersten Stunden begrenzte Akutversorgung durch das KIT-München ist keine Behandlung einer passiven Person, sondern Hilfe zur Selbsthilfe: Die Einsatzkräfte geben erste Impulse auf dem Weg zurück in die eigene Handlungsfähigkeit oder vermitteln Betroffene in Fällen, in denen das nicht gelingt, in die psychosoziale Regelversorgung. „Wir erfüllen eine Brückenfunktion“, sagt Müller-Cyran, „weil wir bei den Menschen bleiben, wenn alle anderen gegangen sind.“ Darauf, wohin die Brücke führt, haben auch die Einsatzkräfte des KITMünchen nicht immer Einfluss. Doch sie stehen seit fast drei Jahrzehnten mit ihrem Engagement dafür ein, dass sie niemand mehr allein überqueren muss.

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HISTORISCHE ECKDATEN 1989 Tödlicher Schienenunfall eines Kindes, Gründungsidee des KIT-München 1993 Erster Ausbildungskurs für KIT-Mitarbeiter in Kooperation mit dem Arbeitskreis für Notfallmedizin und Rettungsdienst der Ludwig-Maximilians-Universität München. 9.3.1994 Das KIT-München nimmt als erste Einrichtung dieser Art 24/7 seinen Betrieb auf. 1.10.1999 Das KIT-München wird von psychosozialen Fachkräften geleitet, die beim ASB hauptamtlich angestellt sind. 2001 Bezuschussung des KIT-München durch die Landeshauptstadt München 11.9.2001 Nach den Anschlägen in den USA bittet das Auswärtige Amt um Hilfe in New York. Der Einsatz markiert den Beginn der Kooperation mit dem Auswärtigen Amt. 2002 Gründung der KIT-Akademie zur Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich der Krisenintervention 2002 Beteiligung an der Forschung und am Konsensus Prozess im Bundesministerium zur Relevanz des neuen Einsatzbereichs für die zivile Gefahrenabwehr 2003 Bestätigung der bisherigen Arbeit durch eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München 2005 Einführung eines jederzeit verfügbaren 24/7-Bereitschaftskoordinators für größere Einsätze, in fachlichen Fragen, bei technischen Problemen anlässlich der Fußball-WM 2006. 2007 Bezuschussung des KIT-München durch den Landkreis München. 2013 KIT-Gründer Dr. Andreas Müller-Cyran erhält das Bundesverdienstkreuz von Bundespräsident Joachim Gauck. 2017 Aktualisierung der Ausbildung des KIT-München und Anpassung an den DQR Standard. 2019 QM-Zertifizierung des KIT-München als Teil des Rettungsdienstes nach ISO 9001 2019 Fortsetzung der Kooperation mit dem Lehrstuhl für Klinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München: Einrichtung einer Promotionsstelle beim ASB zur Erforschung der Wirksamkeit von Psychosozialen Akuthilfen (PSAH)

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ALLTÄGLICHER AUSNAHMEZUSTAND

Einsatzprofil und Arbeitsweise des KIT-München Was für Betroffene ein singuläres Ereignis darstellt, ist für die ehrenamtlichen Einsatzkräfte des Krisen-Interventions-Teams Dienstalltag. Warum PSAH mehr als Trost ist und der Bedarf an professioneller Begleitung im privaten Bereich zunimmt. Das Spektrum der Meldebilder, für die das KIT-München angefordert wird, ist breit. Neben Todesfällen unter besonderen Umständen gehören dazu unter anderem Selbsttötungen, der Tod eines Kindes und das Überbringen von Todesnachrichten an Hinterbliebene in enger Zusammenarbeit mit der Polizei. Auch Betreuungen nach einer massiven Gewalterfahrung wie Überfall, Mord, Geiselnahme oder nach sexueller Gewalt fallen in seinen Aufgabenbereich, ebenso die psychosoziale Akutversorgung bei Bränden mit Schwerverletzten oder Toten sowie Evakuierungen. Ein weiteres Meldebild, das häufig eine Alarmierung der Krisenintervention nach sich zieht, sind schwere Verkehrs-, Schienen- oder Arbeitsunfälle. Das KIT-München wird immer dann über die Rettungsleitstelle angefordert, wenn Menschen am Einsatzort, die keine medizinische Versorgung benötigen, psychosoziale Unterstützung brauchen, für die die anwesenden Einsatzkräfte keine Zeit oder keine Kompetenz haben.

Die Überbringung einer Todesnachricht an Angehörige gehört zu den herausforderndsten Tätigkeiten einer KIT-Einsatzkraft 22

Die diensthabenden Ehrenamtlichen erhalten das Meldebild und bereits bekannte Details zum Einsatz. Obwohl sich die Bandbreite der möglichen Meldebilder über fundamental verschiedene Er-


eignisse erstreckt, haben die Ereignisse aus Sicht der Betroffenen meist eines gemeinsam: Sie sind in ihrer Intensität mit nichts vergleichbar, was die Personen in ihrem Alltag normalerweise erleben und fallen damit gewissermaßen aus ihrer Realität. Weiterleben mit dem Erlebten Psychotraumatologisch gesehen soll die PSAH die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Integration des Erlebten in die Biographie der Betroffenen möglich ist. Andernfalls droht in besonders schweren Fällen eine Traumatisierung durch die Wucht der Eindrücke oder in Trauerfällen eine sogenannte anhaltende oder komplexe Trauerstörung, die sich ebenfalls zeitversetzt manifestiert und im Gegensatz zu akuter Trauer ein Krankheitsbild darstellt. „Um dem vorzubeugen, ist es notwendig, Erlebnisse, die aufgrund ihrer Einzigartigkeit für die Betroffenen nicht wie sonst üblich im Gedächtnis abgespeichert werden können, in die normale Bibliothek der Erinnerungen zu verfrachten“, sagt Sebastian Hoppe. Grob vereinfacht ist das Vorgehen mit einem Aufräumvorgang vergleichbar: Wenn beim Aufräumen der Wohnung plötzlich ein Gegenstand auftaucht, für den kein Fach vorhanden ist, weil ein solcher Gegenstand zuvor noch nie da war und deshalb auch keine Notwendigkeit bestand, ihn zu verstauen, behält man diesen Gegenstand entweder dauerhaft in der Hand, oder man legt ihn übergangsweise an immer neuen Orten ab - an denen er dann immer wieder stört. Selbst das Ablegen in einer dunklen Ecke funktioniert nur so lange, bis man auch dort darüber stolpert. Mit einem potentiell traumatisierenden Erlebnis oder starker Trauer verhält es sich ähnlich. Gelingt es Menschen nicht, ihnen einen festen Platz in ihrem Leben respektive Weiterleben zuzuweisen, tauchen sie immer und immer wieder auf. Sie beeinträchtigen die psychische Gesundheit einer Person im schlimmsten Fall sehr erheblich und langfristig. In den meisten Fällen, in denen das KIT-München aktiv wird, erweisen sich bereits Präsenz und auf die betreute Person abgestimmte kleine Impulse als hilfreich und ausreichend. Doch nicht immer genügt die in der Regel nur wenige Stunden lange Betreuungsphase durch die Einsatzkräfte. Aus diesem Grund ist es elementarer Bestandteil von Kriseninterventionsarbeit, über weiterführende Betreuungs- und Nachsorgemöglichkeiten zu informieren sowie gegebenenfalls ausdrücklich zu empfehlen, sie bei Bedarf auch wirklich in Anspruch zu nehmen. 23


Einsätze, die unvergessen bleiben

„In der kurzen Zeit, die man da ist, hilft man so wahnsinnig viel.“ Wenn die Einsatzkräfte des KIT-München am Einsatzort eintreffen, haben sie durch das Meldebild zwar eine grobe Orientierung bekommen, was sie erwartet. Die konkrete Situation ergibt sich aber erst vor Ort. Petra Meßner erinnert sich an einen sehr eindrücklichen Einsatz: „Ich habe in über 20 Jahren beim KIT relativ viel erlebt. Den klassischen Einsatz gibt es nicht; jede Situation und jeder Mensch ist anders. Sehr einprägsam war für mich der erste Einsatz, den ich alleine gemacht habe. Es war nachts halb eins. Ich bin in einem Restaurant angekommen, in dem 50 Leute waren. Der Jubilar, der 50 Jahre alt geworden ist, ist bei einem Tanz mit seiner Ehefrau plötzlich tot umgefallen. Mir war gleich klar, dass ich das nicht alleine stemmen kann. Ich habe sofort Kollegen nachgefordert, die sich auf kleinere Gruppen verteilt haben. Mein Augenmerk lag auf der Tochter, die Anfang 20 war. Sie saß an eine Wand gelehnt, während von oben der Notarzt, der Pfarrer und die Polizei gleichzeitig auf sie einredeten. Die standen um sie herum, weil sie neben ihrem Vater saß und ihn nicht loslassen wollte. Es müsse weitergehen, haben sie gesagt, und ich habe mich einfach neben sie hingesetzt und nichts gemacht. Irgendwann hat sie mich angeschaut, und dann habe ich gesagt: „Mein Gott, das ist schon schwer.“ So sind wir ins Gespräch gekommen. Im Verlauf dieses Gesprächs konnte sie ihren Vater später loslassen, und wir haben zusammen eine Verabschiedung vom Verstorbenen gehabt. Zum Schluss saßen wir zusammen an der Bar und haben eine Cola getrunken. Man macht eigentlich nicht viel - es braucht oft auch nicht viel. Das darf man aber nicht damit verwechseln, dass es einfach wäre. Hinter dem Wenigen, das man tut, steckt wahnsinnig viel. Ich muss alles im Blick haben: die Tochter neben ihrem Vater, aber auch die Polizei, die möchte, dass es weitergehen kann. Ich muss an den Not24


arzt denken, weil der wieder weg muss. Das läuft alles nebenbei ab. Man braucht eine fundierte Ausbildung, um das im Kopf alles bearbeiten und dabei trotzdem ruhig wirken zu können. Unser großer Vorteil als KIT ist, dass wir kommen und Zeit mitbringen. Wenn wir irgendwo hinkommen, hat die betroffene Person oft schon einen Kontakt zu jemandem vom Rettungsteam oder der Polizei. Aber die müssen weiter, weil sie klare Aufgaben Petra Meßner ist seit 1999 für das KITin einem durchgetakteten AbMünchen im Einsatz. Sie ist Intensivlauf haben. Wir haben in diesem Krankenschwester und hauptberuflich Ablauf keine Rolle, sondern sind beim Hospiz-und Palliativdienst DaSein als Fachkraft für Palliative Care tätig. ausschließlich für den Menschen da, für den das Geschehene die ultimative Katastrophe darstellt und für den in diesem Moment die Welt untergeht. Solche Gespräche zu beginnen fällt leichter, wenn man zu keinem der Systeme am Einsatzort gehört - weder dem persönlichen noch dem der übrigen Einsatzkräfte -, sondern ganz von außen kommt. Die Menschen nehmen mich dadurch oft gar nicht als Person wahr, es geht um mich als KITlerin. Dass das so ist, wissen wir aus Dankesschreiben von Personen, die wir betreut haben. Beide Seiten wissen in diesen Gesprächen, dass sie sich wahrscheinlich nie wiedersehen werden; das hilft, weil es Hürden abbaut. Die Leute öffnen sich dadurch leichter, viele erzählen ihre komplette Lebensgeschichte und lassen einen bis ins Innerste gucken. Man kommt ihnen dadurch für einen Moment sehr nahe, ohne dass das mit irgendwelchen Folgen oder weiterführender Verantwortung verbunden wäre. Dieses Wissen schützt beide Seiten und ermöglicht den Dialog oft erst.“

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Neben der Wirkung von fachlicher Kompetenz und Erfahrung in der Gesprächsführung auf die betreuten Personen beschreiben Einsatzkräfte immer wieder, dass bereits ihre bloße Anwesenheit einen Effekt hat. Hoppe erinnert sich an einen Einsatz, bei dem ein Mann seine Eltern in medizinisch kritischem Zustand vorgefunden und den Rettungsdienst alarmiert hatte: „Es waren wahnsinnig viele Rettungskräfte da, viel Polizei, viel Feuerwehr, die nach dem Abtransport der Eltern aber alle binnen Sekunden aus dem Haus verschwanden. Das war dann leer. Und es herrschte von einem Moment auf den anderen totale Stille. Ein Feuerwehrmann hatte immerhin noch gesagt, in welches Krankenhaus die Eltern gebracht wurden – selbst daran denkt nicht immer jemand. Aber dann fiel die Tür ins Schloss – und der Mann hätte da ohne KIT ganz allein gesessen.“ Bedürfnisse erkennen – und sie erfüllen Doch Psychosoziale Notfallversorgung erschöpft sich keinesfalls in Anwesenheit und intuitivem Zuspruch, sondern setzt sehr konkret bei den typischen Bedürfnissen von psychisch stark beziehungsweise überbeanspruchten Personen an. Hierzu hat die Traumaforschung – ein noch sehr junges Gebiet – während der letzten Jahrzehnte die Entwicklung wichtiger Konzepte ermöglicht, die auch für die Krisenintervention Ansatzpunkte liefern. Ein Trauma entsteht nach der gängigen Definition dort, wo eine Diskrepanz zwischen in irgendeiner Form bedrohlichen Situationsfaktoren (Risikofaktoren) und den eigenen Bewältigungsmöglichkeiten (Schutzfaktoren) besteht1. Das heißt: dort, wo das Erlebte mehr ist, als eine Person unter den gegebenen Bedingungen verarbeiten kann. Dasselbe gilt in abgeschwächter Form für Trauer, die Hinterbliebene zwar selten traumatisiert, sie ohne Unterstützung aber unter Umständen sehr stark psychisch und emotional beansprucht. Sowohl die Begleitung in einen gesunden Trauerprozess als auch die Trauma-Prävention kann grundsätzlich auf zwei Wegen erfolgen: durch eine Veränderung der Situation an sich (also Reduktion der Risikofaktoren) oder durch die Erarbeitung einer Bewältigungsstrategie (also mehr Schutzfaktoren), so dass die Bewältigungsmöglichkeiten für die Situation wieder ausreichen. Durch medizinische Versorgung, technische Hilfeleistung oder beispielsweise polizeiliche Ermittlungen lassen sich Situationen oftmals noch ändern 26


und die Dramatik kann reduziert werden (lebensrettende Maßnahmen, Löschen eines Brandes, Fassen eines Täters). Eine äußere Veränderung der Situation in diesem Sinne ist durch die PSAH nicht möglich. Ihre Aufgabe ist es, angesichts einer schlimmen äußeren Realität (z.B. Tod eines geliebten Menschen) für Betroffene da zu sein und den Rahmen für eine möglichst gute Verarbeitung des Geschehenen zu schaffen.

Seelische Wunden versorgen: Manchmal genügt es, ein Taschentuch zu reichen und persönlich da zu sein.

Verarbeitung – ein großes Wort. Denn natürlich dauert echte Verarbeitung lange und kann nicht im Rahmen einer Betreuung durch das Kriseninterventionsteam erfolgen. Aber es können auf Basis aktueller Traumaforschung wichtige Pflöcke eingeschlagen werden, die den Prozess einer gesunden Verarbeitung günstig beeinflussen und im Idealfall Traumafolgestörungen oder etwa pathologischer Trauer vorbeugen.

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Fischer, G. & Riedesser, P. (2009). Lehrbuch der Psychotraumatologie. München; Ernst Reinhardt Verlag, S. 84.

