Wand Frei - Plädoyer für die Legalisierung der Graffiti-Kunst

Page 1



G. Franke

D. Thiele

WAND FREI


Zum Titelbild: Ein über Nacht entstandenes "piece" an der Innenseite unserer Fabrikmauer. Aus einem grafisch gemusterten Untergrund taucht als schwarze Silhouette eine geheimnisvolle Gestalt auf, die einen 'dunklen< Unbekannten, den Prototyp eines illegalen Sprayers, assoziieren läßt. Sehen wir den "schwarzen Mann" als Negativform - was ja ebenfalls möglich ist -, so s~heint sich ein Loch im 'Male-Grund zu öffnen: die Zweidimensionalität scheint aufgehoben. Das Mittel, mit dem dies erreicht wird, ist genauso illusionistisch wie die gute alte perspektivische Zeichnung. Nur unverbrauchter ist es und deshalb verblüffender.


Gabriele Franke

Dieter Thiele

WAND FREI Pl채doyer f체r die Legalisierung der Graffiti-Kunst


Das Plädoyer "Wand frei" ist eine Frucht der umfangreichen Studie "Graffiti im Stadtteil", die wir - die Autoren - im Auftrag des Referats für Stadtteilkultur-Projekte (Kulturbehörde Hamburg) durchgeführt haben. Die 'Idee' zu der Studie entwickelten WIr gemeinsam mit Wolfgang Stiller, dem Referatsleiter. "Wand frei" ist ebenfalls von Herrn Stiller in Auftrag gegeben und mit Mitteln seines Referats finanziert.

Erschienen im Selbstverlag Gedruckt bei Bernhardt & Plaut Auflage : 500 Copyright: Kulturbehörde Hamburg, 1988 Fotos: Gabriele Franke (Abb. 5, 7, 9, 10, 12, 14 bis 18, 20, 22 bis 26), Regina Scheller (Abb. 1 bis 4, 6, 8, 11, 13, 21 sowie Titelbild), Heinz Henke (Abb. 19).


D i e Mehrzahl der Bilder in diesem Bändchen dokumentiert die ~weite Graffiti-Aktion, die wir im Hamburger Stadtteil Barmbek veranstaltet haben (am 30. April 1988). Sie spielte sich wie schon die erste Aktion ein halbes Jahr vorher an einer alten Fabrikmauer ab, die einen Parkplatz am Wiesendamm von einem Hof trennt, auf dem sich heute unter anderm das Museum der Arbeit befindet. Anlaß der Aktion war eine vom Hamburger Stadtteilkultur-Referat in Auftrag gegebene Studie, die uns - mit langen Unterbrechungen und neben unseren anderen Arbeiten - von 1985 bis 1988 beschäftigt hat. Hauptzweck der Studie mit dem Titel "Graffiti im Stadtteil" war es herauszufinden, ob Graffiti, ob das Tun der Sprayer und seine Wirkung als ein Stück Stadtteilkultur anzusehen sind. Ohne daß wir diese ursprüngliche Fragestellung aus den Augen verloren,-führte uns die Untersuchung immer mehr ins Detail und-in ' die Breite. Am Ende hatte sich unser "Erkenntnisint~ess~'" g-ewandelt: ob Graffiti Stadtteilkultur sind oder nicht, erschien- uns nicht mehr so ...."'"' wichtig. Um so beachtenswerter fanden wir andere' Seiten aes Phänomens Graffiti. Zum Beispiel: die Vielfalt der Formen, in denen Graffiti auftreten (sofern der Begriff weit gefaßt wird) - andrerseits die so gut wie nie überwundene Grenzscheide z1\'ischen den _beiden Hauptströmungen, den "Aussage-Graffiti(~ und den "dekorativen Graffiti", eine Grenzscheide, die wohlgemerkt auch die Urheber trennt - die mannigfachen Rückschlüsse, die sich von Graffiti auf Lebenserscheinungen unserer Zeit ziehen lassen - vor allem schiießlich Entwicklungslinien und -möglichkeiten der "Graffiti-Kunst" als einer Tendenz innerhalb der dekorativen Richtung. Was wir zum letzten Punkt ermittelten, empfanden wir als Anreiz, uns einzumischen, uns helfend und fördernd einzumischen. Viele der Hamburger Graffiti-Künstler drängen zur Legalisierung, wünschen 3


sich·freigegebene Wände, um darauf ihre Werke anbringen zu können, ohne Furcht und ·ohne Hast. Während wir unsere erste Aktion in der Absicht organisiert hatten, mit Sprayern in Kontakt zu kommen, sollte unsere zweite Aktion hauptsächlich dem Ziel der Legalisierung dienen. Wir dachten, wenn eine eintägige genehmigte Aktion auf überschaubar begrenzter Fläche erfolgreich verlief, so würden wir dies als gutes Argument verwenden können, wo immer wir als' Anwälte' der Sprayer aufträten. Die Aktion war erfolgreich. Die Akteure respektierten im großen und ganzen die Flächenbegrenzung; es kamen keine Beschwerden von Nichtbeteiligten; die unsres Erachtens zumeist recht ansehnlichen Werke fanden Beifall bei zahlreichen Leuten, die gewiß keine ausgesprochenen Graffiti-Fans sind. Mit diesem Bändchen möchten wir in erster Linie den Erfolg unserer Aktion einem größeren Personenkreis - nicht zuletzt den fü·r Wand-Freigaben Zuständigen - bekannt und anschaulich machen. Wir höffen, daß es als ein Plädoyer für die - bedingte -Legalisierung der Graffiti-Kunst verstanden wird. Wir haben uns auch deshalb für diesen inhaltlichen Schwerpunkt entschieden, weil wir keine Chance sehen, in einer erschwinglichen Publikation einen angemessenen Extrakt unserer umfangreichen Bild- und Textdokumentation zu geben, in der wir die Ergebnisse unserer Untersuchung dargelegt haben. (Die Dokumentation kann entliehen werden. Auskunft geben Herr Stiller in der Hamburger Kulturbehörde und die Autoren in der Geschichtswerkstatt Barmbek.) Einschränkend ist zu unserer Darstellung anzumerken, daß sie im vollen Umfang nur für den Hamburger Raum gilt, in dem wir unsere Beobachtungen angestellt und unsere Nachforschungen betrieben haben. In anderen Regionen der Bundesrepublik mag sich die Sprayer'Szene' mehr oder weniger von der, die wir kennengelernt haben, unterscheiden. (Einen knapp gehaltenen überblick über Graffiti in den USA, der Bundesrepublik und anderen Ländern gibt Helmut Kreuzer in seinem im Heyne-Verlag erschienenen "Graffiti-Lexikon".)

