Heimkommen, Erinnern und Erzählen - Persönliche Strategien der Reiseverarbeitung

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Anna Studer

Heimkommen, Erinnern und Erzählen PersÜnliche Strategien der Reiseverarbeitung



Anna Studer

Heimkommen, Erinnern und Erzählen PersÜnliche Strategien der Reiseverarbeitung

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Inhaltsverzeichnis

Seite 4–9

Einleitung Seite 10–23

«Obwohl meine Comics eine Situation stark vereinfachen und in eine Geschichte hineinzwängen, entfachen sie die Erinnerung an mehr.» Seite 24–25

Interview mit Andrea Markand Reisebuchautorin Seite 26–41

«Wir wollten etwas Handfesteres. Und sind dann auf die Idee gekommen, Briefe zu schreiben.» 2


Inhaltsverzeichnis

Seite 42–43

Interview mit Urs Mannhart Reporter und Autor Seite 44–59

«Die Reise manifestiert sich in den Fotobüchern, so dass man sie auf diese Weise in den Händen halten kann.» Seite 60

Impressum

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Einleitung Anna Studer

«Denn eine Reise beginnt nicht in dem Moment, da wir uns auf den Weg machen, und sie endet nicht, wenn wir ans Ziel gelangt sind. In Wahrheit beginnt sie viel früher, und sie ist faktisch nie zu Ende, weil sich das Band unserer Erinnerungen in unserem Inneren weiterdreht, auch wenn wir längst angekommen sind.» Der polnische Reporter und Autor Ryszard Kapuściński beschreibt eine Reise als etwas, das dank unserem Erinnerungsvermögen nie zu Ende ist. Dieser Gedanke macht sich gegenwärtig auch der kommerzielle Reiseveranstalter Kuoni zu Nutze: Auf einer Fotografie, die offensichtlich Fernweh erwecken will, spaziert ein junges Paar im Abendlicht durch eine einsame Steppenlandschaft. Darauf prangt der Slogan «Reisen ist die zukünftige Erinnerung an sich selbst.». Die Werbung nimmt den Gedanken auf, dass Reisen nicht nur als Gegenteil des Alltags verstanden wird – sondern ebenso prägend für die Ent4


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wicklung seiner Persönlichkeit sein kann: Ungewohnte Situationen, die Erfahrung von Fremdheit und die Auseinandersetzung mit anderen Lebenswelten eröffnen neue Blickwinkel auf sich selbst, seine Heimat und die Welt. Obwohl Reisen heute für viele Menschen der westlichen Gesellschaften zu einer Selbstverständlichkeit gehört und wie das gesamte Mobilitätsverhalten durchaus auch bedenkliche Züge angenommen hat (kritische Stimmen verweisen in erster Linie auf die negative Ökobilanz), stellt es doch für sehr viele Menschen immer noch etwas Aussergewöhnliches dar: Ein Ausbrechen aus gewohnten Strukturen. Und – man schaue sich nur schon die unzähligen im Netz kursierenden Blogs, Reiseberichte oder Facebook-Fotoalben an – Reisen scheinen etwas zu sein, das man festhalten, mit anderen teilen und für sich bewahren möchte. Trotzdem: Wirkt es heute nicht oft so, als würde man, kaum ist die eine Reise vorbei, bereits die Nächste planen? Gerade wenn man die Lebensgestaltung vieler junger Menschen der Generation Y betrachtet, hat man nicht selten den Eindruck, ein Erlebnis folge direkt aufs Nächste – manchmal in rasanter Abfolge. Gleichzeitig aber, und hier möchte diese Publikation ansetzen, zeichnet sich auch ein gesellschaftlicher Trend ab, der fort vom Erlebniswahn der Postmoderne in Richtung Langsamkeit und Besinnlichkeit hin geht. Ausdruck davon sind diverse Phänomene wie beispielsweise die Slow FoodBewegung. Ansätze gibt es auch für den Bereich des Reisens: So entwirft der britische Reisejournalist Dan Kieran in seinem Buch Slow Travel eine Philosophie des langsamen Unterwegsseins, «in der das Reisen zu einem Teil eines persönlichen therapeutischen Prozesses wird […]», – wie es sein Kollege Tom Hodgkinson in der 5