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Bewältigungsstrategien Was aber hilft Menschen nun konkret dabei, eine für sie unfassbare Situation zu realisieren und die Basis für einen gesunden Verarbeitungsprozess zu schaffen? „Den Wunsch der Betroffenen nach Information, einem festen Ansprechpartner und ein bisschen Privatsphäre haben viele unserer Einsätze gemein“, sagt Meßner. Diese Beobachtung aus dem Einsatzalltag deckt sich mit Forschungsergebnissen des amerikanischen Wissenschaftlers Stevan Hobfoll 2, der mit Fachkolleg*innen im Jahr 2007 aus einer Vielzahl von potentiellen Bewältigungsstrategien fünf Grundbedürfnisse herausarbeitete, an die eine zielführende Betreuung nach extrem belastenden Erlebnissen anknüpfen kann. 1. Gefühl von Sicherheit Aufsuchen eines sicheren Betreuungsortes (z.B. abseits des großen Einsatzkräfteaufgebots, geschützt vor Schaulustigen und Presse); Vermitteln, dass eine mögliche Gefahr nun vorüber ist und beispielsweise Verletzte die bestmögliche medizinische Versorgung erhalten. 2. Beruhigung Hierzu gehören maßgeblich das Vermitteln von Informationen über das bisherige und gegenwärtige Geschehen und die nächsten Schritte dazu. Was ist eigentlich genau passiert? Wie geht es jetzt weiter? Warum ermittelt z.B. die Polizei? Was muss nach dem Tod eines Angehörigen alles organisiert werden? Antworten auf solche und ähnliche Fragen sind für Betroffene oftmals von zentraler Bedeutung. 3. Ein Gefühl von Selbst- und kollektiver Wirksamkeit Gemeint ist das Gefühl, den Alltag mit all seinen Herausforderungen grundsätzlich bewältigen zu können und auf die Geschehnisse einen Einfluss zu haben (Selbstwirksamkeit) sowie die Überzeugung, dass die Welt um uns herum grundsätzlich funktioniert und uns andere Personen nicht ohne Grund feindselig begegnen (kollektive Wirksamkeit). Wird das Empfinden der Selbst- und/oder kollektiven Wirksamkeit durch die Ereignisse erschüttert, hat das Schaffen eines – auch subjektiv – als sicher empfundenen Raumes oberste Priorität. Denn Dauer und Intensität, 28


über die sich eine Person der bedrohlichen Situation ausgesetzt fühlt, spielen eine große Rolle für das Auftreten und die Ausprägung möglicher psychischer Folgeschäden. Zudem hat das Sprechen mit der Einsatzkraft an sich einen psychologischen Wert: Wird die Einsatzkraft von Betroffenen als ein ihnen grundsätzlich wohlgesonnenes und vertrauensvolles Gegenüber erlebt, kann dies ein erster Kontrapunkt zur zuvor erlebten unerwarteten Bedrohung sein. Damit wird der vorherigen extrem negativen Erfahrung über die Welt möglichst rasch eine positive Erfahrung entgegengesetzt. 4. Verbundenheit Typischerweise die Aktivierung des sozialen Netzes, bestehend z.B. aus Verwandten, Freunden, Bekannten, Nachbarn oder anderen Bezugspersonen. Wesentliches Ziel beinahe jedes KIT-Einsatzes ist es, Menschen nach Einsatzende nicht allein zurücklassen zu müssen bzw. zumindest in die Wege geleitet zu haben, dass Betroffene nicht in soziale Isolation zu rutschen drohen. 5. Hoffnung Entwickeln einer Perspektive, und sei es erst einmal nur für die nächsten Stunden oder wenigen Tage, wie es nun weitergehen kann. Vermitteln, dass die situativ möglicherweise intensiv empfundene Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Betroffenen kein unabänderlicher Dauerzustand ist, sondern sich im Laufe der Zeit durchaus verändern und so auch wieder neuer Lebensmut gesammelt werden kann. Die Mehrheit der in den zitierten Einsatzprotokollen (siehe S. 34ff.) vermerkten Unterstützungsangebote leitet sich von diesen fünf Grundbedürfnissen ab. Die Protokolle dokumentieren den realen Einsatzalltag des KIT-München und werden standardmäßig nach jedem Einsatz von den diensthabenden Ehrenamtlichen verfasst. Die Berichte wurden anonymisiert und zugunsten der besseren Lesbarkeit behutsam und sinnerhaltend editiert. Diese fünf Grundbedürfnisse bleiben bestehen, auch wenn sich die Meldebilder über die Jahre verändert haben.

Hobfoll, S. E., Watson, P., Bell, C. C., Bryant, R. A., Brymer, M. J., Friedman, M. J., Friedman, M., Gersons, B. P. R., de Jong, J. T. V. M, Layne, C. M., Maguen, S., Neria, Y., Norwood, A. E., Pynoos, R. S., Reissman, D., Ruzek, J. I., Shalev, A. Y., Solomon, Z., Steinberg, A. M., & Ursano, R. J. (2007). Five essential elements of immediate and mid-term mass trauma intervention: Empirical evidence. In: Psychiatry: Interpersonal and Biological Processes; 70(4), S. 283 - 315.

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Das Tabu-Thema Tod Viele Einsätze des KIT-München beginnen an Orten, an denen Menschen überraschend oder zumindest für ihre Angehörigen überraschend aus dem Leben gerissen wurden. In diesen Fällen hilft Psychosoziale Akuthilfe dabei, mit der Geschwindigkeit umzugehen, in der sich für Betroffene gerade die Welt verändert. Anders verhält es sich beim natürlichen Tod im häuslichen Umfeld, den immer mehr Menschen selbst dann als extrem schockierendes Ereignis erleben, wenn er sich angekündigt hatte. Einsatzkräfte berichten unabhängig voneinander davon, dass sie in Bezug auf den natürlichen Tod einen Entfremdungsprozess bei betreuten Personen feststellen. „Wir erleben, dass wir mit dem Meldebild ’plötzlicher, unerwarteter Todesfall‘ an einen Einsatzort fahren, weil jemand 99-jährig nach langer Krankheit verstorben ist“, sagt Petra Meßner. Den Angehörigen helfe es bereits im Laufe der Betreuung, nach gemeinsam mit dem Verstorbenen erlebten, schönen Erinnerungen zu fragen, sich an diese Zeiten zu erinnern und dann die lange Zeitspanne zu sehen, die man miteinander verbringend durfte. Allerdings, fügt sie hinzu, sei es „eigentlich schade, dass es uns als KIT in solchen Zusammenhängen überhaupt braucht - früher haben das Familien oder andere funktionierende Strukturen aufgefangen“. Hoppe berichtet zudem von einer zunehmenden Häufung an Fällen, in denen alte Menschen nach dem Verlust ihrer Lebenspartner*innen ganz allein sind. Der ehemalige KIT-Mitarbeiter und Notfallseelsorger Hermann Saur macht für diese Tendenz die veränderten Lebensumstände mitverantwortlich. Dadurch, dass Familien aus den verschiedensten Gründen nur noch selten mit mehreren Generationen unter einem Dach lebten, hätten Menschen immer weniger Berührungspunkte mit dem Tod, ehe er sie selbst unmittelbar betreffe. Das führt aus seiner Sicht dazu, dass auch ein natürlicher Umgang mit diesem ja am Ende jedes Lebens unausweichlichen Ereignis verloren geht – und zu einer neuen Form von Überforderung. Viele Menschen kommen mit dem Tod erstmals in Kontakt, wenn er sie als nahe Angehörige sehr konkret betrifft. Es gebe dadurch „keine Muster mehr, die Menschen schon im Lauf ihres jungen Lebens erlernen und später abrufen können“. Früher sei mitnichten alles besser gewesen, betont er, „aber in einem Todesfall gab es eingespielte Riten und Abläufe, so dass sich der Mensch daran orientieren und festhalten konnte“. Das passiere immer seltener; Menschen blieben mit dem Tod Angehöriger auf sich allein gestellt und fühlten sich auch so. 30


Das KIT-München führt in solchen Fällen oft keine in erster Linie psychosoziale Betreuung durch, sondern steht mit Wissen über die Abläufe zur Verfügung, mit denen Menschen zunehmend weniger vertraut sind. „Wir erleben, dass die tote Person in der Wohnung liegt, der Arzt noch einen natürlichen Tod feststellt und dann geht. Und dann sitzt die Ehefrau dort mit ihrem toten Mann und weiß überhaupt nicht, wie es weitergeht und was sie machen soll“, sagt Saur. Kein Platz in der Gesellschaft Hinzu kommen stärker werdende Berührungsängste mit dem Sterben, die den natürlichen Trauerprozess für die Betroffenen erschweren. Das ist nach Ansicht von Saur unter anderem darauf zurückzuführen, „dass der Tod outgesourct wurde“. 80 Prozent der Menschen sterben nicht mehr zu Hause, sondern in Pflegeeinrichtungen oder im Krankenhaus. Der Tod zu Hause wird damit für sich genommen schon zum Sonderfall. In öffentlichen Einrichtungen kümmert sich ausgebildetes Personal um die Verstorbenen. Das sei einerseits eine Entlastung für Angehörige, führt laut Saur aber auch dazu, „dass wir den natürlichen Umgang mit dem Sterben als Gesellschaft komplett verlernen“. Er möchte das nicht als Vorwurf verstanden wissen. „Wir haben in unserer durchorganisierten Gesellschaft im Grunde alle eine Form von Kontrollzwang entwickelt“, sagt er. Nicht zu wissen, wie man sich in einer Situation verhalten solle, komme in einem perfektionistischen System nicht mehr vor. „Wir haben Angst vor dem Tod, und wenn ich die Chance habe, etwas, das Angst macht, zu verdrängen, dann tue ich das – das ist ganz normal.“ Allerdings werde die Angst dadurch immer größer und der Erfahrungsschatz immer kleiner. Die erschütternde Wirkung des natürlichen Todes nimmt durch seine Verbannung aus der Lebenswirklichkeit zu, weil er für die Betroffenen dadurch fast ausnahmslos zu einer subjektiv schwer belastenden Ausnahmesituation geworden ist.

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Einsatzberichte ehrenamtlicher Einsatzkräfte Meldebild: Überbringen einer Todesnachricht nach Suizid Indexperson, d.h. verstorbene Person: 16 Jahre, männlich Betreute Personen: Mutter, Vater, Geschwister, ca. 15 Freunde Betreuungsdauer: circa 4 Stunden Situation: Der Verstorbene verließ am späten Abend des Vortags heimlich sein Elternhaus und begab sich auf den Gleisbereich einer S-Bahn. Er schreibt um 23.19 Uhr eine Entschuldigungs-SMS an eine Freundin und legt sich auf das Gleis. Er wird vom Triebwagenführer unbemerkt von der S-Bahn überrollt. Ein anderer Triebwagenführer, der die Stelle passiert, entdeckt eine leblose Person und alarmiert den Rettungsdienst und eine Kollegin vor Ort, keine Betreuung des Fahrers erforderlich. Die Eltern vermissen den Jungen am nächsten Morgen, stellen fest, dass er nicht in seinem Zimmer ist. Sie kontaktieren Schulfreunde, die sich vom Unterricht befreien lassen und zu suchen beginnen. Die Eltern stellen eine Vermisstenanzeige bei der Polizei. Einsatzverlauf: Die Mutter reagiert mit extremer Fassungslosigkeit, albtraumartige Beklemmung. Motiv für den Suizid völlig unklar. Die Freunde waren noch am Abend mit dem Suizidanten zusammen. Die äußeren Faktoren lassen keinerlei Rückschlüsse zu: stabile familiäre Verhältnisse, hohe soziale Kohäsion und großes soziales Engagement. Beauftragung des ortsansässigen KIT in L., wo sich der Bruder des Verstorbenen an seiner Arbeitsstelle aufhält. Kontaktaufnahme mit dem Direktorat des betroffenen Gymnasiums, große Betroffenheit. Die Schulleitung erbittet weiterführende Unterstützung durch das KIT-München. Die Familie erbittet weitere Informationen. Weitere Maßnahmen: Absprache mit der Schulleitung. KIT-Mitarbeiter M.: „Suizid gehört zu den schwierigsten Einsatzarten unserer Tätigkeit. Wenn eine intakte Familie aus heiterem Himmel erfährt, dass sich ein Mitglied nächtlich davon geschlichen hat, sogar vorgetäuscht hat, er liege noch im Bett und schliefe, um dann auf ein Bahngleis zu 34


Überbringung einer Todesnachricht an der Wohnungstür

gehen, dann kann man nicht das Schicksal, irgendeinen Gott, auch keinen Dritten als Schuldigen heranziehen, um sich halbwegs eine Erklärung zu basteln, um das Unerklärbare halbwegs erklärbar zu machen. Denn es war ja der freie Wille des geliebten Menschen, der seine Tat mit Lug und Betrug wirklich werden ließ. Die Stille, die eintritt, wenn man ausgesprochen hat, was ausgesprochen werden muss, ist eine seltsame, eine bleierne, eine schwere. Und alle Uhren bleiben stehen. Ich fühle in solchen Momenten immer, dass der Sauerstoff mit einem Schlag aus der Luft weicht, es fällt mir schwer zu atmen. Und in unserem „Werkzeugkoffer“ gibt es kein „Tool“, das man herausziehen könnte. Keine Erklärung, keinen Trost, keine Hoffnung. Nur das da Sein. Und das empfinde ich als das Schwerste.“

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Meldebild: Unerwarteter Tod Indexperson, d.h. verstorbene Person: 70 Jahre, männlich Betreute Personen: Partnerin, 58 Jahre Betreuungsdauer: circa 2 Stunden Situation: Der 70-Jährige fiel beim Einkauf mit seiner Partnerin Frau Z. auf einer Treppe um und verlor das Bewusstsein. Frau Z. setzte sofort einen Notruf ab, First Responder waren schnell vor Ort. Rettungswagen und Notarzt brachten ihn unter laufender Reanimation ins Krankenhaus. Einsatzverlauf: Ich habe Frau Z. nach Hause begleitet, wir haben gemeinsam die Einkäufe verräumt. Nach circa einer Stunde erfolgte ein Anruf in der Notaufnahme und ein Gespräch mit dem Oberarzt. Die Prognose war nicht gut. Ich habe dem Oberarzt meine Telefonnummer und die von Frau Z. gegeben. Nach circa einer halben Stunde Rückruf vom Oberarzt; Mitteilung über den Tod von Herrn A. Frau Z. zeigt starke Trauer, ich war bei ihr, bis ein sehr guter Freund eintraf. KIT-Mitarbeiter A.: “In erster Linie war es wichtig, dass jemand nur für sie da war und die nächsten Schritte erklärt hat. Ein kleiner Fels in der Brandung hat ihr etwas Halt gegeben. Wichtig war, von ganzem Herzen da zu sein. Ich hatte sehr großes Mitgefühl mit der Frau, und es war eine Zeit lang unklar, ob ihr Partner überlebt. Hier hat sich deutlich gezeigt, dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Ich habe ihr letztendlich die Todesnachricht überbracht.“ Meldebild: Natürlicher Tod zu Hause Indexperson, d.h. verstorbene Person: weiblich, 83 Jahre, nach erfolgloser Reanimation Betreute Personen: männlich, 86 Jahre, Ehemann Betreuungsdauer: circa 3 Stunden

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Situation: Der Mann hatte seine Frau jahrelang gepflegt und sich nach eigener Aussage „auf den Tod gefasst gemacht“, der für die Indexperson sehr friedlich war. Einsatzverlauf: Vorstellung, Kontaktaufnahme, Stabilisierung. Information des Betroffenen über die weiteren Schritte und Psychoedukation. Die telefonische Anforderung des Leichenschauers erfolgt durch die KIT-Einsatzkraft, da der Betroffene wegen seiner Hörgeräte große Schwierigkeiten beim Telefonieren hat. Während der Leichenschau herrscht ein gelöster, respektvoller Tonfall mit dem Betroffenen, was zu einem natürlichen, bejahenden Umgang mit dem Tod beiträgt. Schwerpunkt der Betreuung ist die Vermittlung von Faktenwissen zum weiteren Vorgehen/Verlauf und auf Bitten des Betroffenen die Kontaktaufnahme zum Bestatter. Die Einsatzkraft vereinbart für den Betroffenen einen Präsenz-Termin am Folgetag, um ihn zuverlässig anzubinden. Da der Betroffene nur lose Bekanntschaften pflegt, ist die Aktivierung dieser Ressource nicht ad hoc möglich, allerdings ist er sehr stabil und betont, dass er sich, sofern Corona es zulässt, mit dem Fahrrad in Gesellschaft begeben werde. Insgesamt sind Annehmen-Können des Geschehenen und der liebevolle Umgang mit dem toten Menschen sowie der Beginn der Verarbeitung als erste Schritte eines guten Trauerweges sichtbar. Besonderheiten: Beim Eintreffen am Einsatzort kommt es wegen eines Defekts am Einsatzfahrzeug, das später abgeschleppt werden muss, zu Verzögerungen. Die betreute Person empfindet es nach eigener Aussage nicht als störend, dass dies zwischenzeitlich koordiniert werden muss. KIT-Mitarbeiterin M.: “Der Ehemann brauchte vor allem Hilfe beim Telefonieren und Hilfe/Information über die nächsten Schritte, die er nun erledigen muss. Konkret war das der Anruf beim Leichenschauer und die Terminvereinbarung beim Bestatter. Als sehr berührend habe ich in diesem Einsatz die Art und Weise erlebt, wie der Betroffene immer wieder ganz zärtlich von seiner Frau Abschied nahm, ein kurzes Streicheln über das Gesicht, ein Halten ihrer Hand, ein liebevoller Blick auf sie, während wir im Gespräch waren; hier durfte ich Zeugin einer Liebe werden, die auch im Tod nicht endet und die das Leben des Betroffenen weiterhin trägt. Das ließ auch schon während der Akutphase der Krisenintervention Raum für Komik, für schöne Erinnerungen und für die bewusste Akzeptanz des Todes. Der Titel eines Gemäldes wäre hier: Friede.“ 37


