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Plötzlich wurde die Stille durchbrochen, als die Flurtür aufschwang und eine ganze Armee sehr großer Leute hereinkam. So jedenfalls kam es uns vor. Sie beugten sich über das Bett, das sie zur Intensivstation rollten. Zuerst konnte ich im Bett nur ein Gewirr von Schläuchen entdecken. Diese Menschen versperrten uns den Blick auf ihren winzigen Patienten, doch er war es eindeutig – Rex! Mein Herz machte einen Sprung, und ich auch! Ich stellte mich so hin, dass ich sein Gesicht sehen konnte, als er an uns vorbeigeschoben wurde. Wie ein Football-Team, das die wertvolle Fracht sicher in die Endzone befördern will und jede Störung vom gegnerischen Team unterbindet, drängten sie sich wie eine Wolke um ihn, was Rex noch kleiner und zerbrechlicher wirken ließ. Doch an dieser Mutter gab es kein Vorbeikommen, ohne dass ich wenigstens einen Blick auf meinen Sohn geworfen hatte. Ich stürzte hinterher, als sie an mir vorbeieilten. Meine Reflexe waren durch einen Cocktail aus nackter Angst und Liebe geschärft. In diesem Augenblick sah ich seine Augen. Ich hatte das Gefühl, mir pressten sich die Lungen zusammen. Sein Blick war starr auf mich gerichtet, als warte er auf eine Erklärung. Mir schien es, als bettelte er darum, den Grund für das zu erfahren, was er erleben musste. In diesem Moment spürte ich, wie zwischen uns ein stählernes Band der Liebe geschmiedet wurde. Denn obwohl ich Rex vom Augenblick seiner Geburt an geliebt hatte, ja seit dem Moment, da ich ihn zum ersten Mal in meinem Bauch spürte, war nun etwas Neues dazugekommen, ein ungezügelter, umwerfend starker Beschützerinstinkt. Bei manchen Müttern kommt dieses Gefühl hoch, wenn sie zum ersten Mal in das Gesicht ihres Neugeborenen sehen, bei anderen wächst es mit der Zeit. Manche Mütter erleben es traurigerweise niemals. Mir passierte es in diesem Augenblick und es war, als durchbohre ein Pfeil mein Herz. Rex’ Blick an diesem Tag – flehend und verständnislos – sollte mich noch jahrelang verfolgen. Doch ich hatte diesen starren, glasigen Blick missverstanden. Vielleicht hätte ich schon damals ahnen sollen, was er wirklich bedeutete. Aber ich hatte nicht hinter diese undurchdringlichen Augen und meine eigenen Schuldgefühle und Gewissensbisse schauen können. 19

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