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Einleitung ausdrückt. Damit verbunden könnte auch das bewusste Erinnern wichtiger werden: Denn wenn eine Reise angetreten wird, um sich persönlich zu entwickeln, möchte man in der Regel die in der Ferne gewonnenen Erfahrungen auch im Alltag beibehalten. Und könnte die Tatsache, dass bereits die kommerzielle Reiseindustrie mit den Schlagwörtern Erinnerung und Selbst wirbt, ein Anzeichen dafür sein, dass dieser Ansatz allmählich schon die breiten Massen erreicht? Einzelnen Reisen durch einen bewussten Umgang mit Erinnerungen mehr persönlichen Wert beimessen, um dafür weniger zu Reisen – ein Zukunftsszenario, das Sinn machen würde. Welche Strategien der anregenden Auseinandersetzung mit vergangenen Reiseerfahrungen gibt es also? In dieser Publikation wird im kleinen Rahmen nach Antworten gesucht. Drei junge Menschen erzählen von ihren ganz unterschiedlichen Strategien der Verarbeitung: Charles dokumentierte seine Reise alleine durch Grossbritannien mit einem Tagebuch in Form eines Comics und schreibt Lieder, in welche manchmal Bilder und Gefühle von dieser Zeit einfliessen. Anna wählte wohl die speziellste Reiseform: Beinahe zwei Jahre verbrachte sie auf einer Veloreise durch Europa und Asien. Tagebuch und regelmässige Briefe schrieb sie jeweils zusammen mit ihrem Freund. Im Gegensatz zu den zwei anderen Protagonisten wurde das Alleine sein für sie erst nach der Reise wieder zu etwas Besonderem, an das sie sich erstmal gewöhnen musste. Joana, die dritte Erzählende, verglich in einem Vorgespräch das Alleine reisen mit dem Moment, als sie zum ersten Mal ohne ein Elternteil aus dem Haus ging. Sich mit dem Tagebuch als einzigen Vertrauten in der Fremde zu bewegen wurde 6


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für sie zwar zur Herausforderung, aber auch zur prägenden Erfahrung. Schaut man sich die drei Erzählungen an, bilden sich Themenfelder heraus, die sich oft überschneiden und ineinandergreifen: Ein wichtiger Punkt ist die Dokumentation während der Reise. Dazu gehört der komplexe Prozess der Übersetzung von erlebten Situationen in Worte oder Zeichnungen. Verbunden damit ist der Gebrauch dieser Quellen im Nachhinein. Interessant ist die Erkenntnis, dass alle drei Protagonisten ihr Dokumentationsmaterial nur selten benutzen – obwohl es in seiner Funktion als Erinnerungsstütze durchaus gut zu funktionieren vermag. Alle sind zwar froh darüber, dass ein Teil ihrer Reise auf diese Art sicher bewahrt ist. Doch meist reicht das Gefühl aus, dass dieses Material da wäre, wenn man es bräuchte. Ein weiteres Thema ist der an andere gerichtete Erzählprozess nach der Reise, der sich hauptsächlich aus der mündlichen Vermittlung von Geschichten und dem Zeigen von Fotomaterial zusammensetzt. Auch dieser unterscheidet sich bei den Protagonisten: Bei derjenigen Person, die sich selbst als überaus kommunikativer Typ bezeichnet, war er von Anfang an in vollem Gange. Eine andere Person musste zuerst lernen, die Reise überhaupt in Worte zu fassen und so entfaltete bei ihr das Erzählen erst mit der Zeit seinen vollen Ausdruck. Und die dritte Person spricht allgemein wenig über die Reise, weil das Bedürfnis dazu nicht da ist. Dafür verarbeitet sie auf andere Weise. Unterschiede, die aufzeigen, wie persönlich der Verarbeitungsprozess einer Reise sein kann und welch vielfältigen Formen es gibt. Dann gibt es das Erzählen, das weniger an andere, sondern an sich selbst gerichtet ist. So tauchten jedenfalls Joana und Anna beide beim Erstellen ihrer Fotoal7