Meldebild: Verkehrsunfall Indexperson, d.h. verunglückte Person: 75 Jahre, männlich Betreute Personen: Unfallfahrer (LKW), männlich, circa. 30 Jahre, ausreichende Deutschkenntnisse für eine Kontaktaufnahme sind vorhanden Betreuungsdauer: circa 1 Stunde

Situation: Verkehrsunfall, die verunglückte Person ist beim Eintreffen des KIT auf dem Weg ins Krankenhaus. Einsatzverlauf: Der Fahrer zeigt Betroffenheit, verbalisiert das Geschehen und zieht Parallelen zur eigenen Biographie. Der Fahrer wird über die polizeilichen Ermittlungen informiert. Es folgen Beruhigung und Psychoedukation. Danach geben wir Hilfestellung und unterstützen beim Gespräch des Fahrers mit der Polizei. Der Fahrer nimmt Kontakt mit seiner Freundin im Ausland auf, trotz räumlicher Entfernung gute Anbindung. Weitere positive Ressource: Der Werkleiter der Zielfirma kommt persönlich zur weiteren Betreuung des Fahrers, guter Kontakt. Psychoedukative Hinweise bezüglich der Unterstützung des Fahrers an den Werkleiter. Verabschiedung. KIT-Mitarbeiter M.: “Beim Verkehrsunfall war das primäre Bedürfnis des Fahrers: Information, Aufklärung und dann Beruhigung. Er hatte große Angst, ins Gefängnis zu kommen, weil er automatisch davon ausging, allein am Unfall schuld zu sein und dafür nun verurteilt zu werden. In der Realität jedoch hatte er überhaupt keine juristische Schuld und hätte ganz im Gegenteil den Unfall überhaupt nicht verhindern können. Sehr angenehm habe ich an diesem Einsatz die mitfühlende Art und Weise erlebt, wie die Polizei mit dem LKW-Fahrer sprach; die Zusammenarbeit hier war wichtig und hat die Stabilisierung des Fahrers sehr positiv verstärkt. Krisenintervention gelingt eben im guten und sensiblen Zusammenwirken der verschiedenen Einsatzkräfte am besten.“

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Betreuungssituation im KIT-Fahrzeug

Meldebild: Lebensbedrohlicher Zustand eines Kindes

Indexperson, d.h. Kind in medizinisch kritischem Zustand: 14 Jahre, weiblich Betreute Personen: die Eltern Betreuungsdauer: circa 3 Stunden Situation: Das Mädchen hat eine starke Blutung unklarer Ursache im Mund-Nasenbereich und eine Sepsis im Kiefer. Sein Gesundheitszustand hat sich im Tagesverlauf dramatisch verschlechtert, es wurde daraufhin mit einem Rettungshubschrauber ins Klinikum geflogen, wo es sich während des KIT-Einsatzes befand. Zwischenzeitlich war der Zustand des Mädchens instabil und akut lebensbedrohlich. Die geplante Verlegung in ein anderes Klinikum verzögerte sich wegen des kritischen Gesundheitszustands.

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Einsatzverlauf: Bei Ankunft Abstimmung mit dem Klinikpersonal, dann Betreuung der Eltern in einem Ruheraum der Klinik. Die Eltern sprechen griechisch, die sprachliche Verständigung ist daher nicht einwandfrei, aber ausreichend, um alles Wesentliche zu kommunizieren. Das zweite Kind ist bei Freunden der Familie, die Mutter dieser befreundeten Familie kommt nach kurzer Zeit in die Klinik und steht vor allem der Mutter bei. Die Eltern weinen und beten viel, sie stellen Fragen zum Gesundheitszustand der Tochter und zu den Gründen des Krankheitsgeschehens. Guter Austausch zwischen Einsatzkraft N., Mutter und Freundin. Enger Kontakt zum Klinikpersonal, von dem mehrfach der aktuelle Stand eingeholt wird. S. im Gespräch mit dem sehr mitgenommenen Vater, der mehrmals den Raum verlässt und sich im Zuge der Ereignisse selbst in Frage stellt (strenger Erziehungsstil). N. informiert die Klinikseelsorge der Universitätsklinik, um sie vorzubereiten. Als das Mädchen stabilisiert ist, dürfen die Eltern in Begleitung von S. zu ihm. Es beruhigt die Eltern ein wenig, die Tochter friedlich und in äußerlich gutem Zustand zu sehen. Nach fünf Minuten verlassen sie die Tochter auf eigenen Wunsch. Anschließend Betreuungsende, da die Freundin bleibt und die Folgebetreuung durch die Krankenhausseelsorge sichergestellt ist. Die Eltern bedanken sich und sind deutlich stabiler als bei KIT-Ankunft. KIT-Mitarbeiter S.: “In dieser Situation konnten wir gar nicht viel tun, außer gemeinsam abzuwarten und regelmäßig aktuelle Infos über den Gesundheitszustand des Mädchens einzuholen. Der Ausgang war ja völlig offen, und für die Eltern war das natürlich eine furchtbare Zerreißprobe. Neben dem Einholen aktueller Infos konnten wir einfach nur da sein – das klingt nach nicht viel, war aber trotzdem extrem wichtig, schien mir.“ Meldebild: Suizid Indexperson, d.h. verstorbene Person: 16 Jahre, männlich Betreute Personen: Mutter, 42 Jahre; Schwester, 18 Jahre Einsatzdauer: circa 3,5 Stunden

Situation: Nachdem der 16-Jährige seine Freundin per Sprachnachricht darüber informiert hatte, aus dem Leben scheiden zu wollen, alarmierten 40


die Eltern die Polizei. Es wurde mit Hubschraubern und Hundestaffeln nach der Indexperson gesucht. Durch Handy-Ortung war es möglich, das Gebiet auf einen Park einzugrenzen. Ich wurde zur Betreuung der Mutter gerufen, die sich an der Suche beteiligen wollte. Die Mutter war in Begleitung ihrer Nichte, später auch der Tochter. Einsatzverlauf: Wir verbrachten einige Zeit im KIT-Bus. Man fand den Sohn erhängt auf. Nach Rücksprache mit der Polizei haben wir die Todesnachricht nicht sofort überbracht, um die Ermittlungen (Kripo und Leichenschau) nicht zu stören. Es war zu befürchten, dass die hoch emotionale Mutter sofort zum Fundort gewollt hätte. In Abstimmung mit der Polizei konnte ich erreichen, dass wir in der Nähe des Fundortes im Wald eine Verabschiedung durchführen konnten. Nach der Verabschiedung brachte ich Mutter und Tochter zu ihrer Wohnung. Weitere Maßnahmen: Anforderung eines zweiten Dienstes für die Betreuung des Vaters und des kleinen Bruders. KIT-Mitarbeiter R.: “In erster Linie brauchten die Betroffenen Klarheit, was mit dem Sohn/Bruder passiert war. Die Ungewissheit, das Warten auf Informationen hat alle stark beschäftigt und belastet. Ich empfand die Zusammenarbeit mit der Polizei, der Kripo, der Hundestaffel und dem Bestatter als sehr kooperativ. So konnte ich im Wald die Angehörigen im KIT-Bus zum Fundort fahren und dort das so wichtige Abschiednehmen durchführen. Das war auch für mich ein sehr emotionaler Moment.“

Suizid bei Heranwachsenden - wenn Jugendliche nicht mehr leben wollen. 41


Meldebild: Häusliche Gewalt Indexperson, d.h. Täter: männlich, ca. 42 Jahre Betreute Person: Frau B., Kinder Betreuungsdauer: circa 2,5 Stunden

Situation: Herr C. bedroht am Einsatztag Frau B. und die anwesenden Kinder in der gemeinsamen Wohnung verbal und mit einem Messer. Die Nachbarn reagieren und alarmieren die Polizei. Die Wohnung wird gewaltsam geöffnet, es kommt Pfefferspray zum Einsatz, ein Kind muss infolgedessen notärztlich versorgt werden. Einsatzverlauf: Die Intervention erfolgt von Anfang an in turbulenter Atmosphäre. Zwischenzeitlich befinden sich 27 Personen in der Wohnung. Rettungsdienst und Polizei schildern bei unserem Eintreffen die Situation, ich stelle mich Frau B. vor. Die Kinder spielen im Kinderzimmer mit einer Polizeibeamtin, ich bekomme schnell Zugang zu Frau B., selbiges gilt für die KIT-Praktikantin beim Gespräch mit den Kindern. Es wird bekannt, dass es bereits mehrere Gewaltdelikte in der Familie ohne externe Hilfe gab. Ich erläutere Frau B. das polizeiliche Prozedere im Fall der vorliegenden Situation, der Täter wird in eine Klinik verbracht. Einen erweiterten Platzverweis für den Täter lehnt Frau B. ab, sie will ihn nach seiner Entlassung wieder aufnehmen. Ich spreche mit Frau B. über weiterführende Unterstützungsangebote und händige Flyer aus. Ausführliche Psychoedukation. Ich kündige unser Gehen frühzeitig an, wir werden nicht gebeten, länger zu bleiben. Ergänzende Maßnahmen: telefonische Kontaktaufnahme mit der KITLeitung für eine zweite Meinung, Kontaktaufnahme mit der Kinderstiftung (am Folgetag erneut). KIT-Mitarbeiter B.: “Die Kinder haben Geborgenheit und Orientierung gebraucht, die Lebenspartnerin konkrete Handlungsempfehlungen, um Leuchtturm für die Kinder sein zu können, sowie fachliche weiterführende Hilfe in Bezug auf vergangene erlittene Gewaltdelikte. Das Setting war turbulent, es gab eine gute Zusammenarbeit mit dem Netzwerk (Polizei, Leiter PSNV).“ 42


Meldebild: Tod im häuslichen Umfeld Indexperson, d.h. verstorbene Person: männlich, 63 Jahre, nach erfolgloser Reanimation Betreute Person: weiblich, 60 Jahre, Ehefrau Einsatzdauer: circa 5 Stunden

Situation: Frau P. hat nach erfolglosen Reanimationsversuchen bei ihrem Ehemann den ersten Schock überwunden, die Wohnung ist unaufgeräumt, gegebenenfalls besteht Hilfsbedarf bei der Organisation. Der Tote liegt friedlich im Bett, keine Intubation bei Reanimation. Besonderheiten: Bestätigte Covid-19-Erkrankung der Indexperson, auch Frau P. ist positiv getestet. Entsprechend wird gemäß Dienstanweisung Schutzausrüstung angelegt. Die Betreuung erfolgt mit Abstand und bei geöffnetem Fenster im Wohnzimmer. Frau P. trägt FFP2-Maske. Einsatzverlauf: Frau P. wirkt relativ gefasst, hat immer wieder kurze Weinphasen. Wir beginnen mit der Frage, was noch zu tun ist: Leichenschauer und Bestatter informieren. In der zweistündigen Wartezeit besucht Frau P. ihren verstorbenen Ehemann alle 20 bis 30 Minuten. Es wird ein Bestatter ausgesucht. Der multipel vorerkrankte Verstorbene hatte den Ablauf seiner Beerdigung schon vor 10 Jahren schriftlich festgehalten, darüber gesprochen hatten die Ehepartner jedoch noch nicht. In der Wartezeit lerne ich die sozialen Gegebenheiten kennen. Frau P. hat guten Kontakt zu Nachbarn, Freunden und Arbeitskollegen. Problematisch sind die Kontakte zur Familie des Verstorbenen (Mutter, 86 Jahre, und sein Sohn aus erster Ehe). Frau P. informiert dennoch beide selbst; die Telefonate verlaufen besser, als sie befürchtet hatte. Stütze ist für Frau P. eine 3-jährige Hündin; darüber hinaus machen Telefonate mit Nachbarn und Freunden einen guten Eindruck. Bedingt durch die Quarantäne darf Frau P. ihre Wohnung nicht verlassen und auch keinen Besuch erhalten. Daher Empfehlung, die Telefonseelsorge in Anspruch zu nehmen, falls zu einem späteren Zeitpunkt Gesprächsbedarf entsteht. Die Betreuung von Frau P. ist psychosozial nicht herausfordernd, das coronabedingte Kontaktverbot hat mich jedoch dazu bewogen, die Trauernde bis zur Abholung der Leiche zu betreuen. Danach war der direkte Kontakt zu anderen Menschen für mindestens drei weitere Tage nur noch per Telefon möglich. 43


KIT-Mitarbeiter C.: “Der erste Hinweis kam vom Notarzt bei der Übergabe: Unterstützung bei den jetzt notwendigen, von der Betroffenen einzuleitenden Maßnahmen. Im Verlauf der Betreuung wurde mir und der Betroffenen klar, dass ich für die nächsten Tage der letzte Mensch bin, mit dem sich die Covid-Infizierte unmittelbar face-to-face austauschen kann. Nachdem die erforderlichen Telefonate geführt wurden, zeitliche Perspektiven vorhanden waren, kam ich der Bitte der Betroffenen nach, bis zur Abholung des Leichnams da zu bleiben. Es war mein erster CovidEinsatz, von der Gefahr habe ich erst an der Einsatzstelle (vor dem Haus) vom Notarzt erfahren. In den Gesprächen mit der Betroffenen war das Thema Covid-19 nur am Rande in Bezug auf den Leichenschauer und den Bestatter relevant. Gefreut habe ich mich darüber, dass die Betroffene im häuslichen Umfeld sehr gut Abschied vom verstorbenen Ehemann nehmen konnte. Nach dem Einsatz hatte ich Klärungsbedarf, inwieweit sich mein CovidKontakt trotz Impfung auf mein privates Umfeld auswirken könnte. Nach mehreren Gesprächen habe ich mich in Selbstisolation begeben und mehrere Schnelltests gemacht.“

Meldebild: Person unter S-Bahn Indexperson, d.h. verstorbene Person: männlich, 80 Jahre Betreute Personen: männlich, 38 Jahre, S-Bahnfahrer Einsatzdauer: circa 1,5 Stunden

Situation: Suizid an der S-Bahn-Strecke Einsatzverlauf: Zwei Augenzeugen des Suizids wünschen keine Betreuung. Die Betreuung des Bahnfahrers im Fahrerstand erfolgt zunächst durch eine PSNV-Fachkraft der Freiwilligen Feuerwehr. Der Fahrer ist sehr gefasst, macht sich aber Vorwürfe, weil er die Indexperson bereits auf der Hinfahrt gesehen hatte. Absprache mit Polizei und Bahnmanager. Der Betroffene möchte nach Hause. Begleitung des Fahrers nach Hause, dort kurze Betreuung im Beisein der Lebensgefährtin inklusive Psychoedukation.

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Anmerkungen: Der Betroffene sucht am nächsten Tag eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie auf. KIT-Mitarbeiter S.: “Der S-Bahn-Fahrer war erst ein Jahr im Dienst. Nun, beim ersten tödlichen Unfall, machte er sich Vorwürfe, weil er glaubte, er hätte ihn durch langsameres Fahren verhindern können. Er brauchte den entlastenden Satz: ’Dieser Mann wollte das, und wenn jemand das so sicher will und tut, dann kann man es nicht verhindern.‘ Danach brauchte er einfach ein Stück Normalität, daher fuhr ich ihn nach Hause zu seiner Frau. Der Einsatz verlief ruhig und in gutem Kontakt zum Betroffenen. Rückwirkend erfuhr ich, dass sich der Suizidant im Finalstadium einer Krebserkrankung mit Schmerzen befunden hatte. Das macht schon nachdenklich, wenn ein Mensch diesen Weg wählt…“

Betreuung eines Mitarbeiters im Schienennahverkehr nach Suizid auf den Gleisen

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TRAUMAFORSCHUNG

Wirksamkeitsstudie der Ludwig-Maximilians-Universität München Bislang fehlen klare wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit der PSAH. Eine aktuelle Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) in Kooperation mit dem KIT-München soll einen Beitrag zum Schließen dieser Forschungslücke leisten. Der gestiegene Bedarf an externer Unterstützung bei natürlichen Todesfällen aufgrund fehlender familiärer Ressourcen, den die KIT-Einsatzkräfte vermehrt beobachten, ist sehr wahrscheinlich nur eine Seite der Medaille. Wenn man berücksichtigt, dass psychische und emotionale Belange ein Bereich sind, über den man generell bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus ungern bis gar nicht sprach, darf für diesen Zeitraum eine erhebliche Datenlücke bezüglich der Frage angenommen werden, wie belastend der Tod von Angehörigen empfunden wird. In der Nachkriegsgeneration hält sich das Credo vom Durchhalten, Zusammenreißen und mit-sich-selbst-Ausmachen vielerorts hartnäckig, weshalb offenbleiben muss, welchen realen Anteil am innerfamiliären Trauern der stärkere Zusammenhalt hat – und welchen Schweigen und Verdrängung. Dieser Umstand trägt dazu bei, dass die Forschung zur Psychosozialen Akuthilfe – bemessen an ihrer angenommenen Bedeutung für die psychische Gesundheit – bislang so wenig fortgeschritten ist. Denn wo niemand psychische und emotionale Belastungen verbalisiert, können sie auch nicht untersucht werden, vom Einfluss äußerer Faktoren wie externen Hilfestellungen ganz zu schweigen. Dr. Andreas Müller-Cyran erinnert sich, dass selbst die Gründungszeit des KIT-München noch „eine Zeit war, in der Psychotraumatologie in Deutschland bestenfalls ganz am Anfang stand, es gab ganz wenig Forschung, aber dafür viele Widerstände bei dem Thema“. Seit diesbezüglich ein Umdenken in Gang gesetzt wurde, tut sich ein breites Forschungsfeld auf – auf dem es noch immer erstaunlich viel Brachland gibt. 48


Psychosoziale Akuthilfe als Bestandteil der staatlichen Regelversorgung Diese Forschungslücken sind nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht relevant, sondern stellen Institutionen wie das KIT-München und seinen Träger, den ASB München/Oberbayern e. V., vor ganz praktische Probleme. Salopp formuliert: Da PSAH (noch) kein Bestandteil der staatlichen Regelversorgung ist, bezahlt sie auch kaum jemand. Ohne Spenden und kommunale Zuschüsse ist selbst ausschließlich ehrenamtliches Engagement der Einsatzkräfte nicht refinanzierbar.

Die Auswertung von Einsatzprotokollen ist grundlegender Bestandteil der Wirksamkeitsstudie.

Petra Meßner findet das schwer nachvollziehbar. „Es ist ein Unding, dass das immer noch nicht finanziert wird“, sagt sie, „solche frühen Interventionen tragen dazu bei, dass Menschen besser ins normale Leben zurückfinden und eben keinen psychischen Schaden davontragen.“ Vera Angerer, die beim KIT-München den Ausbildungsbereich verantwortete, berichtet von einer Bewerberin, die hauptberuflich mit traumatisierten Menschen arbeitet. Sie habe ihren Wunsch, sich im KIT zu engagieren, damit begründet, „dass sie sonst immer erst komme, wenn das Trauma schon da ist, und es schön fände, wenn sie mal dabei helfen könnte, es zu verhindern“. Auch Sebastian Hoppe fällt „kein guter Grund“ dafür ein, dass es undenk49


bar ist, den medizinischen Rettungsdienst aus der Regelversorgung wegzudenken, aber noch immer hingenommen wird, dass PSAH eine anerkannte, aber optionale Ergänzung darstellt. „Dass sich eine Akutsituation nicht nur körperlich, sondern auch psychisch auswirkt, ist in der Gesellschaft immer zu kurz gekommen – und das wirkt nach“, glaubt er. Diesen Rückstand hole man in allen Bereichen von öffentlicher Präsenz bis Forschungsstand „nur langsam auf – aber wir kämpfen darum“. Ganz konkret forscht Hoppe mit einer seit 2019 laufenden Studie an der LMU München zur Wirksamkeit der PSAH. Neben Qualitätssicherung und der fachlichen Weiterentwicklung des Bereiches Krisenintervention gehe es bei seiner Forschung auch darum, „endlich und hoffentlich wissenschaftlich zeigen zu können, dass es etwas bringt, was wir da machen“. Je klarer sich ein Zusammenhang zwischen PSAH und besserer Trauerbewältigung respektive der Prävention von Traumafolgestörungen zeigen lasse, „umso eher können wir auch politisch Druck ausüben und sagen: Macht das zu einer Regelleistung und stellt dafür Mittel zur Verfügung!“. Andreas Müller-Cyran pflichtet ihm bei: „Wir haben in Bayern seit 150 Jahren Feuerwehr. Seit 70 Jahren Rettungsdienst. Seit über 25 Jahren Krisenintervention. Es geht im Kern um die Frage, ob ein psychosozialer Notfall auch als solcher anerkannt wird - und damit Bestandteil der Gefahrenabwehr ist. De facto ist er das, aber es gibt weder entsprechende Gesetze noch Finanzierung.“ „PSAH ist schon sinnvoll, wenn es den betroffenen Personen besser geht“ Ausgangspunkt der Wirksamkeitsstudie ist die Situation, in der die betroffenen Personen mit einem Erlebnis konfrontiert sind, das ihre Alltagserfahrungen übersteigt, weil es dramatischer oder gefährlicher als alles ist, was sie normalerweise erleben. In dieser Situation wird das Alarmzentrum im Gehirn in Einsatzbereitschaft versetzt. Da die Eindrücke nicht zugeordnet werden können, bleiben sie präsent. In extrem schweren Fällen ist dieser Zustand von Dauer und mündet in eine Folgestörung. Das Vermeiden von Traumafolgestörungen steht zwar nur in einer Minderheit der KIT-Einsätze im Vordergrund, ist für die Betroffenen und ihre Gesundheit dann aber so schwerwiegend, dass ein genauerer Blick auf die psychologischen Grundlagen lohnt.

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Interview

„Es ist wichtig zu verstehen, dass es sich dabei um ernsthafte Erkrankungen handelt.“ Was passiert im menschlichen Gehirn, wenn aus einem belastenden Erlebnis eine psychische Erkrankung entsteht? Sebastian Hoppe: Wenn es nicht möglich ist, ein Erlebnis ins normale Gedächtnis zu integrieren, kann das dazu führen, dass das Angstzentrum im Gehirn – die Amygdala – dauerhaft in einer Art Alarmmodus bleibt und die angstbesetzten Erinnerungen weiter aktiviert bleiben. Sebastian Hoppe ist Doktorand der Es kommt dann zu einem Effekt, Psychologie und kam 2019 im Rahmen den man vom Training einer Sportseiner Dissertation zum KIT-München. Er art oder häufigen Üben eines leitet beim ASB München/Oberbayern den Musikinstruments kennt: Die neuBereich PSNV und forscht am Lehrstuhl für Klinische Psychologie am Department Psyronalen Verschaltungen, die eine chologie der Ludwig-Maximilians-Universihäufig ausgeführte Bewegung tät München zu Fragen der Wirksamkeit von repräsentieren, sind irgendwann Psychosozialen Akuthilfen (PSAH). stärker ausgeprägt. Sie werden sozusagen zu kleinen Autobahnen, weil viele Daten fließen. Wenn man länger nicht mehr übt, verkümmern diese Datenautobahnen nach und nach wieder zu Feldwegen.

Dasselbe passiert mit angstbesetzten Gedanken, über die jemand viel grübelt oder die durch äußere Eindrücke immer wieder aktiviert werden: Die Repräsentationen im Gehirn sind dann verglichen mit ihrer realen Bedeutung überrepräsentiert. 51


Wozu führt das bei betroffenen Personen? Hoppe: Im schlimmsten Fall zieht das eine Traumafolgestörung nach sich. Eine davon ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), man kann aber auch eine Depression oder eine Angststörung entwickeln. Ein typisches Symptom der PTBS sind beispielsweise plötzlich über die Person hereinbrechende Erinnerungen, die nicht kontrolliert werden können, weil sie von äußeren Reizen ausgelöst werden. Es liegt auf der Hand, dass Betroffene die Konfrontation mit solchen Erinnerungen zu vermeiden versuchen – ein weiteres sogenanntes Leitsymptom der PTBS. Das schränkt Personen in ihrem Alltag und Wohlbefinden massiv ein. Es ist wichtig zu verstehen, dass es sich dabei um ernsthafte Erkrankungen handelt. Tatsächlich lassen sich entsprechende Veränderungen im Gehirn auch in Hirn-Scans abbilden. Welchen Einfluss hat eine frühe Krisenintervention auf diese möglichen Entwicklungen? Hoppe: Zunächst einmal ist PSAH aus unserer Sicht nicht nur unter dem Aspekt potentieller Traumata wichtig und wirksam. Wir betrachten sie bereits dann als sinnvoll, wenn es den betroffenen Personen generell besser geht. Dabei geht es um Themen jenseits von krank und gesund. Das heißt: Wie sehr ist eine Person wieder in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen, ihr Familienleben zu gestalten, ihrer Arbeit nachzugehen? Im Kontext der Studie, die wir in Kooperation mit der LMU München durchführen, hatten wir mehrfach die Rückmeldung, dass Betroffene einfach froh darüber und auch dankbar dafür waren, in der akuten Situation nicht allein geblieben zu sein. Unabhängig davon, ob das, was wir da machen, Wochen später noch einen messbaren Effekt hat, hat es einen Wert, Menschen in solchen dunklen Stunden nicht sich selbst zu überlassen. Gibt es darüber hinaus denn einen messbaren Effekt? Hoppe: Was wir in unseren Einsätzen machen, hat viel mit dem aktuellen Forschungsstand zur Vorbeugung von Traumata zu tun. Wir können das, was passiert ist, ja nicht ungeschehen oder harmloser machen. Aber wir können die Bewältigungsmöglichkeiten wirksam stärken. Allerdings ist bis heute wissenschaftlich nicht belegt, dass PSAH direkt Traumafolgestörungen vorbeugt. Um einen Beitrag zum Schließen dieser Forschungslücken zu leisten, führen wir die Studie durch. 52


Warum gibt es in diesem Feld so wenig belastbare Daten? Hoppe: PSAH wissenschaftlich zu untersuchen, ist wahnsinnig schwierig. Obwohl es sie mittlerweile seit etwa 30 Jahren gibt, existieren kaum Studien, die sie fundiert und mit verwertbaren Ergebnissen untersucht haben, weil sie Forschende vor große methodische Probleme stellt. So gibt es kaum ethisch vertretbare und gleichzeitig praktikable Möglichkeiten, an eine Kontrollgruppe zu kommen. Denn dafür müsste man Menschen, denen etwas Schlimmes passiert ist, ja ganz bewusst Unterstützung vorenthalten, nur um einen Vergleich zu haben. Und weil wir glauben, dass PSAH einen Effekt hat, wäre das ethisch verwerflich. Zum anderen lässt sich keine Beobachtung identisch reproduzieren, weil die Einsätze nicht unter Laborbedingungen stattfinden, sondern echt sind. Wir arbeiten immer in der realen Notsituation. Genauso wäre es ethisch kritisch, unser Vorgehen in der Betreuung bewusst abzuändern, nur um zu Forschungszwecken mal einen anderen Ansatz auszuprobieren. Wie lässt sich unter diesen Bedingungen überhaupt ein Zusammenhang nachweisen? Hoppe: Das ist die große Aufgabe. Denn es ist schwer nachzuweisen, dass das Ausbleiben eines Symptoms, das sich bei einer Person ein halbes Jahr später nicht zeigt, wirklich auf unsere Betreuung zurückgeht. Und es gibt einfach eine Vielzahl an Störfaktoren in Form von zusätzlichen Einflüssen. Deshalb versuchen wir in der Studie, über eine möglichst große Anzahl von Teilnehmenden auf immer wiederkehrende Zusammenhänge zu schließen. Was versprechen Sie sich von den Ergebnissen? Hoppe: In letzter Konsequenz ein Screening-Instrument, das bereits wenige Wochen nach dem belastenden Ereignis Rückschlüsse darüber zulässt, wie es der betroffenen Person nach einem halben Jahr gehen wird. Denn dann könnte man die Personen, die sehr wahrscheinlich Unterstützung benötigen, früh identifizieren, um sie zielgenau bestimmten Beratungsstellen zuzuführen. Wir lassen zwar fast immer Flyer da und empfehlen Anlaufstellen – aber wir wissen, dass viele Betroffene niemals im System der psychosozialen Regelversorgung ankommen. In der Akutsituation ist oftmals schwer absehbar, wie es Betroffenen einige Wochen später geht und was genau sie dann brauchen. 53


Kernfrage der Studie ist, ob betreute Personen die vom KIT intendierten Hilfestellungen tatsächlich als hilfreich empfunden haben und ob das für alle Maßnahmen gleichermaßen gilt oder die Wirksamkeit variiert. Um das herauszufinden, protokollieren die teilnehmenden Einsatzkräfte des KIT-München seit Sommer 2020 in einem eigens zu diesem Zweck erweiterten Einsatzprotokoll nach dem Einsatz den Zustand der Studienteilnehmer*innen, bei denen es sich ausschließlich um regulär durch das KITMünchen betreute Personen handelt. Die betreuten Personen, die sich bereiterklären, an der Studie teilzunehmen, werden erst zwei bis sechs Wochen sowie sechs Monate nach dem Einsatz gebeten, jeweils in einem schriftlichen Fragebogen Auskunft über ihre psychische und emotionale Verfassung zu geben. Ziel ist es, auf diesem Weg mindestens 200 vollständige Datensätze zu erheben. Diese Erhebung ist nur möglich, da das KIT-München 365 Tage pro Jahr 24 Stunden im Dienst ist. Die Notwendigkeit einer relativ hohen Teilnehmerzahl ergibt sich in erster Linie aus der sehr heterogenen Art der Einsätze. Viele Situationen sind schlicht nicht vergleichbar. Um trotz dieses Störfaktors überhaupt auf wiederkehrende Muster zu stoßen, benötigt man deutlich mehr Daten als bei einem Studien-Design unter Laborbedingungen. Einige der bisherigen Forschungsanläufe zum Thema scheiterten an einer zu geringen Teilnehmerzahl. Aufbau und Ziele der Studie Ausgehend vom Einsatzprotokoll der Einsatzkräfte und der Selbstauskunft der Proband*innen sollen Zusammenhänge zwischen bestimmten ergriffenen Maßnahmen und einer Verbesserung des Wohlbefindens respektive dem Ausbleiben einer Folgeerkrankung erkannt und dokumentiert werden. Diese Zusammenhänge wiederum erlauben schließlich Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der PSAH-Maßnahmen insgesamt. Hoppe betont, dass sich die Studie nicht auf Trauma-Prävention beschränke: „Wir fragen bewusst nicht nur Symptome aus dem Spektrum der Traumafolgestörungen ab, sondern auch – unterhalb der Schwelle der Pathologie – wie es der Person insgesamt geht und wie sie sich fühlt.“ Im ersten Fragebogen geht es unter anderem darum, welche Maßnahmen aus Sicht der Teilnehmer*in stattgefunden haben und als wie hilfreich sie erlebt wurden. Es schließt sich eine Reihe bewährter Fragebögen zur Einschätzung der persönlichen Belastung sowie zu Symptomen u.a. aus den 54


Feldern Depression und Posttraumatische Belastungsstörung an. Ebenfalls erfragt werden Merkmale zu den Themen Sucht, Schlaf, Wohlbefinden und allgemeines Funktionsniveau, d.h. zur generellen Bewältigung des Alltags. Der zweite Fragebogen ein halbes Jahr nach dem Einsatz ist kürzer gehalten; auch er enthält eine Abfrage des aktuellen Befindens und Rückmeldungen zur Studienteilnahme. Sinn der Abfrage von Maßnahmen und Befinden aus der Perspektive der Betroffenen und der Einsatzkräfte ist das Aufspüren kausaler Zusammenhänge. „Wir kreuzen die Maßnahmen an, die durchgeführt oder nicht durchgeführt werden. Und dann kann man schauen, ob sich zum Beispiel Symptome aus dem Spektrum der Depression bei Teilnehmenden häufen, bei denen eine bestimmte Maßnahme nicht durchgeführt wurde“, sagt Hoppe. Solche Erkenntnisse können im Idealfall zum einen die Sinnhaftigkeit der Betreuung belegen. Gleichzeitig helfen sie dem KIT-München aber ganz praktisch in Bezug auf künftige Einsätze dabei, Maßnahmen noch zielgenauer einzusetzen. Bei bestimmten Meldebildern kann dann besonderer Wert auf die Hilfestellungen gelegt werden, die sich als hilfreich erwiesen haben oder deren Unterlassen mehrfach im Zusammenhang mit einer schlechten Verfassung der betreuten Person auftrat.

Die Psychosoziale Akuthilfe kann auch direkt in den Einsatzfahrzeugen erfolgen. 55


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Aussagen von Betroffenen „Was haben Sie an der KIT-Betreuung als besonders hilfreich erlebt?“

„Es war sehr gut, dass jemand da war, um aufkommende Fragen [...] stellen [zu können]. Auch dass ich mich von meinem verstorbenen Bruder noch vor Ort verabschieden konnte, war mir sehr wichtig. [...]“

„Dass einfach jemand da war, mit dem man sprechen konnte und der nicht beteiligt war an der Situation. Das gab uns die Möglichkeit, Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen.“

„Das war ein Herr vom ASB, den mir die Notärzte nach dem Ereignis geschickt haben. Dieser war sehr nett und hat sich für mich Zeit genommen, um mich etwas zu beruhigen und mir einen Beistand zu leisten. Das war sehr gut! Er hat mir in dieser Situation sehr positiv zugesprochen.“

„Die bloße Anwesenheit der KIT-Betreuer hat bereits geholfen. Man war in diesem schlimmen Moment der Todesnachricht nicht allein. Der Tod meine[r] [Familie] war ein Riesenschock und die tragischen Umstände haben auch Menschen, die sie gar nicht kannten, zutiefst erschüttert. [...] Als besonders tröstlich habe ich die Umarmung empfunden, die mir eine [Einsatzkraft] geschenkt hat. Ich durfte mich einfach ausweinen, das tat gut. Sehr hilfreich waren auch die Notfallnummern, welche die Betreuer uns hinterlassen haben. Auch waren sie sehr darauf bedacht, mir verständlich mitzuteilen, wo mir ausgehändigte Papiere hingelegt werden, damit ich sie in meinem Schockzustand auch finde, wenn ich sie brauche.“

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„Die sachliche Informationsweitergabe über den weiteren Ablauf sowie die schlichte Möglichkeit, im Einsatzfahrzeug ein wenig zur Ruhe zu kommen.“

„Dass der KIT-Mitarbeiter zwar mit mir über das Ereignis geredet und mir meine körperlichen Reaktionen erklärt hat, jedoch auch versucht hat, mich auf andere Gedanken zu bringen [...]“

„Ich wusste, wenn ich mit ihnen über etwas sprechen möchte, kann ich es, muss es aber nicht. Durch die Anwesenheit musste ich mich nicht um andere kümmern, sondern hatte genug Raum für meine eigene Trauer.“

„Dass man mit einer Person, zu der man keine private Beziehung hat, über das Erlebte sehr offen und neutral sprechen kann. Es wird zugehört und es gab in meinen Augen sehr wertvolle und auch hilfreiche Tipps, wie man mit dem Erlebten umgehen kann [...].“

„Eine solche Situation überfordert sehr stark und durch das Gespräch mit dem KIT kann man zumindest das Erlebte in gewisser Weise einordnen und bekommt eine Idee und Ratschläge an die Hand, wie man damit zurechtkommen kann.“

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„[...] Eine Person, die nach dem ersten Schock Details zur Todesursache nennen konnte und mir für meine Fragen ausreichend Zeit gelassen hat.“

„Der Betreuer war ruhig inmitten der Hektik der vielen Leute (Ärzte, Polizei...).“

„Der Betreuer gab mir das Gefühl, Anteil an meiner Situation zu nehmen und strahlte Sicherheit und Ruhe aus. Er nahm sich sehr viel Zeit und half mir bei der Entscheidungsfindung bezüglich der Benachrichtigung naher Verwandter und bewahrte mich vor einer Fehlentscheidung. Er nahm mir meine Schuldgefühle, dass ich meine Mutter nicht retten konnte bzw. zum Todeszeitpunkt nicht bei ihr war.“

„Der Betreuer hat sich viel Zeit für mich genommen, um mein Befinden zu verbessern. Das Gespräch war einfühlsam und fürsorglich. Es wurden mir durch das Gespräch und die überreichten Unterlagen Hilfestellungen an die Hand gegeben, um mit der belastenden Situation umgehen zu können. Durch die Betreuung konnte ich den Tod meines Freundes nachhaltig besser verarbeiten.“

„Der KIT-Betreuer hat sich sehr um mich gekümmert und mich ermutigt zu weinen und meiner tiefen Erschütterung freien Lauf zu lassen.“

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„KIT hat uns Halt und Klarheit gegeben und uns die Organisation und Kommunikation mit dem Krankenhaus abgenommen. Tausend Dank dafür!“

„Ich wusste nicht, dass das KIT auch bei einem „normalen“ Todesfall kommt. Die Notärztin machte mich darauf aufmerksam und hat es organisiert. Sie hat mir angeraten, dem zuzustimmen, gerade auch wegen meiner Tochter. Ansonsten wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen bzw. hätte gedacht „ist doch nicht notwendig“. Herzlichen Dank nochmals für die Hilfe.“

„Hilfsangebote, wenn es mir schlecht geht, ein Brief am nächsten Tag im Briefkasten mit genau der richtigen Anlaufstelle als Empfehlung.“

Betreuung einer U-Bahn-Fahrerin nach einem tödlichen Unfall im Gleis 61


GRENZENLOS EINSATZBEREIT

Großschadenslagen und Auslandseinsätze des KITMünchen Einsätze im Ausland stellen spektakuläre Ausnahmen in der Arbeit des KITMünchen dar. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York wurde das KIT-München erstmals vom Auswärtigen Amt für die Betreuung deutscher Staatsbürger*innen angefordert. Seither sind zahlreiche weitere Einsätze hinzugekommen. Ihnen wird deutlich mehr öffentliche Beachtung zuteil als der täglichen Arbeit in München, weil das zugrundeliegende Ereignis oft sehr viele Menschen gleichzeitig betrifft oder zumindest betroffen macht. Es erlangt dadurch über einen gewissen Zeitraum mediale Dauerpräsenz. Die Diskrepanz zwischen KIT-Alltag und der Arbeit im Ausland sowie bei Großschadenslagen innerhalb Deutschlands bei Naturkatastrophen oder Terror wirkt daher groß. Dabei handelt es sich allerdings um eine Fehleinschätzung, wie Hermann Saur betont. Der langjährige KIT-Mitarbeiter war bei mehreren Einsätzen im Ausland vor Ort und begleitete Angehörige von Betroffenen beim Einstieg in den Verarbeitungsprozess. Die deutlich höhere Aufmerksamkeit erzeugen bei schweren Unglücken oder Terrorlagen seiner Ansicht nach vorrangig zwei Faktoren: die hohe Anzahl der Opfer und die Nähe zur eigenen Lebenswirklichkeit vieler Menschen. „Wenn man wie im Fall des Germanwings-Absturzes im Radio hört, dass in Südfrankreich 150 Menschen gegen eine Felswand gesteuert wurden, kommt das der eigenen Lebenswirklichkeit unerträglich nah. Fast jede*r saß schon mal in einem Flugzeug. Neben Empathie stellt sich dadurch unweigerlich der Gedanke ein: Das hätte mir auch passieren können.“ Ein weiterer Punkt, der in der öffentlichen Wahrnehmung viel Raum einnimmt, ergibt sich aus dem Weg zum Einsatzort und dem schnellen Zusammenziehen eines größeren Kontingents an Einsatzkräften, das weit 62


über den regulären Dienstplan hinausgeht. Zwar stellen sich den Ehrenamtlichen dabei kaum logistische Hürden in den Weg, weil sie meist im Auftrag der Regierung reisen und entsprechend bevorzugt behandelt werden. Aber es kommt eben vor, dass man wie Saur vor seinem Einsatz in Südfrankreich aus dem Urlaub abgeholt und mit Blaulicht über die Autobahn zum Münchner Flughafen gebracht wird. „Dieses Drumherum klingt dann wahnsinnig spektakulär, aber spektakulär sind bei solchen Einsätzen nur die äußeren Begleitumstände“, sagt er, „unsere eigentliche Arbeit ist dann dieselbe wie nachts um halb zwei in Moosach oder Großhadern.“

11. September 2001- Terroranschlag in New York: Das KIT-München wird erstmalig vom Auswärtigen Amt zur Betreuung der betroffenen Deutschen angefordert.

„Wir haben dort emotionale Momente erlebt, die an die Nieren gingen“ Was das KIT-München beim Eintreffen an einem Einsatzort genau erwartet, ist bei dynamischen Lagen oder bei spärlicher Informationslage wie nach dem Seebeben im Indischen Ozean 2004 nicht immer vorhersehbar. Als das Team nach dem verheerenden Tsunami nach Thailand flog, gingen die Eindrücke auch deshalb nicht spurlos an ihm vorbei. Beim Abflug aus Deutschland war von zwölf deutschen Opfern gesprochen worden - tatsächlich waren es über 600. 63


„Das sind Einsätze, bei denen uns die Heftigkeit des Ereignisses überrascht“, sagt Dr. Andreas Müller-Cyran. Ähnliches berichtet Dr. Dominik Hinzmann: Er leitete das KIT 2015 bei der Betreuung der Angehörigen nach dem Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen. Trotz jahrelanger Erfahrung mit Ausnahmesituationen „haben wir dort emotionale Momente erlebt, die an die Nieren gingen“. Das KIT leistet bei Auslandseinsätzen keine humanitäre Hilfe, sondern kümmert sich explizit um deutsche Staatsbürger*innen. Diese Grenze sei notwendig, manchmal aber schwer einzuhalten, gibt Müller-Cyran zu. In Thailand sei es angesichts der immensen Zerstörung hilfreich gewesen, zu sehen, wie parallel die internationale Hilfe anlief. „Wir konnten uns dadurch besser auf unseren Auftrag konzentrieren“ sagt er, „denn Leute zurückzulassen, von denen man den Eindruck hat, dass sie sich selbst überlassen bleiben, ist kein gutes Gefühl und widerspricht im Grunde der Leitidee.“ Eine persönliche Gefährdungslage wird für das KIT-München hingegen sowohl durch die reisebedingte zeitliche Verzögerung als auch die Einschätzung des Auswärtigen Amtes weitestgehend ausgeschlossen. Auch das ist aber nicht immer mit absoluter Sicherheit möglich; nach dem Erdbeben im japanischen Fukushima waren die Einsatzkräfte beispielsweise den Nachbeben ausgesetzt. Eine Ausnahmesituation in der Ausnahmesituation war diesbezüglich der rechtsextremistisch motivierte Anschlag im Münchner OEZ im Jahr 2016. Hier entfiel die zeitliche Verzögerung, das KIT musste in einer unklaren und damit unsicheren Situation in enger Abstimmung mit der Polizei operieren.

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Einblicke in 20 Jahre Krisenintervention auf der ganzen Welt Im Folgenden sollen ausgewählte Einsatzschilderungen aus der Perspektive aktueller und ehemaliger Einsatzkräfte einen Einblick in die besonderen Arbeitsbedingungen bei den Auslandsaktivitäten des KIT-München in den vergangenen 20 Jahren geben. 2001 / New York, USA / Terror Es gibt Ereignisse, die auch für nicht Betroffene so einschneidend sind, dass sie sich ein Leben lang daran erinnern, wo sie sich zum Zeitpunkt aufhielten, als das Unfassbare geschah. Viele Menschen wissen deshalb auch nach 20 Jahren noch genau, wo sie am 11. September 2001 erfuhren, dass Terroristen im Luftraum über den Vereinigten Staaten vier Passagierflugzeuge entführt und als Waffe gegen Zivilisten missbraucht hatten. Dr. Andreas Müller-Cyran weiß darüber hinaus auch noch, wo er eine Woche später war: im Flugzeug. Nach New York. Er flog mit drei weiteren ehrenamtlichen KIT-Helfern im Auftrag des Auswärtigen Amtes in die USA, um von den Anschlägen betroffenen deutschen Staatsbürger*innen beizustehen. Die Zeit bis zur Abreise hat Müller-Cyran als „eher stressig“ in Erinnerung. „Sie diente einerseits der Vorbereitung auf das, was uns erwartete. Andererseits wussten wir ja aber, dass die Menschen, für die wir uns auf den Weg machten, dringend Unterstützung brauchten“, erinnert er sich. Für Telefonate, Dokumentation und einzelne Gespräche mit Betroffenen stellte das deutsche Generalkonsulat in New York einen Raum zur Verfügung. Ein Beamter des Polizeipräsidiums München vermittelte den Kontakt zu einem deutschstämmigen New Yorker Polizisten in leitender Funktion. „Dieser Beamte nahm uns mit offenen Armen auf und ermöglichte uns den Zugang zu einer Einrichtung, in der die vermissenden und überlebenden Menschen von der Polizei und dem FBI befragt und erfasst wurden“, erinnert sich Müller-Cyran. Die Einrichtung war in einer großen Messehalle in Manhattan untergebracht. Dort fanden nicht nur die polizeilichen Befragungen statt, es gab auch ein breites psychosoziales Betreuungsangebot. „So passten wir perfekt dazu und hatten einen guten Zugang zu Überlebenden, Vermissenden und Hinterbliebenen aus Deutschland.“ 65


Der Einsatz in New York war nicht nur der erste dieser Art für das KIT-München, er lieferte auch wesentliche Erkenntnisse für alle weiteren. „Eine unverzichtbare Voraussetzung für Auslandseinsätze liegt darin, dass man seine Familie und die Arbeit sehr schnell für einen zunächst schwer eingrenzbaren Zeitraum zurücklassen kann“, sagt Müller-Cyran. Gerade für Familien sei es nicht immer leicht, die Partnerinnen oder Partner in einen Einsatz ziehen zu lassen, „der in den Medien im Zusammenhang mit einem großen Schrecken präsent ist“. 2003 / Siófok, Ungarn / Lyon, Frankreich / Reisebus-Unfälle Im Mai 2003 erschütterten die deutsche Öffentlichkeit zwei schwere Busunglücke innerhalb von nicht einmal zwei Wochen. Bei den Unfällen im ungarischen Siófok und in Lyon (Frankreich) verloren insgesamt 59 Urlauber*innen und zwei Fahrer ihr Leben. Das KIT-München wurde vom Auswärtigen Amt mit der Betreuung der Angehörigen vor Ort beauftragt. In Ungarn war ein Bus mit deutschen Tagesausflügler*innen an einem unbeschrankten Bahnübergang von einem Schnellzug erfasst worden; 33 Menschen starben. Das fünfköpfige KIT-Team traf damals noch vor den Angehörigen am Einsatzort ein. Den Transfer der Angehörigen hatte der Busunternehmer organisiert, der selbst stark belastet war. Auch für ihn war die Situation zunächst nicht greifbar, zudem lastete eine unglaubliche Verantwortung für etwas auf ihm, von dem er sich kein Bild machen konnte, weil er nicht persönlich dabei gewesen war. In Situationen wie schweren Verkehrsunfällen befinden sich auch die Hinterbliebenen eines mutmaßlichen Unfallverursachers oder ihre Arbeitgeber in einer psychischen Ausnahmesituation. Für sie alle war es von Bedeutung, dass in den Morgenstunden des Folgetages im Rahmen polizeilicher Ermittlungen versucht wurde, den Unfallhergang zu rekonstruieren, um festzustellen, ob der Fahrer durch die tief stehende Sonne womöglich eine schlechte Sicht auf die Warnleuchten gehabt hatte. In der öffentlichen und medialen Nachbearbeitung passiert es oft, dass eine mögliche Schuld des Unfallverursachers auf dessen Hinterbliebene übertragen wird, obwohl diese wie alle anderen in erster Linie einen Verlust erlitten haben - und trauern. Bei einem Einsatz der psychosozialen Notfallversorgung wird hingegen kein Unterschied zwischen den Hinterbliebenen gemacht. 66


Mithilfe der deutschen Botschaft und eines deutschen ortsansässigen Pfarrers wurde ein Gedenkgottesdienst organisiert, damit sich die Angehörigen verabschieden konnten. Als besonders beeindruckend blieb dem KIT-Team die Anteilnahme der Lokalbevölkerung in Erinnerung. Nur wenige Tage nach der Rückkehr nach Deutschland machte sich das KIT-München - diesmal mit einem vier Personen starken Einsatz-Team auf den Weg nach Frankreich, wo ein Reisebus aus Norddeutschland in den frühen Morgenstunden nördlich von Lyon die Leitplanke der Autobahn durchbrochen hatte und eine Böschung hinabgestürzt war. Die Identifizierung der Opfer durch die Angehörigen war in vielen Fällen lediglich anhand von Schmuck und persönlichen Gegenständen möglich. Auch hier bestand die Aufgabe des KIT-München vorrangig darin, den Angehörigen beim Realisieren des Geschehenen zu helfen.

2003 – Busunfall in Ungarn: KIT-Mitarbeiter*innen betreuen die Angehörigen vor Ort. 67


2004 / Phuket, Thailand / Naturkatastrophe; Seebeben mit Tsunami im Indischen Ozean Am Morgen des 26. Dezember 2004 bebte unter dem Indischen Ozean die Erde. Dadurch wurde eine Reihe meterhoher Flutwellen ausgelöst, die mit verheerender Gewalt auf die Küsten der Anrainerstaaten trafen. Die Tsunamis forderten fast 250.000 Todesopfer und zerstörten in den stark betroffenen Küstenregionen Indonesiens, Thailands, Sri Lankas und Indiens weite Teile der Infrastruktur. In Thailand wurden beliebte Urlaubsregionen überspült, weshalb es viele ausländische Touristen unter den Opfern gab; mehr als 650 deutsche Reisende verloren dort ihr Leben.

Dr. Andreas Müller-Cyran umgeben von weiteren Helfern beim Katastropheneinsatz nach dem Tsunami in Thailand

Andreas Müller-Cyran war Teil des KIT-Teams, das aus einem strengen Winter mit zweistelligen Minusgraden bei der Ankunft im Katastrophengebiet nicht nur mit einem Temperatursprung von 50 Grad Celsius, sondern auch mit einer unerwartet dramatischen Situation konfrontiert war. „Unsere letzten Informationen des Auswärtigen Amtes gingen noch von zwölf deutschen Staatsangehörigen unter den Opfern aus, weil die Informationen sehr spärlich waren. Wir wurden somit von der Heftigkeit des Ereignisses bei unserer Ankunft auf Phuket überrascht“, sagt Müller-Cyran. Mit der originären Aufgabe des KIT-München, „mit Trauernden einen Weg zu finden, um mit dem, was sie erlebt und erlitten haben, umgehen zu 68


können“, hatte der knapp zweiwöchige Einsatz aufgrund der chaotischen Lage vor Ort wenig zu tun. „Es standen die Überlebenden im Fokus, die voneinander getrennt worden waren, Angehörige vermissten oder verletzt in Krankenhäusern lagen“, erinnert sich Müller-Cyran. „Wir haben alles gemacht, was für Deutsche, die vor Ort waren, relevant war.“ Vom Verletzten bis zu den Angehörigen, die sich auf den Weg gemacht hatten, um Verwandte zu suchen – oder Abschied von ihnen zu nehmen. Das KIT-Team flog in Hubschraubern der US-Armee an der Küste entlang, um deutsche Überlebende mitzunehmen und in Flugzeuge nach Deutschland zu setzen. Es suchte zudem Krankenhäuser und Ambulatorien nach Urlauber*innen ab. Vor allem in den ersten Tagen habe es „ganz wenig Schlaf“ gegeben, „es war insgesamt ein sehr massiver Einsatz“. Es sei schwer gefallen, die Grenze zur humanitären Hilfe aufrechtzuerhalten: Deutsche Staatsangehörige auszufliegen und gleichzeitig die Situation der einheimischen Bevölkerung zu sehen, sei „ein Spannungsfeld“ gewesen, das „kein gutes Gefühl“ hinterließ. Der Einsatz hing allen, die vor Ort waren, lange nach und war noch auf Monate nicht beendet. Der Zusammenbruch der Infrastruktur erschwerte die Suche nach und die Identifikation von Opfern. „Wir haben deshalb lediglich an das nachfolgende Team übergeben“, sagt Müller-Cyran, der selbst für mehrere Monate nach Thailand zurückkehrte, um das Bundeskriminalamt zu unterstützen. 2012 / Giglio, Italien / Schiffsunglück Der Himmel war blau, die italienische Insel Giglio lag in der Sonne wie man sie aus Reiseprospekten kennt. „Und dann sieht man davor ein 300 Meter langes Wrack, von dem man weiß: Darin sind Menschen gestorben - das war völlig surreal.“ So beschreibt Hermann Saur seinen ersten Eindruck an der Havarie-Stelle des Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia im Januar 2012. An Bord des Schiffes befanden sich zum Unglückszeitpunkt über 4000 Menschen, 32 verloren ihr Leben - darunter 12 Deutsche. Das KIT-München erhielt einige Zeit nach dem Unglück den Auftrag, sich um Personen zu kümmern, die im Zusammenhang mit der Havarie und der teils chaotischen Evakuierung traumatisiert worden waren. Saur gehörte auf seinem ersten Auslandseinsatz für das KIT-München zu einem dreiköpfigen Team, das Angehörige und Überlebende auf ihre Reise zum Ursprung ihrer Traumatisierung nach Italien begleitete. 69


Die Überlebenden der Katastrophe, bei der das Schiff nach der Kollision mit einem küstennahen Felsen Leck geschlagen und zur Seite gekippt war, waren noch in der Unglücksnacht eilig aufs italienische Festland oder direkt in die Heimat gebracht worden. „Aber die haben es zu Hause nicht ausgehalten, weil das Erlebnis so belastend und das Weggehen so schnell war, dass etwas fehlte, um mit dem Albtraum abzuschließen“, sagt Saur, und fügt hinzu: „Einige dieser Menschen mussten noch einmal an den Ort zurück.“ Dasselbe galt für Angehörige der Opfer, die eine Todesnachricht erhielten, sie aber „nicht begreifen“ konnten, wie es Saur formuliert. Diese Reaktion sei sehr typisch, wenn Angehörige oder Freunde unerwartet und in großer Entfernung stürben. „Auch diese Menschen hatten deshalb das Bedürfnis, an den Ort des Unglücks zu reisen, um den Verlust zu realisieren.“

Ein dreiköpfiges KIT-Team begleitete Angehörige und Überlebende auf ihrer Reise zum Unglücksort, um das Unfassbare fassbar zu machen.

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2015 / Alpen, Südfrankreich / Flugzeugabsturz durch erweiterten Suizid Am 24. März kollidierte ein deutsches Passagierflugzeug der LufthansaTochter Germanwings in den französischen Alpen mit einem Bergmassiv. Für keine der 150 Personen an Bord bestand eine Überlebenschance. Unter den Passagieren befanden sich Urlauber*innen, Dienstreisende und eine Gruppe deutscher Jugendlicher auf dem Rückflug von einem Schüleraustausch. Laut den abgeschlossenen Ermittlungen hatte der Co-Pilot das Flugzeug in der Absicht eines erweiterten Suizids gegen die Felswand gesteuert.

2015 - Flugzeugabsturz in Südfrankreich: Das Tal, in dem sich der Unfall ereignete, war für die Betroffenen nicht zugänglich.

Der Absturz löste in Europa Entsetzen und eine Reihe von Sicherheitsdebatten aus. „Die hohe Opferzahl und die Tatsache, dass das Flugzeug ein normales Verkehrsmittel ist, erhöhte den Grad der Betroffenheit“, sagt Hermann Saur, der damals mit einem vierköpfigen Team des KIT-München vor Ort war. Die Rahmenbedingungen des Einsatzes stellten sich als herausfordernd dar, weil das Tal, in dem sich der Unfall ereignet hatte, für die Angehörigen – anders als zunächst kommuniziert – nicht zugänglich war. Die Möglichkeit des realen Begreifens war somit nicht gegeben, die Angehörigen mussten zudem darüber informiert werden, dass eine Begehung der Absturzstelle nicht möglich war. „Wir mussten und wollten deshalb Ersatzorte und Ersatzhandlungen anbieten, damit sich die Men71


schen verabschieden konnten“, sagt Saur. Ein Patentrezept gibt es dafür nicht. In Frankreich half etwa das gemeinsame Aufsuchen eines kurzfristig errichteten Gedenksteins. Das Team regte zudem an, dass die Angehörigen einen Stein aus dem Gebirge als Erinnerung an die Verstorbenen mit nach Hause nahmen. Darüber hinaus war Anteilnahme elementarer Bestandteil der psychosozialen Versorgung. „Dazu gehört in solchen Situationen, dass man vielleicht auch mal nicht weiß, was man sagen soll - und einfach gemeinsam schweigt“, sagt Saur.

Gemeinsam mit den Angehörigen wurde ein kurzfristig aufgebauter Gedenkstein aufgesucht.

2015 / Paris, Frankreich / Terror Am Abend des 13. November 2015 wurde Paris zum Schauplatz eines koordinierten, islamistischen Terroraktes, der an fünf Orten gleichzeitig verübt wurde und über 130 Todesopfer forderte. Die Angriffsziele waren der Musikclub „Bataclan“, das Stade de France, wo Frankreich vor 80.000 Zuschauern ein Freundschaftsspiel gegen Deutschland bestritt, sowie mehrere Bars und Restaurants. Vor und in der Nähe des Stadions sprengten sich mehrere Selbstmordattentäter in die Luft, nachdem einer von ihnen vergeblich versucht hatte, ins Stadion zu gelangen. In den Restaurants schossen Täter wahllos auf 72


Terroranschlag in Paris: Selbst 24 Stunden nach den Anschlägen konnte eine Gefährdungslage für das KIT-Team nicht ausgeschlossen werden.

anwesende Gäste. Im “Bataclan“ stürmten sie ein von 1500 Menschen besuchtes Konzert mit Feuerwaffen und Handgranaten, töteten auch hier wahllos und nahmen Geiseln. Als Hermann Saur und Dr. Andreas Müller-Cyran vom KIT-München rund 24 Stunden nach den Anschlägen Angehörige eines Todesopfers nach Paris begleiteten, war die Bedrohungslage noch immer diffus. „Die ganze Stadt war in Alarmbereitschaft und voller schwer bewaffneter Soldaten“, erinnert sich Saur. Sinn des Einsatzes sei es gewesen, die Menschen, „die nur vom Hörensagen wussten, dass ihr Angehöriger wohl unter den Opfern war, zu begleiten“, so Saur. „Sie brauchten Sicherheit. Sie wollten ihn noch mal sehen und sich verabschieden.“ Im Zuge des Einsatzes traf das kleine KIT-Team auf in Paris lebende Deutsche, die das Attentat überlebt hatten. „Auch diese Personen haben wir betreut und gemäß unserer Hauptaufgabe versucht, ihnen in ihrer psychischen Ausnahmesituation die Handlungsfähigkeit wiederzugeben“, sagt Saur. Dass sich Einsätze dynamisch entwickelten, sei nicht ungewöhnlich: 73


„Wenn man sich an die Orte des Ereignisses begibt, kommt man dort häufig mit anderen Betroffenen in Kontakt.“ Obwohl eine Gefährdungslage für die Einsatzkräfte nicht ausgeschlossen war, habe er sich tagsüber nicht unsicher gefühlt, erinnert sich Saur. „Der Moment, in dem man merkt, dass man in einem Gebiet arbeitet, das noch nicht sicher ist, kommt, wenn man abends alleine im Hotel sitzt.“ Um derartige Situationen mit den ehrenamtlichen Einsatzkräften aufzuarbeiten, gibt es klare Vorgaben. Alle Mitarbeiter*innen erhalten regelmäßig Supervision. Dabei geht es um die Frage, ob und welche Spuren Einsätze von New York bis Thailand bei den Helfenden hinterlassen. „Es geht darum, woran man wächst, und wo die Gefahr anfängt, dass einen etwas kaputtmachen könnte - und wie man gegensteuert“, sagt Saur. 2016 / Olympia-Einkaufszentrum München, Deutschland Terroristischer Anschlag Am 22. Juli 2016 tötete ein 18-Jähriger aus rechtsextremistischen Motiven im Münchner Norden neun Menschen. In einem Fastfood-Restaurant hatte der Täter fünf Jugendliche aus nächster Nähe erschossen, vier weitere Menschen auf der Flucht, ehe er sich knapp drei Stunden später selbst tötete. Als um 17.50 Uhr die ersten Notrufe eingingen, begann für das KIT-München einer der herausforderndsten Einsätze seiner 27-jährigen Geschichte. „Wir waren ohne zeitlichen Puffer sofort mittendrin und über Stunden in einer Unsicherheit, weil es bis zur Entwarnung durch die Polizei bis in die späte Nacht dauerte“, sagt Timo Grünbacher, der damals dem 22 Einsatzkräfte starken KIT-Team angehörte, das am Tag des Ereignisses selbst und an den Folgetagen gemeinsam mit 27 Einsatzkräften anderer Hilfsorganisationen hunderte Menschen akutbetreute. Die Aufgaben erstreckten sich dabei von der unmittelbaren Betreuung von Personen über das Überbringen von Todesnachrichten bis hin zur behutsamen Begleitung von Trauernden, die sich an der Gedenkstelle vor dem Olympia-Einkaufszentrum versammelten, über Tage hinweg. Unter den Betreuten waren ganz unterschiedlich Betroffene – Hinterbliebene, Menschen, die die Tat selbst beobachtet hatten, aber auch viele Münchner Bürgerinnen und Bürger, die von der Tat schockiert waren. 74


2021 Feierliche Gedenkfeier am 5. Jahrestag des Anschlags.

2016, Terroristischer Anschlag in München: In den Tagen und Wochen danach erinnert ein Blumenmeer an die Schreckenstat.

Grünbacher erinnert sich an eine Stimmung in München, „in der sich die meisten Menschen erst mal zurückgezogen und in Sicherheit gebracht haben, aber irgendwie ohnmächtig waren und nur abwarten konnten“. Er sei froh gewesen, in dieser Situation etwas tun zu können. „Wir Einsatzkräfte haben ja im Gegenteil alles hochgefahren - und sind handlungsfähig geworden.“ Auch in den Folgetagen war das KIT rund um die Uhr im Einsatz. „Wir haben Augenzeugen helfen können, indem wir ihnen einfach erklärt haben, dass ihre Reaktion - Albträume, Unsicherheit, Gedanken an das Ereignis - auch 75


ein paar Tage nach dem Attentat völlig normal ist und sie nicht krank sind“, sagt Grünbacher. Besonders beeindruckte ihn in der Nacht des Anschlags die Initiative #OffeneTür. Münchner*innen boten Menschen, die wegen der stillgelegten Infrastruktur nicht nach Hause kamen, über den Kurznachrichtendienst Twitter einen Schlafplatz an. „Das hat gezeigt, dass wir trotz großer Angst eine Stadtgemeinschaft sind.“

2020 / Wien, Österreich, Terroranschlag Am Abend des 2. November 2020 schoss ein 20-Jähriger in der Wiener Innenstadt wahllos auf Passant*innen. Dabei wurden vier Menschen erschossen, 23 weitere wurden durch Schüsse oder beim Versuch zu fliehen, zum Teil schwer verletzt, ehe der Täter durch einen Schuss der Polizei gestoppt werden konnte. Timo Grünbacher betreute wenige Tage später als Leiter eines dreiköpfigen KIT-Teams Angehörige einer verstorbenen Deutschen, die sich verabschieden wollten. Das KIT begleitete die Familie unter anderem zu Tatorten in der Stadt. Grünbacher beschreibt die Aufgaben der Einsatzleitung so: „Man hat weniger Kontakt mit der Familie selber, sondern übernimmt die administrativen Aufgaben, um den Kolleg*innen volle Konzentration auf die Angehörigen zu ermöglichen. “Dazu gehören Gespräche mit der deutschen Botschaft und Zuständigen vor Ort, aber auch Dinge wie eine Unterbringung von Betroffenen und Einsatzkräften in unterschiedlichen Hotels. „Das klingt banal, ist aber wichtig“, sagt Grünbacher, „solche Details dienen dem Schutz der Einsatzkräfte, weil sie die Chance auf ein Einsatzende haben müssen, an dem sie noch gemeinsam in der Lobby sitzen können, ohne Angst zu haben, die Betroffenen damit vor den Kopf zu stoßen.“

2020 Terroranschlag in Wien: Das KIT-Team begleitet die Angehörigen u. a. zu den Tatorten. 76


Interview

„So lange man den Verstorbenen nicht gesehen hat, bleibt es surreal“ Eine spezielle Form des Auslandseinsatzes stellen Betreuungen dar, bei denen das belastende Erlebnis und die Intervention zeitlich weit auseinanderliegen. Das ist dann der Fall, wenn eine fortbestehende akute Gefahrenlage den Einsatzbeginn verzögert hat oder aber, wenn Angehörige von Opfern vom KIT-München zurück an den Ort des Geschehens begleitet werden. Hermann Saur erklärt, wozu diese Art von Einsatz dient.

Hermann Saur ist katholischer Diakon und leitete die Notfallseelsorge der Erzdiözese München und Freising. Saur ist mittlerweile in Rente und zu seiner Familie an den Niederrhein verzogen. Er ist der PSAH aber in beratender Rolle und als Kursleiter verbunden geblieben.

Nach dem Absturz der Germanwings-Maschine in Südfrankreich oder nach dem Schiffsunglück vor Giglio haben Sie Angehörige von Opfern an die Orte der Unglücke begleitet. Wie ist es zu erklären, dass Menschen ausgerechnet an den Ort reisen möchten, mit dem ihr schlimmster Schmerz verbunden ist? Hermann Saur: Die Nachricht, dass ein geliebter Angehöriger tot, aber nicht hier, sondern weit weg ist, ist unglaublich. Es ist deshalb eine normale Reaktion, dass Angehörige, die wir darüber informieren, uns zwar glauben wollen, sich ihr Gehirn aber dagegen wehrt. So lange man den Verstorbenen oder den Ort nicht gesehen hat, bleibt es surreal und der Gedanke hängen, es sei vielleicht doch alles okay. Menschen, die zu lange in diesem Zustand bleiben, laufen Gefahr, einen Verlust nur sehr schwer 77


oder gar nicht alleine verarbeiten zu können. Der Tod muss im wahrsten Sinne des Wortes begriffen werden. Daraus resultiert der natürliche Impuls, den Toten noch einmal sehen und anfassen zu wollen oder wenigstens den Ort zu sehen, an dem er starb. Ist dieses Phänomen spezifisch für Situationen, in denen jemand räumlich weit entfernt verstirbt? Saur: Nein, gar nicht. Es betrifft im Grunde sämtliche Einsätze, bei denen wir Todesnachrichten überbringen. Ein Kind oder der Mann verlässt morgens das Haus, und dann passiert der Verkehrsunfall. Oder der Mann erleidet einen Herzinfarkt. Dann kommt der Verstorbene nicht nach Hause, sondern wird in die Rechtsmedizin gebracht. In diesen Fällen kann man fast sicher sein, dass die betreuten Personen darum bitten, ihre Angehörigen noch einmal zu sehen. Das ist also nichts, was Seelsorge oder PSNV erfunden hätten, sondern ein natürliches Bedürfnis der meisten Personen, dem wir lediglich durch Organisation und Ermutigung Raum verschaffen. Welche Bedeutung hat das Begreifen des Todes für das Weiterleben von Hinterbliebenen? Saur: Es ist für die Trauerarbeit essentiell, dem Verstorbenen für den Rest des eigenen Lebens einen anderen Platz darin zuzuteilen. Das geht nur, wenn man den Tod akzeptiert. Solange die Gewissheit fehlt, bleibt immer Hoffnung, die das verhindert. Das Schlimmste, was wir erleben, sind Menschen, die über viele Jahre sogenannte Vermissende sind. Diesen Menschen sagt ihre Vernunft: ‚Er kann nicht mehr leben.‘ Trotzdem fällt das Loslassen schwer. Nach dem Seebeben in Thailand gab es Vermissende, die nach Jahren noch hofften, ihr Angehöriger sei irgendwo angeschwemmt worden und habe nur sein Gedächtnis verloren. Daran will man sich festhalten. Aber das Festhalten des Vermissten im Leben verhindert auch, dass man ihm einen Platz als Verstorbener schaffen kann – und damit die Trauerarbeit. Das ist für die Betroffenen psychisch extrem belastend, weil der Mensch Ungewissheit auf Dauer nicht aushält.

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Sie waren nach den Terror-Anschlägen in Paris mit Angehörigen von Opfern dort. Welche konkreten Aufgaben hatten Sie? Saur: Ich war immer mit mehreren Personen unterwegs, diese Menschen stützen sich in der Regel selber. Ich war nur der Begleiter; auf der langen Anfahrt ein ganz schweigsamer Begleiter. Wenn Angehörige sich trauen würden, mehr auf sich selbst zu hören, bräuchten wir im Grunde gar kein KIT. Aber ich habe sie gefragt, was sie brauchen und was ihnen helfen würde. Manchmal werden Menschen ihre Bedürfnisse erst durch Verbalisierung richtig bewusst. Im Ausland kommt hinzu, dass wir als KIT wissen, wo wir anrufen müssen. Wir können Weichen stellen und bürokratische Hindernisse aus dem Weg räumen. Der Rest war Ermunterung. Dazu, den eigenen Bedürfnissen zu folgen, und dazu, sich – wenn man traurig ist – auch zu trauen, traurig zu sein.

Die Betreuung von Kindern stellt die ehrenamtlichen Einsatzkräfte vor eine besondere Herausforderung. 79


BERUFUNG STATT BERUF

Ehrenamt und Ausbildung im KIT-München Warum viele Einsatzkräfte nichts von Krisenintervention im Hauptamt halten, und wie eine solide Ausbildung auf den Extremfall gelingen kann. Viele KIT-Einsatzkräfte haben auch hauptberuflich mit sozialen, psychotherapeutischen oder medizinischen Belangen zu tun, allerdings längst nicht alle. Eine berufliche Vorqualifikation ist für die Vollausbildung PSAH auch nicht erforderlich. Aus diesem Grund arbeiten im KIT-München Ehrenamtliche mit ganz unterschiedlichem Hintergrund zusammen, Palliativ-Fachkräfte, Seelsorger, Psychologen und Sozialpädagogen genauso wie Coaches, Mediatoren, Lehrer, Dozenten, Juristen und Einsatzkräfte der Feuerwehr und des Rettungsdienstes. Sie alle eint der Wunsch, Menschen zu helfen und dabei ihre persönlichen Stärken einzubringen - egal auf welchem Gebiet diese liegen.

Petra Meßner: „Ich habe auch in meinem Beruf mit Tod und Sterben zu tun. Es klingt komisch, aber vielleicht kann ich in diesem Bereich wirklich etwas, was nicht alle können. Es ist eine schöne Sache, wenn man merkt, dass man für Leute wichtig ist; nicht als Person, sondern als KIT.“

Stephan Jansen: „Ich engagiere mich beim KIT, um für Menschen in der vermutlich dunkelsten Stunde ihres Lebens da zu sein.“

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Christian Böer: „Mein Arbeiten in und mit menschlichen Grenzbereichen reicht weit zurück. Mein Wissen und mein Netzwerk sind heute größer denn je. Das möchte ich meinen Mitmenschen zukommen lassen - die Arbeit im KIT ist mein aktiver Beitrag dazu.“

Carsten Dannenberg: „Ich arbeite beim KIT aus Überzeugung. Die psychische Erste Hilfe bzw. PSAH kann Menschen in bzw. nach Notfallsituationen entlasten und ggf. vor Erkrankungen bewahren. Darüber hinaus engagieren sich beim KIT München tolle Menschen, mit denen ich gerne einen Teil meiner Freizeit verbringe.“

Andreas Hänsel: „Eine Welt von lauter Ichs ist nicht überlebensfähig, wir brauchen auch ein Wir. Zumindest kann man für Greenpeace spenden. Ich kann da sein, wenn ein Mensch vor einem Abgrund steht. Also schenke ich ihm meine Zeit. Und das ist gut so.“

Martin Irlinger: „Die Arbeit beim KIT gibt mir eine Sinnhaftigkeit in meinem Leben, und es ist auch ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden.

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Michaela Bias: „Weil ich selbst erlebt habe, wie wichtig es ist, dass andere Menschen einem in einer krisenhaften Extremsituation beistehen, Fragen beantworten und einem sagen: „Für heute ist es gut.“ Dafür war ich damals unendlich dankbar, und davon möchte ich ein Stück zurückgeben. Und: Ich bin aus Überzeugung, mit großer Freude und auch mit Stolz Teil eines Teams, das sich immer wieder auf den Weg macht, um bei den Menschen zu sein.“

Sebastian Hoppe: „Wir können nicht verhindern, dass schlimme Dinge geschehen – aber wir können einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass Menschen nach solchen Ereignissen nicht allein zurückbleiben. Wenn ich nach dem Einsatz das Gefühl habe, dass es gut war, dass jemand da war, erlebe ich das als zutiefst sinnstiftend.“

Rolf Kersten: „Die Arbeit im KIT und mit den Menschen ist für mich eine sinnhafte Aufgabe. Ich kann Menschen in den ersten Stunden eines schrecklichen Ereignisses begleiten und vielleicht auch helfen; immer wissend ein starkes Team an meiner Seite zu haben. Das macht mir auch Spaß.“

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Interview

„Wenn ich selber aus dem Konzept komme, kann ich keine Sicherheit mehr ausstrahlen“. Dass die Einsatzkräfte des KITMünchen nicht hauptamtlich arbeiten, hat keinen Einfluss auf die Qualität der vorangegangen Ausbildung. Eine professionelle und vergleichsweise umfangreiche Ausbildung, wie es sie in der KITAkademie gibt, ist notwendig, um die Einsatzkräfte für ihre Aufgabe mit allem auszurüsten, was ihnen dabei hilft, einer vom Moment überforderten Person kompetent und einfühlsam zu helfen. Knapp 100 theoretischen UnterVera Angerer ist seit 2016 für das richtseinheiten an der KIT-AkadeKIT-München im Einsatz und Dozentin in der KIT-Akademie. Lange war sie für das mie schließt sich eine Phase als Ressort Ausbildung und damit auch für die KIT-Praktikant*in an. Diese dauert aktiven Praktikant*innen zuständig. in der Regel ein Jahr. Die frisch ausgebildeten Einsatzkräfte begleiten während dieser Zeit erfahrene Einsatzkräfte im Einsatz. Sie schauen zunächst nur zu, übernehmen aber sukzessive mehr Aufgaben bei der Betreuung. Im Idealfall haben sie nach ihrer Praktikumszeit viele verschiedene Meldebilder erlebt und mit betreut. Eine gewisse Bandbreite ist Voraussetzung, um die Ausbildung abschließen zu können. Wie bereitet man Einsatzkräfte auf eine Tätigkeit vor, in der sich keine Situation exakt wiederholt und Unvorhersehbarkeit zum Alltag gehört?

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Vera Angerer: Indem man sich auf die Gemeinsamkeiten konzentriert. Ich kann immer nur ein Gerüst im Kopf haben. Wie ich das konkret gestalte, muss ich vom Einsatz abhängig machen, die Stabilität aber kann ich vorher beeinflussen. Es ist für das Ziel unserer Einsätze, Personen wieder handlungsfähig zu machen, oft nicht wichtig, warum wir genau kommen. Es gibt stattdessen feste Parameter, auf die man bei jedem Einsatz schaut - und diese Parameter kann man gezielt einüben. Das passiert in den Kursen mit praktischen Übungen und Gesprächen. Welche Parameter sind das? Angerer: Das betrifft zum Beispiel die Frage, wie ich Kontakt herstelle, aber auch die Psychoedukation, die Bestandteil jeder Betreuung ist. Ein ganz zentraler Punkt ist die Identifikation von Ressourcen, auf die betroffene Personen zurückgreifen können. Dabei geht es darum, Dinge oder Menschen zu finden, von denen die Person im Moment Sicherheit für sich ableiten kann; auf sozialer, aber bei Todesfällen auch auf materieller Ebene. Welchen Stellenwert hat der theoretische Ausbildungsteil auf einem Feld, in dem es um soziale Interaktion geht? Angerer: Einen sehr hohen. Wir wollen Menschen helfen, indem wir Sicherheit und Ruhe vermitteln. Wenn ich aber selber aus dem Konzept komme, macht mich das unruhig - dann kann ich keine Sicherheit mehr ausstrahlen. Aus dem Konzept komme ich immer dann, wenn ich die Abläufe nicht kenne; wenn ich nicht weiß, wie ich mich an einem Einsatzort sicher bewege, oder zum Beispiel beim Thema Suizid oder mit einem bestimmten Krankheitsbild überfordert bin, weil ich keinen theoretischen Hintergrund und auf Fragen keine Antwort habe. Indem wir theoretisches Wissen mit praktischen Übungen kombinieren, führt das zu einer Sicherheit, die in jeglichen Kontexten hilfreich ist. Ausbildung und Engagement im Einsatz sind für ein Ehrenamt sehr zeitaufwändig. Wären das keine Argumente für eine Hauptamtlichkeit? Angerer: Ich halte Krisenintervention im Ehrenamt für sehr gut aufgehoben. Niemand fühlt sich in jeder Lebenssituation und jeder Phase mit sich im Reinen. Man braucht aber eine gewisse Grundentspanntheit, um Leuten in schweren Lebenslagen helfen zu können. Wir haben immer wieder Kolleg*innen, die kürzertreten, weil es beruflich gerade stressig oder im 84


privaten Kontext schwierig ist, oder weil es in kurzer Zeit einfach zu viele Einsätze waren. All das geht nicht, wenn man das hauptberuflich macht und zum Dienst erscheinen muss. Dadurch, dass es ein Ehrenamt ist, bleibt mein Blick darauf, ob ich gerade wirklich bereit bin, das zu leisten, unverstellt. Andernfalls wäre der Bereich Krisenintervention ein Bereich, der dafür prädestiniert wäre, dass sich Menschen selbst zu viel zumuten.

Angerers Einschätzung zum Thema Ehrenamt teilen viele Kolleg*innen. „Wenn man in Vollzeit täglich Einsätze fahren würde, wäre das auf Dauer nicht gesund“, ist sich Stephan Jansen sicher, der neben seinen ehrenamtlichen Einsätzen auch hauptberuflich als Verantwortlicher für den Dienstbetrieb in der Administration für das KIT tätig ist. Petra Meßner pflichtet ihm bei: „Ich möchte das nicht hauptberuflich machen, so dass ich rausfahren muss, egal wie es mir geht, nur weil ich eingeteilt bin.“ Meßner ist es aus ihrem Berufsleben als Intensivkrankenschwester und PalliativFachkraft gewöhnt, täglich mit dem Tod konfrontiert zu werden: „Ich betreue beruflich auch sterbenskranke Leute zu Hause, aber das ist trotzdem etwas anderes, es ist weniger extrem.“ Die psychische Beanspruchung bei der Betreuung von Personen, die ihre eigene Situation als akute Überforderung erleben, ist auch für erfahrene, gut ausgebildete Einsatzkräfte bei jedem Einsatz aufs Neue hoch. Denn Empathie, sagt Hermann Saur, sei keine Schwäche, sondern eine der großen Stärken des KIT. „Ich gehe als Einsatzkraft irgendwo hin, wo ein menschlicher Albtraum passiert ist, von dem ich hoffe, dass ich ihn privat nie erlebe. Wenn ich das nicht mit einer gewissen inneren Anspannung tue, sollte ich lieber zu Hause bleiben.“

Ausbildung in der KIT-Akademie Wer Menschen in einer Ausnahmesituation hilfreich begegnen wolle, könne nicht emotional unbeteiligt eine Checkliste abarbeiten. „Das merken die betroffenen Personen, das funktioniert nicht“, sagt Saur, und fügt hinzu: „Ich balanciere im Einsatz immer auf einer Grenze zwischen Mitgefühl und Mitleid. Wenn ich das Mitgefühl nicht aufbringe, werde ich meinem Gegenüber nicht gerecht. Wenn ich jedoch ins Mitleiden rutsche, habe ich die professionelle Grenze überschritten.“ Auch Letzteres sei zunächst kein Problem. Professionalität bedeute nicht, „nie abzustürzen“, sondern lediglich, schnell in die vorgesehene Rolle zurückzufinden. Dafür sei eine solide Ausbildung entscheidend. „Dort bekommen Einsatzkräfte 85


genügend Handwerkszeug, um sich im Einsatz selbst zu kontrollieren und schnell zu merken, dass es nicht ihre Aufgabe ist, dass auch ihnen die Tränen laufen.“ Saur legt bei der Ausbildung neuer Einsatzkräfte Wert darauf, dass sie „an einem Platz im Gehirn, auf den sie nicht bewusst zugreifen müssen“, drei Fragen verankern: Wo bin ich? Warum bin ich hier? Was ist meine Aufgabe? Sind sie verinnerlicht, erfüllen sie im Einsatz die Funktion einer Art Werkseinstellung, auf die die ehrenamtlichen Einsatzkräfte ihre eigene emotionale Verfassung bei Bedarf zurücksetzen können, um sich wieder zu fokussieren und jene Sicherheit auszustrahlen, die der betreuten Person Halt geben soll.

Die KIT-Einsatzkräfte durchlaufen ein umfangreiches Ausbildungsprogramm. 86


Wissen gibt Sicherheit Neben dem Erwerb und der Erprobung von Regulationsstrategien sind medizinische Grundkenntnisse für alle Einsatzkräfte ohne Vorbildung auf diesem Gebiet fester Gegenstand der Ausbildung. Zum einen diene das dazu, Fragen der Betroffenen beantworten zu können, sagt Angerer. Denn für viele Menschen trägt Klarheit über Ursachen enorm zu einem gesunden Verarbeitungsprozess bei. „Wenn jemand an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall verstirbt, sollte man den Angehörigen erklären können, was das Problem war“, sagt sie, und beschreibt eine typische Situation: „Der Notarzt war da, hat ein EKG gemacht, und das war eine Null-Linie. Es passiert immer wieder, dass Hinterbliebene sehr irritiert sind, weil gar nicht defibrilliert wurde, obwohl das im Film immer so ist. Auch in solchen Situationen sollte man erklären können, dass das in Filmen in vergleichbaren Momenten zwar tatsächlich oft gemacht wird, in der Realität aber leider gar keinen Sinn ergibt.“ Das Ziel ist keine vollständige rettungsdienstliche Ausbildung, sondern Sicherheit beim Erklären sowie ein Grundverständnis vom Rettungsdienst-Geschehen. „Noch dazu fahren wir ja mit einem ASBAuto mit Blaulichtanlage durch die Stadt und sollten deshalb mindestens adäquat reagieren können, wenn wir als Ersthelfer*innen zu einem Unfall kommen“, so Angerer. Es geht aber auch um Auskünfte zu Abläufen an einem Einsatzort, mit denen Zivilist*innen mitunter überfordert sind. „Es ist hilfreich, wenn ich der betreuten Person erklären kann, warum da jetzt gerade zehn Leute durch ihre Wohnung laufen und was die Kriminalpolizei im Schlafzimmer macht“, sagt Meßner. Sinn der sehr umfassenden Ausbildung ist es somit, zukünftige Einsatzkräfte auf allen Gebieten, auf denen sie keine umfangreiche Vorbildung und Einsatzerfahrung mitbringen, zumindest mit Grundwissen auszustatten. Einer der wenigen starren Parameter für Bewerber*innen, die sich im KITMünchen einbringen möchten, ist das Mindestalter von 25 Jahren. „Es geht dabei zum einen um eine gewisse Lebenserfahrung, aber auch um den Schutz der Einsatzkräfte“, sagt Angerer, die selbst ungeduldig wartete, bis sie die 25 endlich erreicht hatte, und zugibt, „dass ich das damals nicht wirklich verstanden habe“. Im Rückblick betrachtet sie die Regel allerdings als sinnvoll. „Es geht dabei auch um die Frage, ob ich so fest in meinem eigenen Leben stehe, dass ich andere Leute in stürmischer Situation begleiten kann, ohne dass mich das selber umhaut“, sagt sie. 87


Eine zuverlässige Antwort bekommen die Einsatzkräfte darauf zwar ohnehin erst, wenn sie im Einsatz sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre eigene Belastbarkeit im Vorfeld richtig einschätzen, steigt jedoch mit ein paar Jahren mehr Lebenserfahrung.

Die KIT-Grundausbildung (Basiskurs) wird in Kooperation mit dem Münchner Klinikum Rechts der Isar durchgeführt und dauert drei Tage. Sie richtet sich nicht an künftige Einsatzkräfte des KIT-München, sondern an Menschen, die aus dem Klinik-Alltag kommen und sich einen Einblick in die Krisenintervention wünschen. Enthalten sind unter anderem eine Einführung in die Psychotraumatologie und die Grundlagen der Krisenintervention in der Akutphase einer Belastung.

Die KIT-Vollausbildung (Vollausbildung PSAH) ist unabhängig vom Basiskurs, die Kurse bauen nicht aufeinander auf. Zielgruppe sind Personen, die später im KIT-München arbeiten wollen. Die Ausbildung richtet sich aber genauso an Personen aus dem gesamten Bundesgebiet, die entweder in anderen KITs arbeiten wollen oder sich für ihre berufliche Tätigkeit – zum Beispiel im Bereich der Sozialarbeit – Wissen über die Krisenintervention und den Umgang mit peritraumatischen Situationen aneignen möchten.

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WER KÜMMERT SICH UM DIE KIT-EINSATZKRÄFTE?

Supervision und Einsatznachbereitung Niemand kann sich selbst psychologisch betreuen - das gilt auch für den Bereich der Krisenintervention. Wer Menschen in ihren schwersten Momenten und emotionalen Extremsituationen begleitet, erlebt früher oder später Momente, die ihm so nahegehen, dass er selbst Unterstützung benötigt. Das betrifft Rettungsdienst, Feuerwehr, Polizei und Krisenintervention gleichermaßen. Die PSNV-E, also die psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte, stieß dennoch lange auf noch mehr Widerstand als die Betreuung von Zivilpersonen.

Supervision und Einsatznachbereitung dienen dem Schutz der Einsatzkräfte. 89


Das KIT-München nahm dabei allerdings aus naheliegenden Gründen eine Sonderrolle ein. „Man muss für die Beurteilung von psychischer Belastung verinnerlichen, dass etwas, das auf der eigenen Landkarte nicht schlimm ist, nicht zwangsläufig auch für alle anderen unproblematisch ist“, sagt der langjährige KIT-Mitarbeiter Martin Irlinger, der außerdem PSNV-E bei der Freiwilligen Feuerwehr durchführt. Dieses Bewusstsein sei beim KIT schon aufgrund seiner Leitidee „von Anfang an sehr ausgeprägt vorhanden gewesen“. In vielen anderen Bereichen der Akut-Versorgung sei es hingegen „noch Ende der 90er-Jahre durchaus gängig gewesen, dass Vorgesetzte sagten: ‚War ein Scheißtag, geht mal ein paar Bier trinken heute Abend, und dann sehen wir uns wieder zum Dienst‘. Da sind wir heute zum Glück weiter“, sagt Sebastian Hoppe.

Interview

„Man braucht einen Rahmen, in dem man aufgefangen wird“ Situationen, die für Menschen potentiell traumatisierend sind, gehören zum Arbeitsalltag vieler Einsatzkräfte. Warum hat die Psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte lange eine noch geringere Rolle gespielt als PSNV generell? Sind Einsatzkräfte belastbarer, weil sie auf die Ereignisse vorbereitet sind? Martin Irlinger: Bis zu einem bestimmten Punkt. Dabei hilft zum Beispiel die Einsatzkleidung, die signalisiert: Hier bin ich im Einsatz und nicht privat. Das bietet einen gewissen Schutz, bewahrt einen aber trotzdem nicht davor, dass einem manche Einsätze wahnsinnig nahe gehen. Ich bin über die Freiwillige Feuerwehr zum KIT gekommen und habe es mal erlebt, dass ein Feuerwehr-Kamerad die Situation nicht mehr ausgehalten und sich von einem Moment auf den anderen auf den Weg nach Hause gemacht hat, ohne irgendwem Bescheid zu sagen. Wir haben ihn dann irgendwo allein auf der Landstraße gefunden. Mittlerweile mache ich PSNV-E, also PSNV bei Einsatzkräften. Ich bin in einem Team, das die Feuerwehren im Landkreis und München betreut, falls sie etwas Dramatisches erleben. 90


Trotzdem entsteht der Eindruck, dass psychosoziale Belange bei Einsatzkräften in der Breite noch immer nachrangig behandelt werden. Woran liegt das? Irlinger: Es sind noch Alteingesessene im Dienst, die einfach ein falsches Berufsbild haben. Das werden zum Glück immer weniger, sie haben das Arbeitsumfeld aber lange geprägt. Da ist falscher Stolz im Spiel, aber auch eine falsche Vorstellung davon, dass man als Einsatzkraft grundsätzlich einen anderen Schutzpanzer haben müsse als Zivilpersonen. Da wurde auch mal gesagt: Wenn du die Situation nicht packst, bist du im falschen Beruf. Deshalb hat sich die PSNV-E aus meiner Sicht zeitlich verzögert entwickelt.

Martin Irlinger ist seit 2001 für das KITMünchen im Einsatz. Er ist darüber hinaus in der Psychosozialen Notfallversorgung für Einsatzkräfte (PSNV-E) für die freiwillige Feuerwehr tätig. Im Hauptberuf arbeitet er als Coach und Berater mit den Schwerpunkten Teamentwicklungsprozesse, Führungskräfte- und Kommunikationstraining.

Welche Einsätze werden aus Ihren Erfahrungen bei Feuerwehr und KIT als besonders belastend empfunden? Irlinger: Was Einsatzkräften nahe geht, ist individuell sehr unterschiedlich, weshalb ich das nur für mich persönlich beantworten kann. Oft sind es nicht die Großschadenslagen, an denen ich zu knabbern habe, sondern Einsätze, die im Stillen verlaufen; gerade, wenn Kinder beteiligt sind. Es kann bei einem ganz normalen Einsatz passieren, dass ich im Nachgang merke, dass ich Unterstützung brauche. Dafür, dass ich mir diese Hilfe als Einsatzkraft dann auch hole, ist es aber wichtig, dass ein Klima herrscht, in dem mich niemand dafür verurteilt, dass es mir schlecht geht. Man braucht einen Rahmen, in dem man aufgefangen wird. Wie sieht dieser Rahmen beim KIT-München aus? Irlinger: Wenn ich einen Einsatz habe, der mich sehr belastet, weiß ich, dass ich ein paar Kollegen habe, die ich Tag und Nacht anrufen könnte und 91


die mir zuhören würden. Obwohl es eigentlich der Normalfall ist, mag ich es auch, nicht allein zum Einsatz zu fahren. Ich nehme immer sehr gerne Praktikant*innen mit, weil man sich über das Erlebte austauschen kann. Wenn man nach einem nächtlichen Einsatz um halb zwei in den leeren KIT-Bus einsteigt, kann man sonst sehr allein sein mit seinen Gedanken. Im Rettungsdienst, bei Polizei und Feuerwehr ist man ja grundsätzlich mindestens zu zweit unterwegs. Ab wann würden Sie Kolleg*innen empfehlen, sich nach einem belastenden Einsatz Hilfe zu holen? Irlinger: Den Personen, die wir im Einsatz betreuen, sagen wir, dass die Trauerphase etwa zwei bis drei Wochen dauert, aber im Einsatzgeschehen würde ich die Grenze niedriger ansetzen. Wenn ein Einsatz nach einer Woche noch sehr präsent ist und mich womöglich sogar in der Nacht verfolgt, würde ich ein Gespräch suchen. Dafür suchen sich die meisten aber erst einmal intern jemanden. Sind darüber hinaus Nachbesprechungen für Einsätze generell vorgesehen? Irlinger: Wir haben regelmäßig Supervision auf freiwilliger Basis, aber nur nach Großschadenslagen ist die Teilnahme daran verpflichtend. Das läuft in Form von Gesprächskreisen ab, in denen jeder seine Eindrücke schildert. Es ist keine Einsatznachbesprechung im klassischen Sinne, aber es gibt Raum dafür, Gedanken und Gefühle mit anderen zu teilen. Die Supervision erfolgt durch eine externe Person, und das ist auch gut so, weil sie keinen persönlichen Bezug hat. Wir probieren aktuell unterschiedliche Strukturen aus; zum Beispiel, feste Supervisionsgruppen zu etablieren, in denen sich immer dieselben drei, vier Einsatzkräfte mit demselben Supervisor treffen. Ich habe den Eindruck, dass sich das sehr positiv entwickelt. Mit den eigenen Ressourcen zu haushalten ist nicht nur für die Ehrenamtlichen selbst, sondern auch für die Einsatzfähigkeit des KIT-München wesentlich. Insbesondere neue Kolleg*innen liefen mitunter Gefahr, sich schnell sehr viel zuzumuten, weiß Irlinger. Aber dann merken einige irgendwann: Das tut mir auf Dauer in dieser Intensität nicht gut. Die Folge sei, dass manche Kolleg*innen, die mit großem Enthusiasmus in ihre Aufgabe gestartet waren, von einem Tag auf den anderen wieder aufgehört hätten. 92


Irlinger betont die Bedeutung der Frequenz, also der Einsatzfülle. Der Ausgang einer Betreuung sei hingegen weniger ausschlaggebend für die emotionale Belastung. „Wichtig ist eher, zu reflektieren, ob man selbst sein Bestes getan hat“, sagt er, „und wenn man damit zufrieden ist, ist das schon mal sehr gut.“ Es gab allerdings immer wieder Einsätze, in deren Nachgang er Informationen über den weiteren Lebensweg der betreuten Personen erfragte. „Ich habe zweimal Kinder betreut, deren Vater die Mutter erstochen hatte. Und da habe ich für mich die Information gebraucht, wo und wie sie untergebracht sind, um mit dem Einsatz abschließen zu können.“

Dasein für die Betroffenen am Einsatzort 93


ZAHLEN, DATEN, FAKTEN

• START DES KIT-MÜNCHEN AM 9. MÄRZ 1994 • Einsatzdienst: 24 Stunden pro Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr • Seit 1994 mehr als 240.900 Einsatzstunden • 22.221 Einsätze • 2,2 Einsätze in 24 Stunden • 55.550 betreute Personen • Durchschnittliche Betreuungszeit: 3 Stunden • 32 aktive Einsatzkräfte, 12 Einsatzkräfte in Ausbildung • E insatzbereich: Stadt und Landkreis München (knapp 2 Millionen Einwohner) • 4 Einsatzfahrzeuge • Mehr als 2,2 Millionen gefahrene Kilometer, davon 40 Prozent der Fahrten mit Blaulicht. • Seit 1994 haben die KIT-Fahrzeuge im Dienst 56 mal die Erde umrundet. • Bis heute konnte jeder Dienst besetzt werden.

(Stand: Dezember 2021)

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Der ASB München/Oberbayern e.V. „Wir helfen hier und jetzt.“, heißt das eingängige Motto des ASB – und danach lebt und handelt der Regionalverband in München und Oberbayern nun schon seit 100 Jahren. Ziel war und ist es, zu helfen, wo Hilfe gebraucht wird mit Respekt vor den Menschen und hoher Flexibilität, auf sich laufend ändernde Anforderungen zu reagieren: vom Haus für Kinder und innovativen Wohnprojekten für Senioren über Intensivtransporte, Rettungshundestaffeln bis hin zum Wünschewagen und dem Krisen-Interventions-Team. Mitglieder, Spender und Förderer unterstützen uns, auch in Zukunft dort zu helfen, wo wir gebraucht werden.

ASB Jubiläumsfilm:

Spendenkonto Stadtsparkasse München IBAN: DE66 7015 0000 0043 1439 99 BIC: SSKMDEMMXXX Verwendungszweck: KIT-München www.asb-muenchen.de info@asbmuenchen.de Telefon: + 49 (89) 74363-0


DAS KIT-MÜNCHEN IM EINSATZ Wenn Unfälle, Katastrophen oder der plötzliche Tod einen Menschen aus dem Leben reißen, bleiben um ihn herum fassungslose Angehö-

rige, Freunde oder Augenzeugen zurück, für die kein Rettungsdienst

etwas tun kann. Doch körperlich unversehrte, aber psychisch schwer Betroffene von belastenden Ausnahmesituationen benötigen Hilfe, um mit dem Erlebten und ihrer momentanen Überforderung fertig

zu werden. Aus diesem Grund rückt das KIT-München als weltweit

dienstältestes Krisen-Interventions-Team seit 1994 im Durchschnitt

zwei- dreimal täglich aus, um Menschen in ihren dunkelsten Stunden

Halt zu geben. Dieses Buch gewährt Einblicke in seine ehrenamtliche

Arbeit. Es beleuchtet historische und psychologische Grundlagen und lässt zahlreiche aktive und ehemalige Einsatzkräfte zu Wort kommen.

ISBN 978-3-00-070908-1

www.asb-muenchen.de


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