4


Der Begriff Graffiti ist im hier vorliegenden Text überwiegend in demselben weiten Sinne benutzt, in dem er den Gegenstand unserer Studie bestimmte: er schließt alles ein, was von den "Sprayern" oder "Writern" auf Wänden und anderen öffentlichen (in den öffentlichkeit wahrnehmbaren) Flächen angebracht wird, von 'gestylten' Monogrammen und Signaturen über bildartige Gestaltungen und kunstlos ausgeführte Wortfolgen (mit gesellschaftlicher , 'Botschaft' oder privaten Inhalts) bis zu bloßen 'Kritzeleien', oft gedankenlos hingeschmierten - alles das in Farbsprüh- oder Filzstifttechnik. Obwohl es fließende übergänge gibt - gerade auch an 'unserer' Barmbeker Mauer - verstehen wir bildähnliche Graffiti doch als eine Erscheinung, die prinzipiell andersartig ist als herkömmliche Wandbilder (vgl. S. 9). Bei den übrigen Graffiti ist die Andersartigkeit so offensichtlich, daß sie gar keiner Erwähnung bedarf. Unsere erste Aktion hatten wir schon für das Frühjahr 1987 geplant. Wir mußten sie jedoch verschieben, weil die Sprinkenhof AG uns die Genehmigung verweigerte. Die Sprinkenhof AG ist eine Gesellschaft, die ein Großteil der städtischen Grundstücke in Hamburg verwaltet (mit den daraufstehenden Gebäugeß" yersteht ' sich). So ist sie auch für die unansehnliche alte Fabrikmauer in der Nähe des - Bahnhofs Barmbek zuständig, die wir für unse~e_-Aktion ausersehen hatten. Die Mischung aus Voreingenommenheit2!l,!.1:~., verschwommenen Besorgnissen, der wir bei der Sprinkenhof-Direkti~~ begegneten, gab uns eine erste Kostprobe der Widerstände;"die es auf dem Weg zur Legalisierung zu überwinden gilt. Die Fürsprache des Ortsamtsleiters von Barmbek-Uhlenhorst, Herrn Nebels, war es schließlich; .die die Sprinkenhof-Direktion zur Zustimmung bewog. Für die Ankündigung der Aktion ließen wir ziemlich kostspielige mehrfarbige Plakate drucken, die wir an Jugend-Freizeitstätten, Schulen, Galerien, Kulturzentren, Kneipen verteilten. Aber vor dem Veranstaltungs tag konnten wir keinerlei Resonanz verzeichnen. Daß viele Sprayer kommen würden, erwarteten wir nicht, denn wir rechneten mit ihrer Furcht, von der Polizei registriert zu werden, wenn sie so offen aufträten. Wäre der Zulauf allerdings doch sehr groß ~- . _~

5


geworden, hätten wir fürchten müssen, daß die Abmachungen nicht eingehalten werden würden. Die verfügbare Mauerfläche war nämlich klein und dazu zu mehr als der Hälfte fürs Besprühen ziemlich untauglich. Die Folgen hätten recht unangenehm für uns werden können, da wir schadensersatzpflichtig waren, falls während der Aktion nicht-freigegebene Wände im näheren Umkreis 'verunziert' wurden. Die Aktion verlief völlig komplikationslos. Nur eine Handvoll Sprayer war aktiv, in der Mehrzahl keine Könner. Immerhin entstand an einer Bücherhallenwand nebenan (s. Abb. 2); die einzubez,iehen uns zwei Tage zuvor noch gestattet worden war, ein riesiges Graffito, das sich auch in Anbetracht seiner gestalterischen Qualitäten sehen lassen konnte. Unter den Zuschauern waren mehrere Reporter von Zeitungen und Rundfunksendern, die in den Arbeitspausen ein paar kurze Gespräche mit Sprayern führen konnten, obwohl diese sich erwartungsgemäß nicht sehr zugänglich zeigten. Alles in allem mögen es dreißig, vierzig Zuschauer gewesen sein, einige von ihnen vermutlich in Wirklichkeit 'Aktive', die nur diesmal ihr Sprühwerkzeug zu Hause gelassen hatten, um sich nicht der Gefahr des Identifiziertwerdens auszusetzen. Unseres Wissens erregten die Graffiti, auch in den Wochen und Monaten danach, bei niemandem Ärgernis. Das große Werk an der Bücherhallenwand wurde von etlichen Barmbekern, die sich uns gegenüber äußerten, ausgesprochen gut aufgenommen. . Wir hatten nun einige Sprayer kennen gelernt, allerdings nur sehr flüchtig und oberflächlich. Aber wir wollten behutsam vorgehen, damit wir das vielleicht entstehende Vertrauen nicht gleich wieder gefährdeten. Jedenfalls hatte sich durch unSere Aktion - so meinten wir bestätigt, was bislang nur eine wohlbegründete Vermutung war. Daß es nämlich, grob gesprochen, zwei Arten von Graffiti und - als deren Urheber - zwei Arten von Sprayern gibt, die außer Arbeitsflächen und Werkzeug so gut wie nichts 'gemein haben. 6


Auf der emen Seite stehen die 'Aussage-Graffiti', Worte, Satzbrocken, Sätze, die eine Art Botschaft enthalten (ob nachvollziehbaren Sinnes oder nicht). Sie sind in der Regel kunstlos hingeschrieben, ohne Rücksicht auf gestalterische Qualitäten - ausgenommen allenfalls Auffälligkeit und Lesbarkeit. Die 'Botschaft' ist sehr oft eine im weitesten Sinn politische. Die Urheber der politischen 'Sprüche' sind wahrscheinlich Jugendliche und junge Leute, und zwar solche, die sich ganz und gar nicht der Masse der mehr oder weniger angepaßten Bürger zugehörig fühlen. Neben den politischen 'Botschaften' gibt es die 'Botschaften' privaten Inhalts (s . Abb. 22). Diese sind überwiegend in kleinerem Format ausgeführt, und vielfach treten sie als bloße 'Kritzeleien' auf. (Wo wir im folgenden von 'Botschaften' sprechen, ist vorwiegend an solche politischen Inhalts gedacht.) Auf der anderen Seite stehen die dekorativen Graffiti, zu denen wir auch die "tags" *), die 'gestylten' signaturähnlichen Zeichen .zählen (s. Abb. 19 u. 20). Jeder Sprayer oder Writer, der etwas auf sich hält, arbeitet ein unverwechselbares "tag" aus. Die Hauptgruppe der dekorativen Graffiti stellen die bildartigen, meist großflächigen Gestaltungen dar, "pieces" **) genannt, deren in. Iia~burg absolut vorherrschende Spielart us-amerikanischen Vorbildern folgt (s. Abb. 7). Ihr bestimmendes Formelement sind mehr oder \v~~ger-verzierte und verfremdete Buchstaben (s. Abb. 17). Den mancn!Jlal unen-tzifferbaren Buchstaben sind häufig comicartige Figuren oder -Figu~enteile beigegeben, die für unser Empfinden jedoch selteri>stilistisch integriert sind (s. Abb. 1 u. 12). Zwischen comic strips, in denen bestimmte Figuren mit zackiger oder blasiger Schrift vereint sind, .und ornamental stilisierten "pieces" liegt eben schön ein großer Abstand. "Pieces" der beschriebenen Art enthalten so gut wie nie eine ver*) "Tag" bedeudet im amerikanischen Englisch u. a. Kassiber, Nummernschild, Erkennungsmarke (z. B. "clog tag Bei dcn Spraye rn oder Weitern in New York bürgerte sidt "tag U

U

).

als Ausdruck für ihre 'gestylten c (meist verschnörkelten) Signaturen ein. Signiert wurde in der Regel mit einem Kürzel des Deck- oder Künstlernamens.

**) "Piece" ist als Spray er-Ausdruck in New York aufgekommen. Es ist die Verkürzung von "masterpiece" (Meisterstüc:k); so wurde das großformati ge bildähnliche Graffito eines "Meisters" genannt, eines gestalterisdt perfekten Sprayers.