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ben nochmals tief in die vergangenen Reisen ein. Durch die Anordnung und Auswahl ihrer Bilder entwickelten sie eine Dramaturgie und brachten das Erlebte so in die Form einer Geschichte – beide in erster Linie, um sich selbst zu erinnern. Auch Charles, der zwar keine Fotos ordnete, denkt in Form einer Geschichte an seine Reise zurück – eine Tatsache, die darauf schliessen lässt, dass wir dazu neigen, unser Leben im Rückblick in eine Geschichte zu verpacken, ob nun für uns selbst oder für Andere. Zur Sprache kommt auch, inwiefern Reisen persönliche Entwicklungen und Veränderungen hervorrufen können. Die Philosophin Susan Neiman widmet dem Reisen in ihrem Buch Warum erwachsen werden? ein ganzes Kapitel: «Kluges Reisen hilft unter anderem deshalb beim Erwachsenwerden, weil es eine Rückkehr zu Positionen erfordert, die man als Kind hatte.», schreibt sie. Reisen kann einem demnach die Möglichkeiten bieten, einen kindlichen Blick zu entwickeln, sich aus dieser Sicht Ängsten auf andere Weise zu stellen und Herausforderungen spielerisch anzugehen. Und – womöglich – sein kreatives Potenzial auszuschöpfen, gerade in der Verarbeitung. Denn es scheint, als könne man durch Reisen einen neuen Zugang zu seiner Kreativität finden und unverkrampft ausprobieren: Schreiben, wenn man sonst nicht schreibt, Fotografieren, wenn man im Alltag selten eine Kamera in die Hände nimmt, Zeichnen, obwohl man schon lange nicht mehr gezeichnet hat, Fotobücher konzipieren, wenn man sonst nichts mit Bildkomposition am Hut hat. Neben den jungen Erzählenden beantworten eine Reisebuchautorin und ein Reporter, was eine intensive Auseinandersetzung mit auf Reisen gesammeltem Re8


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cherchematerial auf der persönlichen Ebene ausmacht. Als Experten berichten sie davon, inwiefern sich das Unterwegssein verändert, wenn man mit einer gezielten Aufgabe reist und ob das Schreiben als Verwertung von Erinnerungen als Strategie taugt, um nochmals in die Vergangenheit einzutauchen. Und: Sie warnen davor, sich zu sehr damit zu beschäftigen, wie man das Reisen für sich selbst nutzen kann – denn schlussendlich geht es vor allem auch darum, mit welchem Ansatz man reist und dass man Offenheit und Neugier in die bereisten Länder mitbringt. Die Publikation richtet sich an Menschen, die reisen und sich auch im Nachhinein vertieft damit auseinandersetzen möchten. Sie soll zur Spurensuche nach den eigenen Reiseerinnerungen anregen und dazu, seine persönliche Art und Weise der Verarbeitung zu finden. Als Hilfsmittel, um auf diese Weise seine Reisen länger nachwirken zu lassen und als Inspiration, den Versuch zu wagen, spielerisch mit dem eigenen Band der Erinnerung umzugehen – egal, ob dieses neu geknüpft, weitergedreht oder gar verdreht wird.

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Charles Grögli (28) Kellner, Musiker und Primarlehrer

«Obwohl meine Comics eine Situation stark vereinfachen und in eine Geschichte hineinzwängen, entfachen sie die Erinnerung an mehr.» 11


Erfahrungsbericht Charles Grögli

Vor drei Jahren ging Charles alleine nach Grossbritannien und reiste während einem Monat einmal um die Insel, also durch England, Schottland und Wales. Anschliessend blieb er einige Wochen in Bournemouth, um eine Sprachschule zu besuchen. «Ich hatte so eine Vorstellung von England, die mich angezogen hat. Und auf eine gewisse Art habe ich einen Teil dieser Vorstellung auch vorgefunden. Ich stellte mir ein relativ raues Land vor, einerseits vom Wetter her, aber auch von den Leuten – dieses Dunkle und Windige. Auch in Verbindung mit der Popkultur und diversen Bands. Und vorgefunden habe ich dieses Raue in der Landschaft und vor allem im Wetter, da war es da. Interessanterweise hatte dies aber etwas sehr Schönes, denn immer wieder geht der Regen weg und die Sonne kommt hervor. Und die Menschen habe ich als sehr warm und herzlich empfunden. Ich bin zuerst nach London geflogen und habe begonnen, südwestlich der Stadt bei einem Maskenbildner und seiner Frau zu arbeiten. Die waren in einem riesigen Haus eingemietet, mussten jedoch umziehen, weil sie es vernachlässigt hatten. Ich war als Zügelhilfe da. Doch das ging überhaupt nicht, es war sogar richtig schlimm, weshalb ich schnell entschieden habe, dass ich das nicht wie geplant den ganzen Monat mache, sondern stattdessen umherreise. Vielleicht entstand die Idee in dieser Phase, als alles langweilig und mühsam war, und ich etwas zu tun brauchte. Ich weiss es aber nicht 12


Erfahrungsbericht Charles Grögli

mehr genau. Jedenfalls habe ich die Reise mit einem Comic dokumentiert, also den ersten Monat. Für jeden Tag eine Seite, die immer aus sechs Bildern besteht. Wenn ich es schon mache, dann wirklich täglich, habe ich mir vorgenommen. Das wurde zwar manchmal schwierig, aber es kam mir doch immer etwas in den Sinn. Irgendwann kamen einzelne Szenen mit hinein, die nicht dokumentarisch, sondern fiktiv sind. Aber grundsätzlich ist es ein Tagebuch in Form eines Comics. Wenn ich heute eine der Szenen anschaue, dann erinnere ich mich an die Situation, die ich darin wiedergebe. Manchmal auch an den Moment des Zeichnens, nämlich dann, wenn er mit der Situation verbunden war und ich wirklich direkt vor Ort das Geschehene gezeichnet habe. Die Comics sind so aufgebaut, dass die sechs Bilder immer auf eine Pointe hinauslaufen. Obwohl sie eine Situation stark vereinfachen und in eine Geschichte hineinzwängen, entfachen sie bei mir die Erinnerung an mehr. Denn ich weiss ja, was sonst noch war. Der Form wegen gibt es zwar die Pointe, aber für mich steckt mehr dahinter – und deshalb funktionieren sie als Erinnerungsstütze. Also nicht, dass ich sie oft anschauen würde. Aber wenn ich jetzt an einzelne Comics denke, dann kommt mir das, was eben nicht drauf ist, auch in den Sinn. An die gezeichneten Seiten kann ich mich gut erinnern, denn die Auseinandersetzung mit der Frage, wie ich etwas darstelle, damit es für mich in der Erinnerung richtig aussieht, ist irgendwie wichtig. Denn die meisten Comics sind ja so entstanden, dass ich bereits eine Erinnerung umsetzte – einfach eine desselben Tages. 13


Erfahrungsbericht Charles Grögli

Am Anfang meiner Reise habe ich auch viel fotografiert. Vor allem in diesem Haus. Das war ein altes, englisches Herrenhaus, sehr imposant. Und alles war mit Kartonkisten vollgestellt und total verstaubt. Es wäre gar nicht möglich gewesen, alles in einem Comic festzuhalten. Beispielsweise habe ich eine riesige, schmutzige Treppe fotografiert, wie in einem alten englischen Kostümfilm, in dem dann links und rechts die Menschen herunterkommen – ein seltsames Bild. Diese Fotos bilden schon auch das ab, was nicht drauf ist. Deshalb kann ich nicht sagen, die Comics würden meine Erinnerungen stärker anregen als Fotografien. