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verlief. Sie erinnerte mich an jene Heiligen, über die in zuckersüßen Biografien berichtet wird und die einem wie eine katholische Version von Superman oder Superwoman erscheinen. Ich war nicht der Einzige, der ihrem Charme nicht erlegen war. In einer Fernsehdokumentation mit dem Titel Engel der Hölle (Hell’s Angel), die von dem britischen Fernsehsender Channel 4 ausgestrahlt wurde, beschuldigte der Journalist Christopher Hitchens sie, sich bei Diktatoren und Betrügern einzuschmeicheln und die kranken und sterbenden Menschen in ihren Häusern schlecht zu behandeln. Er behauptete, dass ihr Image als Inbegriff des Mitleids bloß ein Mythos sei, der von den Medien erschaffen und verbreitet wurde. Stattdessen sei sie eine katholische Fundamentalistin und eine Verfechterin der unheilvollen Außenpolitik des Vatikans. Mutter Teresa starb 1997 in Kalkutta (heute Kolkata) im Alter von 87 Jahren an einem Herzinfarkt. Nur einige Tage zuvor war Prinzessin Diana bei einem Autounfall in Paris ums Leben gekommen. Zwei große Symbole des späten Zwanzigsten Jahrhunderts; eine von ihnen ein Sinnbild der Heiligkeit, die andere ein Sinnbild des Ruhms. Erst einige Monate zuvor waren die beiden fotografiert worden, als sie die Niederlassung der Missionarinnen der Nächstenliebe in der Bronx in New York gemeinsam lächelnd verließen. 1998 befand ich mich selbst in Bagdad, da ich von der chaldäisch-katholischen Kirche und der irakischen Regierung zu einer Konferenz eingeladen worden war, bei der es um die negativen Auswirkungen der UN-Sanktionen auf die Bevölkerung ging. Ich konnte nie viel mit Konferenzen anfangen. Zumindest das haben Mutter Teresa und ich gemeinsam. Doch indem ich die Einladung annahm, ergab sich für mich die Möglichkeit, etwas über das Leben in einem der abgeschottetsten und, wie man uns sagte, repressivsten Ländern der Erde zu erfahren. Ich wanderte lieber durch Bagdads Straßen, als im Konferenzsaal des zehnstöckigen Hotels »Babylon« zu sitzen, in dem ich auch wohnte, und einer Reihe

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