7


bale 'Botschaft', obschon Sie mitunter symbolisch etwas aussagen (s. Abb. 18). Die dekorativ arbeitenden Sprayer sind, wie gesagt, von ganz anderem Schlage als die 'Botschaft'-Schreiber. Da wir uns mit keinem von den letzteren unterhalten haben, können wir beide Gruppen nur mit der sich daraus ergebenden Einschränkung vergleichen. Zudem sind beide in sich alles andere als einheitlich. Im dekorativen 'Genre' bestätigen sich last ausschließlich männliche Jugendliche. Sie sind kaum jünger als vierzehn und kaum älter als Anfang zwanzig (s. Abb. 4). Daß 'Botschaften' auch von Frauen geschrieben werden, beweisen die Barmbeker Frauen-Losungen (s. S. 21). Und die Denkungsart, in der wir den eigentlichen Antrieb zum 'Botschaft'-Schreiben vermuten, dürfte nicht so ganz selten auch noch bei Zwanzig- bis Dreißigjährigen anzutreffen sein. Diese Denkungsart ist durch die totale Ablehnung des Bestehenden gekennzeichnet: der bestehenden Gesellschaft, des bestehenden (oder jeden) Staats. Mit der Ablehnung paart sich das Leiden am Bestehenden, das in Verzweiflung und Haß übergeht. (So erklären sich Parolen wie "Kugel für Pawelczyk" - s. Abb. 26.) Die unerhörte Erbitterung und die tiefe Hoffnungslosigkeit, die sich manchmal ausdrücken, mögen daher rühren, daß die Schreiber im Bestehenden die Zerstörung allen Lebens und aller Zukunft mit eingeschlossen sehen. Die 'Dekorativen' finden Befriedigung im Sprühen selbst, im kreativen Tun. Ihnen ist am Werk und seiner ästhetischen Wirkung gelegen. (Daneben spielen freilich noch andere Beweggründe eine Rolle: der Wunsch, natürlich, nach Anerkennung, zumindest in 'Fachkreisen' - das Bestreben, in der öffentlichkeit durch "pieces" und "tags" eindrucksvoll präsent zu sein - schließlich auch die Lust an Abenteuer und Gefahr.) Die 'Botschaft'-Schreiber wollen sich nicht kreativ-gestalterisch verwirklichen. Ihre Graffiti sind für sie ein Mittel zum Zweck. Einmal wollen sie eben die 'Botschaft' übermitteln. Zum andern- öffnen viele wahrschein'Iich sprayend oder schreibend ein seelisches Ventil, befreien sich von Leidens- und Aggressionsdruck (oder aber putschen sich im Gegenteil selber noch mehr auf). 8


Bei den 'Dekorativen' gibt es so etwas wie - wenn auch lockere und offene - innere Zirkel. Die zünftigen "Surfer" (s. S. 11) z. B. und die Graffiti-Künstler, wie sie in Anbetracht ihres Selbstverständnisses und ihrer Leistungen zu Recht genannt werden dürfen, bilden solche 'Zirkel'. Ober die Schreiber privater 'Botschaften' (wie beispielsweise "Marco, ich liebe dich" - s. Abb. · 22) können wir noch weniger sagen als über die politischen Schreiber. Die privaten Inhalte lassen wenig Rückschlüsse zu. Unser Interesse konzentrierte sich mehr und mehr auf die dekorativen Graffiti und ihre Urheber. Die dekorativen Graffiti sind eine relativ neuartige und zum gut Teil - wie wir meinen - reizvolle und anerkennenswerte Erscheinung. (Die Neuartigkeit ist im tiefgreifenden Unterschied zwischen Graffiti und herkömmlichen Wandbildern begründet. Die Grenzen sind allerdings, so tief der Unterschied geht, fließend. Nicht in erster Linie auf ·dem unkonventionellen 'Mal'-Werkzeug, sondern auf ·den stilistischen Eigenarten der GraffitiKunst [so auch S. 16] beruht der Unterschied. Vielleicht liegt die Besonderheit des Graffito eigentlich daril,!, daß im Wandbild die Stilrichtungen der jeweiligen Zeit wiederkeh~en, während im dekorativen Graffito ein eigener Stil entwickelt worcferd st:) Aussage-Graffiti dagegen sind seit Jahrhut+derten im Schwange. Man braucht nur an eingeritzte Liebesschwür~'-zudenke~ und an öffentlich angebrachte Parolen, mit denen Parteienkämpfe ausgetragen wurden. Im Gegensatz zu den privaten Botschaften sind die politischen Graffiti immerhin insofern beachtenswert, als sie. :- vielleicht menetekel ähnlich - die Denkungsart einer nicht unwichtigen Minderheitsgruppe und damit etwas vom Zustand unserer Gesellschaft widerspiegeln. Vielleicht sollte der Begriff Graffiti angesichts der beschriebenen Verschiedenartigkeit der Erscheinungen vorzugsweise in einem engeren Sinn und dann eingeschränkt auf dekorative Graffiti gebraucht werden. Wir wollen uns im folgenden jedenfalls hauptsächlich mit diesen - und ihren Urhebern - beschäftigen. 9


Einige Wochen nach der Aktion sprach uns bei einem zufälligen Zusammentreffen ein Jugendlicher an; wie sich später herausstellte, war er die 'treibende Kraft< der Hamburger "EGU«. Dieser 'Ableger' der Europäischen Graffiti-Union (abgekürzt EGU) war kurz zuvor von einigen Spraye rn gegründet worden, die es leid waren, bei ihrer Betätigung ständig das Ertapptwerden fürchten und empfindliche Strafen gewärtigen zu mUssen. In der "Union« wollten sie gemeinsam sich um Freiräume bemühen, in denen sie ihre Kunst legal ausüben konnten. Ober die "Union" sollten auch Auftraggeber gefunden werden, die Flächen zur Verfügung stellten, aber außerdem für die Arbeiten zahlten. Sprayen ist kein ganz billiges Hobby; daß Jugendliche, die ihm nachgehen, sich bezahlte Aufträge zu beschaffen versuchen, . ist allein deshalb schon verständlich. Manche Sprayer aus dem EGU-Kreis träumen allerdings anscheinend vom großen Geschäft. Wir sehen keinen Anlaß, das zu bedauern oder zu verdenken. Weshalb sollte Graffiti-Kunst nicht wie andere Kunst 'nach Brote gehen'? Ob die einträgliche Vermarktung gelingt, ist freilich eine andere Frage. Auf Wunsch Bs. (so wollen wir unseren ersten Bekannten von der EGU nennen) kam ein Gespräch zwischen uns bei den, zwei Mitarbeitern der Kulturbehörde und dem Barmbeker Ortsamtsleiter zustande. Diskutiert wurde, ob und wie Behörden helfen könnten (und sollten), daß Wände .zum Besprühen freigegeben werden. Alle Beteiligten kamen schließlich überein, daß sich die Behördenvertreter jedenfalls nur dann ins Mittel legen würden, wenn Spray er selber bestimmte Wä~de zu 'gestalten< beabsichtigten und sich um die Genehmigung bemühten. Die Initiative im Einzelfall sollte von den Sprayern und nicht vom 'Staat' ausgehen. B. sprach, wie er uns selbst erklärte, nur für einen Teil der Hamburger Sprayer (d. h. einen Teil der 'Dekorativen'), wenn er für Legalisierung der Graffiti-Kunst warb und die Absicht bekundete, sich mit Behörden zu arrangieren. Daß sich die Sprayer in diesen Punkten nicht einig waren, manche vielleicht auch in ihrer Meinung schwankten, erschien uns sehr verständlich, denn soviel wir wissen, ist 10


es eine Mischung verschiedener Beweggründe, aus denen die Sprayleidenschaft resultiert. Konsequent verfolgt, ·müssen die miteinander verquickten Neigungen der Sprayer in Widerstreit geraten; zu dieser Einschätzung gelangten wir schon damals, und sie hat sich seither entschieden verfestigt. Der am stärksten wirkende Antrieb ist doch wohl das Verlangen, etwas zu schaffen, zu gestalten: ein kustvolles Gebilde. Ein gelungenes und gelingendes Graffito läßt den Sprayer die spezifische Befriedigung empfinden, die eben nur eine kreative Tätigkeit gewährt. Wie die meisten Künstler wünschen sich die Sprayer Beachtung und Anerkennung. Deshalb bringen sie ihre Werke gern an · Stellen an, wo sie von vielen Menschen gesehen werden können. (Für die Masse des 'Publikums' bleiben sie freilich bei größter Bekanntheit ihrer Werke in der Anonymität.) Das Streben nach Beachtung äußert sich jedoch auch in einer Form, die über Künstlerehrgeiz hinausgeht und von ihm wegführt. Teils wenigstens sind es ein und dieselben Sprayer, die durchgestaltete Graffiti anbringen und andrerseit ihre "tags" ausstreuen und an S-Bahnzügen "surfen". Was sie zum ~~ürf.el)." urid' " Taggen" treibt, ist eine Art Wettstreit, wer am eind.[!l~vollsten in der öffenlichkeit der Stadt präsent ist. "Tags" sind di.e~~g~st~lten' individuellen Signaturen der Sprayer (oft an fremditr.Üg~ Schriftzeichen erinnernd), die in großer Zahl angeschrieben oder -gesprüht werden. Das geschieht vielerorts in der Stadt, an ma;}chen Orten aber außerordentlich gehäuft. An den Sitzbankverschlägen auf einigen Bahnsteigen der S-Bahnlinie nach Pinneberg ver~ließen ' zahllose "tags" zu einem wirren ornamentalen Muster (s. Abb. 21). Auch viele auswärtige Sprayer haben sich hier eingetragen. Die Hamburger Sprayer nennen diese Bankverschläge "halls of fame'\ Ruhmeshallen. Auch das "Surfen" wird vorzugsweise auf der Pinneberger Strecke betrieben. Die "Surfer" hängen außen an fahrenden S-Bahnwagen gewissermaßen im Luftstrom gfeitend - und sprühen Graffiti an. Die Linie nach Pinneberg gilt in Sprayerkreisen als die "line" in Hamburg. Kein Fahrgast kann die Graffiti übersehen, die hier an 11


ihm vorüberziehen: an Mauern entlang der Strecke, auf Bahnsteigen, in Schalterhallen, an Zügen (s. Abb. 17). Im' "Surfen" lernen wir die Freuden eines Sprayers von ihrer dritten Seite kennen. Wer hätte nicht in einem gewissen Alter einmal den Reiz des Wagnisses, des Verstoßes gegen beengende Regeln einer vorgefundenen Welt verspürt? Oder ist die Empfänglichkeit für diesen Reiz eher ein ve'rinnerlichter Bestandteil des männlichen Rollenklischees? Für manche Sprayer jedenfalls scheint das Spiel mit der Gefahr eine große Anziehungskraft zu haben, und daß es unter ihnen fast gar keine Mädchen gibt, mag eben durch den Nimbus von Wagnis und Abenteuer bedingt sein, der dem Sprayen anhaftet. Auch in einigen Namensgebungen der Sprayer (wie z. B. "adventure crew") drückt sich dieser Nimbus aus. In der Tat ist das Graffiti-Sprayen bis heute fast immer, weil es illegal geschieht, mit einem Risiko verbunden, und wer gefaßt wird, dem drohen unter Umständen empfindliche Strafen. Es liegt auf der Hand, scheint uns, daß die verschiedenen Ambitionen und Freuden der Sprayer gar nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Beim "Surfen" ist sorgfältige Ausführung eines Graffito ziemlich ausgeschlossen. Aber auch sonst ist, wenn man ständig vertrieben oder angezeigt zu werden fürchten oder wenn man nachts bei schlechter Beleuchtung sprayen muß, eine konzentrierte und fruchtbare schöpferische Arbeit äußerst erschwert. Der Wunsch, durch Vielzahl der eigenen Graffiti aufzufallen, und der Wunsch, durch künstlerische Vervollkommnung zu beeindrucken, widersprechen sich zwar nicht zwingend, doch Quantität und Qualität können sich wechselseitig keinesfalls ersetzen. Fazit: alle diejenigen, die Graffiti-Künstler sein oder werden wollen, müßten unseres Erachtens die Legalisierung anstreben. Alle Sorgen, durch die Legalisierung könne etwas verlorengehen. halten wir für unbegründet. Die 'Dekorativen' unter den Sprayern betätigen sich nicht;- in gesellschaftsverändernder oder gar -umwälzender Absicht. Wer bei ihnen ein "subversives Potential" vermutet, verkennt die Wirklichkeit, projiziert vielleicht eigene Wunschvorstellun12


gen in sie hinein. Wenn in der Graffiti-Kunst ein potentiell subversiver Zug liegt, so ist es derselbe, der vielen neuzeitlichen Künstlern eignet, insofern sie nämlich vom Willen erfüllt sind, sich kreativ zu verwirklichen, auch gegen Konventionen, Widerstände und Sanktionen. Im übrigen hat alles, was am Treiben . der 'Dekorativen' Regelverstoß und Gesetzesübertretung ist, nach ·unserem Eindruck mehr mit Räuber-und-Gendarm-Spiel als mit subversiver Aktion zu tun. Allerdings ist zuzugestehen, daß auch das Spiel mit der Gefahr als eine Art Selbstverwirklichung empfunden werden kann, und vielleicht beziehen viele Sprayer aus bei den Formen der Selbstverwirklichung eine überdurchschnittliche Persönlichkeitsstärke. Den meisten, mit denen wir gesprochen haben, meinen wir eine solche Stärke anzumerken. Sie haben dem Anschein nach nichts von Außenseitern, Benachteiligten, Randexistenzen an sich. Daß das Sprayen für sie ein Lebensinhalt, ein Stück Erfüllung ist, läßt sich leicht nachfühlen. Möglicherweise wappnet es sie auch gegen Gefährdungen und Versuchungen (etwa Alkohol-, Drogen-, Spielsucht), für die sie sonst vielleicht anfälliger wären. B~i_ - .g~r nicht' wenigen Sprayern haben wir einen Anflug von eine~Jeradezu elitären Selbstgefühl verspürt. " . - Ungeachtet alles dessen müssen sie, solange d~s Sprayen .-:- und das heißt auch die Graffiti-Kunst - kriminalisiert i;;:st~ridig fürchten, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten;" und zwar auch dann, wenn sie dies Risiko nur als unvermeidliches übel und nicht als genußvollen 'Kitzel' empfinden. Ergebnis unserer Feststellungen, EindrüCke und überlegungen war - und ist -, daß es im Interesse der Sprayer liegt, ihnen Möglichkeiten zu schaffen, ihre Kunst in legaler Weise auszuüben. Einen Nebeneffekt der Legalisierung sollten diejenigen, die für die Freigabe von Wänden verantwortlich sind, nicht außer acht lassen: ein Graffiti-Künstler, der genügend Gelegenheit hat, legal zu sprayen, wird nicht mehr 'wild' arbeiten (sofern es ihm in erster Linie um die kreative Betätigung geht). Das 'wilde', nicht 'kanalisierbare' Sprayen 13


wird infolge emer · bedingten Legalisierung mithin abnehmen. Abnehmen, nicht aufhören, denn jene 'Dekorativen', die sich keinen Vorschriften fügen wollen oder gerade den Reiz des Verbotenen lieben, ferner die untalentierten überall-und nirgends-'Kritzler' und vor allem die große Mehrzahl der 'Botschaft' -Schreiber - sie alle werden weiter sprühen und schreiben, wo es ihnen gefällt. Bis Graffiti irgendwann aus der Mode kommen. Bis heute geben (im Hamburger Raum) fast allein Aufträge Gelegenheit zum legalen Sprayen (s. Abb. 1). Die Kommerzialisierung kann nun in der Tat die Eigenart der 'wild' ausgeübten GraffitiKunst erheblich beeinträchtigen. Auf die mit der Kommerzialisierung verbundenen Fragen können wir hier nicht eingehen. Sie sollten jedenfalls nicht mit den von uns in Bezug auf die Legalisierung erörterten Fragen vermengt werden. Unsere zweite Graffiti-Aktion hat uns bewiesen, daß es bei Hamburger Sprayern - über den Kreis der EGU hinaus - ein eindeutiges Bedürfnis gibt, ihr Können auf dafür freigegebenen Wänden zu erproben. - Bevor wir jedoch davon berichten, wollen wir noch ein Projekt streifen, das sich zwar zerschlagen, uns aber trotzdem ermutigt hat, weil es bestätigt, daß auch viele Verantwortliche (von denen Wand-Freigaben abhängen) nicht mehr so geringschätzig und ablehnend über dekorative Graffiti urteilen, wie es noch vor wenigen Jahren üblich war. B. teilte uns mit, er habe vor, mit einigen anderen EGU-Mitgliedem die Wände einer langen Unterführung beim S-Bahnhof Elbgaustraße zu besprühen. Er bat uns, ihnen die Genehmigung zu verschaffen. Ein gewaltiges Vorhaben, das die EGU allein schon für Sprayfarben eine beträchtliche Summe gekostet hätte! Die Arbeit ~äre wegen der sehr schmalen Bürgersteige sicher schwierig geworden. Und wer sollte die Werke in Muße betrachten? Unter anderm die Autofahrer morgens und abends im Stau, war die Antwort. Es sollte vor allem wohl ein gigantisches Werk werden, und es sollte an der "Iine" (s. S. 11) entstehen. - Nun gut: die Wände gehören der Bundesbahn, wir erklärten uns bereit, vorzufühlen. 14


Das wurde em langwieriges Unternehmen. Doch schließlich war man in der Bundesbahn~Direktion Hamburg anscheinend gewillt, eine Abmachung zu treffen, unter Bedingungen allerdings, von denen eine - obwohl nicht ganz unbillig - nur sehr -schwer erfüllbar war. Von zuverlässiger Person oder Stelle sollte für die Kosten eines Neuanstrichs gebürgt werden. In zwei oder drei Jahren sollte von der Bundesbahn-Direktion entschieden werden, ob die Graffiti tatsächlich von den Unterführungswänden verschwinden müßten oder daranbleiben könnten. An dieser Bedingung ~cheiterte das Vorhaben denn auch. Wir beide hatten es uns zur Richtschnur gemacht, nur zu vermitteln, nicht aber die Sache der Sprayer stellvertretend in die Hand zu nehmen. Anders vorzugehen wäre uns ohnehin schwergefallen, denn zu Parteien und Behörden in Altona, an die der Bürgschaft wegen wohl hätte appelliert werden müssen, hatten wir so gut wie gar keinen Kontakt. Eine unerwartete Duldsamkeit gegenüber dekorativen Graffiti haben wir übrigens auch bei unseren Befragungen für die Studie festgestellt. Teils erklärten die ziemlich wahllos von uns angesprochenen 'Menschen von der Straße', daß sie gelegentl~ch- : a!1 einem gekonnt gestalteten Graffito durchaus Gefallen finden, ,, teils zeigten sie sich einfach abgestumpft gegen die Wirkung dekorati~~~Graffiti. (Einige äußerten natürlich auch empörte Ablehnung.) Di~-B~deutunKsolcher Abgestumpftheit sollte man nicht geringschätzen. Sdtließlich beruht die, breite Rezeption fast jeder neuen Kunsfrichtung zu .einem gut Teil auf Gewöhnung. Gleiche Abgestumpftheit haben wir übrigens gegenüber Graffiti jeder Art - auch den kunstlos geschriedenen 'Botschaften' und den 'Kritzeleien' - registriert (s. Abb. 16). Daraus ist zu folgern, daß die 'Botschaften' viel von ihrer provokativen und appellativen Wirkung eingebüßt haben. Alles in allem zeigt die gewachsene Akzeptabilität (im PolitikerKauderwelsch: Akzeptanz) der Graffiti-Kunst an, daß die Zeit für eine bedingte Legalisierung reif ist. Die zweite Barmbeker Aktion und ihre Nachwirkungen haben uns in der Auffassung, daß die Legalisierung machbar ist, und zwar

15


jetzt, entschieden bestärkt, und sie eignen sich, wie wir meinen, vortrefflich, dies auch anderen - sogenannte Entscheidungsträger eingeschlossen - vor Augen zu führen. pie zweite Barmbeker Graffiti-Aktion fand an demselben Ort wie die erste statt. Wir hatten sie mit dem Fest "Barmbek international" zusammengelegt, das immer am 30. April auf einem Teil des Fabrikgeländes veranstaltet wird. So war zumindest für genügend Zuschauer gesorgt. Obwohl wir eher weniger geworben hatten, kamen diesmal mehr Sprayer, und es waren mehr Könner unter ihnen als beimerstenmal. Sie hinterließen fünf bis sechs Werke von beachtlicher Qualität und erstaunlicher stilistischer Vielfalt. Weitere vier oder fünf "pieces" waren immerhin keinesfalls als Geschmier zu bezeichnen. Was auf den restlichen besprühbaren Flächen zurückblieb, könnte wohlwollend Fingerübung genannt werden. Zum technischen Gelingen trug übrigens der Umstand bei, daß wir die Fabrikmauer beidseits mit Wandfarbe hatten grundieren lassen, wodurch die Sprühfarbe gut darauf 'stande. Allgemein dominiert in Hamburg, wie schon kurz erwähnt, unter den dekorativen Graffiti ein Typ, den drei bildnerische Elemente kennzeichnen: die aus verfremdeter Schrift gewonnene Zeichnung, die comicartigen Figuren ("characters"), die Bewegung des 'Bilde-Grundes. Letztere ist genauer zu beschreiben als Auflösung der Flächen, die durch ein buntes Aufeinanderprallen und Ineinanderfließen der Farben und ein wirres darübergelegtes Linienmuster bewirkt wird. So erzeugt die Feinstruktur eine Unruhe, die vielfach die Konturen im Graffito gleichsam überspült. Exemplarisch realisierte diesen Typ eine Sprayergruppe an der Stirnwand des Bücherhallen-Anbaus (s. Abb. 5, 7, 8). Dort hatten dieselben Kiinstler schon beim erstenmal ein Kolossalwerk angebracht, und nun sprühten sie die weiße Vorzeichnung für ihr neues Werk ohne ~orherige Grundierung direkt auf das alte. Es entstand ein für unsere Augen kaum entwirrbares Durcheinander, aus dem sie mit bewundernswerter Virtuosität ein gelungenes Graffito herauftauchen ließen (s. Abb. 6). Uns gefiel es besser als sein Vor-

16


gänger, weil es frei von Comicfigur-Einsprengseln war und weil es - obwohl nicht weniger grell - farblich feiner abgestimmt war. Einen hochentwickelten feinen Farbsinn besitzen offenkundig viele Graffiti-Künstler, und wenigstens dadurch sollten sie auch manche Betrachter für sich einnehmen, die ihren Hervorbringungen sonst nichts abgewinnen können. Wie die Gruppe an der Bücherhallenwand arbeiteten auch einige andere Sprayer nach mitgebrachten Skizzen (s. ' Abb. 3). An den Skizzenhe/ten, mit denen mehrere hantierten, konnten wir sehen, daß diese Arbeitsweise keine seltene Ausnahme ist. Sie widerlegt schlagend die Mär von der herrlichen Spontaneität der Graffiti-Künstler. Den beschriebenen in Hamburg vorherrschenden Typ repräsentierte - in einfacherer Ausführung - auch ein langgezogenes Graffito an der Außenseite der Mauer (s. Abb. 9). In ganz anderem Stil war das "Star"-Graffito (s. Abb. 10 u. 4) an der Innenseite gestaltet: Die Buchstaben waren nur behutsam 'gestylt'. Sie hoben sich klar von dem in wenige Flächen aufgeteilten Grund ab. Jede Fläche war in einem Farbton gehalten, ohne jede Abstufung innerhalb der Fläche. Mit der SchHc!nh~it des Aufbaus harmonierte der beinah' erlesene Farbklang, der ,sich aus Violettönen ~-Silber und ein wenig Grün zusammensetzte. Stilistisch ebenso ungewöhnlich und farblich e~~so reizvoll war ein anderes Graffito an der Innenseite, das in voll~-HÖhe vo~ einer aufsteigenden Phantasiegestalt ausgefüllt wurde (s. Abb. 13). Vielleicht ein Spuk wesen, ein Geist aus der Sprühdose? Schwer zu sagen. Für uns schien die Gestalt eine gewisse Komik zu haben, ohne -doch lächerlich zu wirken. Mit den gewohnten c'omicähnlichen Figuren hatte sie nichts gemein. Wenn das von Comic inspiriert war, dann von Comic mit Niveau. Worin sich Sprüh-'Bilder' wie das eben besprochene von herkömmlichen Wandbildern unterscheiden, ist kaum auszumachen. Vollends vergessen machte diesen Unterschied ein anderes Werk, das insgesamt zwar nicht sehr beeindruckend, aber .stilistisch insofern bemerkenswert war, als es eine ungegenständliche Komposition darstellte 17


(s. Abb. 11). Nun sind ja manche Graffiti sozusagen auf dem Weg zur ungegenständlichen Komposition. Auch 'unser' Kolossal-Graffito z. B. (Abb. 7). Je unerkennbarer die Buchstaben sind, je differenzierter die Struktur ist, desto mehr ist der Betrachter geneigt, das Graffito als ungegenständliche Komposition aufzunehmen. Das Sprüh-'Bild' (Abb. 11), von dem jetzt die Rede ist, war - um in der Metaphorik zu bleiben - angekommen, war ungegenständliche Komposition. Das "Ayatollah"-Graffito (Abb. 12) schließlich kam wieder dem vorherrschenden Typ sehr nahe. Die vertraute comicähnliche 'Visage' erinnerte uns hier an einen Ayatollah, daher die Bezeichnung. Die Farbgebung war eigenwillig und ansprechend. Die eigentliche Besonderheit lag in einer Art psychedelischer Beschwingtheit, die - unterstützt durch die Farben - wohl vor allem durch kurvige Linienführungen hervorgerufen wurde. Die hier in Barmbek entstandene Graffiti-'Freiluftgalerie' hatte nicht lange Bestand. Wir sahen es mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Die Barmbeker Mauer wurde rasch zu einem Anziehungspunkt, gleichsam einem Wallfahrtsort, für Sprayer. Plötzlich waren ein, zwei neue hastig hingeworfene Graffiti da. Zahlreiche "tags", Kritzeleien, Kommentare wurden angebracht, immer häufiger auf den vorhandenen Graffiti. So wurden einige bald unkenntlich (s. Abb. 14). Nur die gelungeren wurden lange respektiert. Heute sind nur noch das Kolossal-Graffito und eines an der Außenseite der Mauer leidlich erhalten, wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb, weil die Sprayer außerhalb des Hofes ohne Deckung arbeiten mü'ssen. Die übrigen Graffiti sind teils mit neuen Werken überdeckt und teils völlig verunstaltet. - Anstelle des "Ayatollah"-Graffito, dessen Vernichtung uns wirklich schmerzt, prangt an der Schuppenwand im Fabrikhof jetzt eine höchst ungewöh~liche und anziehende Komposition (s. Abb. 15). Sie kann wohl als ungegenständlich angesehen werden, obgleich die Struktur möglicherweise aus Buchstaben entwickelt ist.

18


Allmählich sind einige Sprayer dazu übergegangen, an der Hofseite in aller Ruhe zu arbeiten. Fast ist hier schon ein Zustand eingetreten, wie er nach unserer Vorstellung durch eine bedingte Legalisierung geschaffen werden sollte. Dieser Erfolg übertrifft bei weitem unsere Hoffnungen. Möglich wurde er zum einen durch die Selbstdisziplin der Sprayer, zum andern durch das Verständnis und die Nachsicht der Mitarbeiter vom: Museum 'der Arbeit. Das Museumsgebäude steht auf dem Hof der Mauer am nächsten. Anfangs wurden einigemal auch - sehr kleinflächig - Wand und Türen des Museums besprüht. An der Bücherhallenfassade, dort, wo sie im Winkel an das KolossalGraffito stößt, tauchten ebenfalls ein paar Kritzeleien auf. Andere 'übergriffe' wurden uns nicht bekannt. Seitdem die Mitarbeiter des Museums Tafeln aufgehängt haben mit dem Aufruf an die Sprayer, doch bitte das Museumsgebäude zu verschonen, ist nichts mehr geschehen, das Anlaß zu Beschwerden gegeben hätte. Offenbar haben die Sprayer eingesehen, daß es sich lohnt, Rücksicht zu nehmen, um nicht eine einzigartige Chance zu verspielen: die Chance, sich in ihrer Weise künstlerisch zu betätigen, ohne ständig Vertreibung oder Strafanzeigen fürch~en -zu müssen, Dies bebeweist, das Sprayer (d. h. die 'Dekorativen? -sich an 'Spielregeln' halten, wenn Sinn und Vorteil für sie ersichtliBl ~~ind.- 'Botschaft-'Schreiber würden sich wohl nicht an 'SpielregeII\~halten. ~ie werden indes von freigegebenen Wänden vermutlich auCIi -~gär ' nicht angero~~ , Man mag uns vorwerfen, daß wir selber durch diese Veröffentlichung den bestehenden Zustand einer 'Unter-der-Hand-Freigabe' aufs Spiel setzen. Falls die Sprinkenhof AG, 'sozusagen der Hausherr, auf diesem Wege erfährt, was vor sich geht, fühlt sie sich womöglich bemüßigt einzuschreiten. Doch wie sollten wir den praktischen Beweis, daß eine bedingte Legalisierung sich bewähren kann, für unser Plädoyer nutzen, wenn wir ihn nicht publik machen? Die örtlich begrenzte Legalisierung wird unausweichlich eine Schwierigkeit, einen Nachteil mit sich bringen. Das hat sich an der Barmbeker Mauer deutlich gezeigt. Kein gelungenes "piece" (durch19


gestaltetes dekoratives Graffito) wird von langer Dauer sein. Jedes wird bald übersprüht werden. (Vielleicht desto später, je vollkommener es ist.) Wenn es denn wirklich unter einem neuen "piece" verschwindet, mag das ja noch leicht zu verschmerzen sein. Oft aber wird es durch allerlei Bruchstücke - z. B. 'Visagen', einzelne 'Schmuckbuchstaben' - oder durch 'Schmierereien' von Nichtskönnern verunstaltet werden. Noch häufiger wird es mit 'Signaturen" von Spraye rn bedeckt werden, die 'zu Besuch' kommen und ihr Signal hinterlassen (im Sinne von " ... was here"). Bei nicht-sprayenden Betrachtern kann dieser Zeichengebdrang schon Gedankenverbindungen zu Vierbeinern auslösen, die ihre Duftmarken setzen müssen. Die Graffiti-Künstler müßten sich mit der Kurzlebigkeit ihrer Werke wohl oder übel abfinden. Inwieweit sie es in einer Art Selbstorganisation zuwege brächten, der bloßen Verunstaltung entgegenzuwirken, müßte sich herausstellen. Sicherlich würden fortwährende Verschandelungen dazu führen, daß ein Legalisierungs-Experiment von der Bevölkerung schlechter aufgenommen würde, jedenfalls wenn es an einer Stelle vor sich ginge, wo es von vielen Menschen verfolgt werden könnte. Dem Argument, daß es Wände genug gibt, z. B. an Unterführungen, die häßlicher gar nicht mehr werden können, als sie sind, würde sich die Mehrheit zum al der älteren Bürger gewiß verschließen. Die Barmbeker Fabrikmauer (s. Abb. 5) ist jedoch hinreichend abgelegen, um kein Krgernis zu werden - für den Geschmack der Graffiti-Künstler vielleicht allzu abgelegen, denn sie wünschen sich ja ein Publikum für ihre Werke. Dennoch, alles in . allem genommen, ist ein geeigneterer Ort für ein LegalisierungsExperiment als die Barmbeker Fabrikmauer schwerlich zu finden. Eine Ausgangsfrage unserer Studie lautete: gehören Graffiti zur Stadtteilkultur? Eine Kulturerscheinung sind Graffiti zweifellos, und zwar auch die 'Botschaften' - und sogar ein Teil der 'Kritzeleien' - , sofern der Kulturbegriff weit gefaßt wird, etwa gleichbedeutend mit Produktions- und Lebensweisen und deren materiell-ideellen Ergebnissen. Selbst bei Anwendung eines verengten Kulturbegriffs müssen die durchgestalteten dekorativen Graffiti als Kulturerscheinung ein20


gestuft werden. Der Stadtteilkultur indes wären sie nur dann zuzurechnen, wenn sie eine kommunikative Funktion im Stadtteil erfüllten. Wenn also Graffiti-Kunst von Stadtteilsprayern für Stadtteilbewohner gemacht würde. Und wenn Stadtteilsprayer 'Botschaften' schrieben, die von Stadtteil bewohnern gelesen und bewußt aufgenommen würden (zumal solche 'Botschaften', die einen Stadtteilbezug haben). - Wir möchten hier in Parenthese zu bedenken geben, daß die Frage, ob etwas zur Stadtteilkultur gehöre, vielleicht gelegentlich überbewertet wird, und zwar aus einem politischen Grunde. Der Stadtteilkultur-Begriff wird, wie uns scheint, bisweilen über seinen eigentlichen Anwendungsbereich hinaus benutzt, um förderungsbedürftige Lebenserscheinungen gewissermaßen emzuschmuggeln, die der traditionell für die Kulturpolitik maßgebliche verengte Kulturbegriff nicht abdeckt. Was aber not täte, wäre; den Kulturbegriff in der Politik zu revidieren und darüber zu diskutieren, welche Bereiche der Kultur Gegenstand der sogenannten Kulturpolitik sein sollten. Die genannten Stadtteilkultur-Kriterien werden von den Hamburger Graffiti in geringem Maße erfüllt. Qie- Masse der Graffiti findet nur noch wenig Beachtung; die meiste~,;Botschaften' dringen wohl selten soweit ins Bewußtsein ein, daß jemah<riich ängesprochen fühlt. Die dekorativ arbeitenden Sprayer sind ,~lemlich J1lobil, ihr Aktionsfeld ist nicht bloß der Stadtteil, in de~ - 'Sie woh~en. Ein inhaltlicher Stadtteil bezug ist nur in einzelnen- Vierteln häufiger festzustellen, z. B. im Umkreis der Hausbesetzer-'Szene'. In Barmbek haben wir einen solchen Bezug_ nur in zwei Fällen gefunden" von denen der eine freilich sehr bemerkenswert' ist. An der alten Gaswerksmauer sind neben vielen anderen Graffiti auch einige Proteste gegen den Bürohaus-Koloß der Volksfürsorge angesprüht, der auf dem ehemaligen Gaswerksgelände errichtet werden sollte (s. Abb. 23). Und nach einem Vergewaltigungs-Mord an einer jungen Frau sind um den Tatort herum zahlreiche Sprühinschriften aufgetaucht, die Frauen zu Gegenwehr und Beistand gegen männliche Gewalt aufrufen (s. Abb. 24 u. 25). Die Inschriften waren in der Nähe des

21


Tatorts (beim Orts amt Barmbek-Uhlenhorst) unübersehbar gehäuft und dann nach Norden hin in abnehmender Dichte bis zum S-Bahnhof Rübenkamp gestreut. Zum großen Teil sind sie noch außergewöhnlich lange lesbar gewesen, d. h.: nicht beseitigt worden. Vielen Stadtteilbewohnern war, wie unsere Befragungen ergaben, der Zusammenhang mit dem Verbrechen bewußt. Um aber auf unser Plädoyer zurückzukommen: Ob Stadtteilkultur oder nicht, eine Manifestation kreativen Vermögens, ein Kulturphänomen in jedem Sinne - und zwar ein höchst lebendiges ist die Graffiti-Kunst allemal. Sie sollte endlich aus der Verbannung in den Underground erlöst werden. September 1988

NACHBEMERKUNG : . Manche Leser würden uns vielleicht fr<:.gen - wenn sie's könnten -, wie wir zum Farbspray-Problem stehen. Wir wollen die Antwort nicht schuldig bleiben. Bei beiden Aktionen hatten wir es zur Auflage gemacht, daß nur "umweltfreundliche" Farbsprays verwendet würden. Wir konnten keine strikte und lückenlose Kontrolle durchführen - sie hätte zumindest die erste Aktion mit Sicherheit vereitelt -, doch überwiegend wurden nach unserer Beobachtung, zumal bei der zweiten Aktion, umweltschonende Farbsprays verwendet. Wenn nun auch sogenannte umweltfreundliche Farbsprays die Umwelt immer noch schädigen, so ist das für uns gleichwohl kein Grund, das Treiben der Graffiti-Künstler zu verdammen. Wir bekennen: sosehr uns die Erhaltung der Umwelt am Herzen liegt, ein pharisäerhafter Rigorismus ist unsere Sache nicht. Der Beitrag der Sprayer zur Umweltschädigung durch Farbzusätze und Treibgase dürfte sich äußerstenfalls in ProhunderJtausendstel ausdrücken lassen. Dessenungeachtet sollte nachgedacht werden, ob nicht eine Spraytechnik entwickelt werden kann, die ohne Treibgase auskommt und trotzdem für die Zwecke der Graffiti-Künstler tauglich ist. 22


23


Abb. 1 Graffito mit Fabelwesen auf Leinwand, gestaltet von Hamburger EGU-Mitgliedern (EGU s. S. 10) im Auftrag eines Werbefotografen als ausgefallener Blickfang f端r dessen Atelier. 1987

24


Abb.2 Zustand der B端cherhallenwand vor unserer ersten Graffiti-Aktion. 1987 25


Abb.3 Bei der ersten Aktion: ein Sprayer 'Vor der Stirnwand des B端cherhallen-Anbaus. Er bringt - nach einer Skizze arbeitend - die Vorzeichnung f端r das erste 'Kolossal'-Graffito an. 1987 26


Abb.4 Sprayer und Zuschauer bei der zweiten Barmbeker Aktion. (Blick in den Durchgang zwischen alter Fabrikmauer und Museum der Arbeit.) 1988 27


Abb.5 Der Odplatz 'Vor der Barmbeker Fabrikmauer im Fr端hsommer nach der zweiten Aktion. Rechts die Stirnwand des B端cherhallenanbaus.

1988 28


Abb.6 Bei der zweiten Aktion: die weiße Vorzeichnung für das neue 'Kolossal-Graffito' an der Bücherhallenwand ist ohne vorherige Grundierung über das alte gelegt. 1988

29


Abb.7 'Kolossal-Graffito' in typischem "Wild Style" an der Stirnwand des Barmbeker Bücherhallenanbaus, bei der zweiten Aktion entstanden. 1988 "Wild Style" - weil dort entwickelt auch "New York Style" genannt - bezeichnet einen kunstvollen Stil, bei dem die Verformung und Ausschmückung der Schrift bis zur dekorativ-ornamentalen BildGestaltung ("piece") gesteigert wird. "Wild Style" ist auch der Titel eines Graffiti-Kultfilms (1982 in den USA von Charlie Ahearn gedreht), der Graffiti (vor allem "pieces") überhaupt erst auch in die europäische Jugendkultur einführte, nachdem er 1983 zuerst im deutscljen Fernsehen und dann auch in Kinos zu sehen war. 30


Abb.8 'Kolossal-Graffito' (s. Abb. 7) an der B端cherhallenwand, Ausschnitt. 1988 31


Abb.9 Graffito an der AuĂ&#x;enseite der Barmbeker Fabrikmauer, bei de,. zweiten Aktion entstanden. 1988 32


Abb. 10 "Star"-Graffito an der Barmbeker Fabrikmauer, bei der zweiten Aktion entstanden. 1988 33


Abb. 11 'Ungegenst채ndliches' Graffito an der Barmbeker Fabrikmauer, das w채hrend der zweiten Aktion entsteht. 1988 34


Abb. 12 "Ayatollah"-Graf/ito an einerSchuppenwand im Barmbeker hof, bei der zweiten Aktion entstanden. 1988

Fa~rik足

35


Abb .. 13 "Dosengeist"-Gra/fito an der Barmbeker Fabrikmauer, bei der zweiten Aktion entstanden. 1988 36


Abb. 14 An der Barmbeker Fabrikmauer: nachträglich aufgebrachte 'Kritzeleien'. Das von der zweiten Aktion herrührende Graffito ist unter ihnen völlig unkenntlich geworden. 1988 37


Abb. 15 Spr端h-Komposition an einer Schuppenwand im Barmbeker Fabrikhof. Der jugendliche K端nstler hat dieses sehr ungew旦hnliche Werk 端ber das "Ayatollah"-Gra/fito (Abb.12) gesprayt, das ebenfalls von ihm stammte. 1988 38


Abb. 16 Unter der Hochbahnbrücke beim Bahnhof Habichtstraße in Barmbek: Gelegenheitskritzeleien auf frisch übertünchtem Maueruntergrund teils mit schon stilisierten Namenszügen und bildhaften Elementen -, die in ihrer Gesamtheit wie ein Wandfries wirken. 1988 39


Abb. 17 "Piece" (dekoratives Graffito) an der "line". Die "line"(die S-Bahnlinie der Hamburger Sprayer) geht - von Pinneberg aus gesehen über den Hauptbahnhof hinaus in Richtung Ohlsdorf weiter. Allerdings sind die Graffiti am nordöstlichen Streckenabschnitt nicht so auffällig gehäuft wie am nordwestlichen. - Hier sehen wir, in der Nähe des Bahnhofs Berliner Tor, eine ganz einfache Form des "piece", die deutlich erkennen läßt, wie "pieces" durch Verformung und Ausschmückung aus Buchstaben entwickelt werden. 1987 40


Abb. 18 "Piece" an der S-Bahnstrecke beim Bahnhof Rübenkamp: Zum einen ist hier die Vorliebe - so darf wohl geschlossen werden - für FunkMusik ausgedrückt. Zum zweiten sieht "Eric" anscheinend sein Wunsch-Ich als Schwarzen; das "e" auf der Brust der tanzenden Figur deutet darauf hin. (Tatsächlich ist "Eric", wie uns berichtet wurde, kein Farbiger.) "Eric" gilt übrigens als der lokale Star in der Gegend Nordbarmbek, Bramfeld, Steilshoop. - Bemerkenswert ist, daß dies "piece", anders als die meisten, die rein dekorativ sind, sehr wohl eine 'Botschaft' enthält. Teils ("funk music") fast schon als explizite Aussage, teils (durch die Figur) symbolisch ausgedrückt. 1987 41


Abb. 19 Kunstvolles "tag" ('gestylte' Writer-Signatur), das an ein kalligraphisches Zeichen denken läĂ&#x;t, beim Bahnknotenpunkt Altona. 1986 42


Abb.20 GruĂ&#x; eines Writers an einen befreundeten Writer, an der Kachelwand im Bahnhof Dehnhaide mittels Edding-Marker angeschrieben. 1986 43


Abb. 21 "Hall 0/ Fame" (Ruhmeshalle) Hamburger Sprayer au/ dem SBahnho/ Langen/eide an der "line" : Wartebankverschlag, 端ber und 端ber mit "tags" (Signaturen) bedeckt, die zu einer Art abstrakten Musters verschmelzen. 1988 44


Abb. 22 Nebeneinander: politische und private 'Botschaften< an der alten Barmbeker Gaswerksmauer (Osterbekstraße). - Hier zeigt sich ein seltsamer, aber des öfteren zu beobachtender Widerspruch im Verhalten der politischen 'Botschaft'-Schreiber; an dieser Stelle nämlich erreicht die Botschaft kaum jemanden. Dieser westliche Teil der Osterbekstraße ist, außer an ein paar Flohmarkttagen im Jahr, wie ausgestorben. 1987 45


Abb. 23 Protest gegen den damals von der Volksfürsorge geplanten Bürohauskoloß (auf dem ehemaligen Barmbeker Gaswerksgelände an der Osterbekstraße). 1987

zu Abb. 24 Wenn zu einer vorhandenen 'Botschaft' eine korrespondierende 'Bots~haft' hinzugesprüht oder -geschrieben wird, bilden die beiden eine indirekte Zwiesprache, eine indirekte Kommunikation. Solch indirekte Mauer-Kommunikation könnte als ein stadtteilkultureller Vorgang angesehen werden (vgl. S. 20). Aber die Zahl derartiger Kommunikationsvorgänge ist viel zu gering, als daß ihnen im Leben einer Stadtteilbewohnerschaft wirkliche Bedeutung beigemessen werden könnte. 46


Abb. 24 Frauen-Losung mit Aufforderungscharakter auf Gehwegplatten bei der Hufnerstraßenbrücke gegenüber dem Ortsamt Barmbek-Uhlenhorst. 1985 Daß übrigens die Barmbeker Frauen-Losungen mehr beachtet worden sind oder wenigstens stärker gewirkt haben als viele andere Graffiti'Botschaften', läßt sich aus den Kommentaren, Entgegnungen, Verkehrungen schließen, mit denen sie überdurchschnittlich oft versehen worden sind. Beispiel:

47


Abb. 25 Frauen-Losung an der Stirnwand eines Wohnblocks in der Drosselstraße, ebenfalls mit Aufforderungscharakter. Unterstützt wird die Losung hier durch die 'untergehakten' Frauenzeichen, die Solidarität symbolisieren. Auf ein Fenster gerichtete Pfeile zeigen an, daß die Aufforderung sich nicht nur an Passanten auf der Straße richtet, sondern 'Vor allem auch die Mitmenschen hinter den Gardinen 'Vom Weghören und Wegsehen auf ein Eingreifen umorientieren will, wenn Frauen durch Männergewalt bedroht werden. 1985 48


Abb. 26 An einer Fabrikmauer in der Maurienstraße: blindwütige und haßtriefende Politparole. 1987 49



Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.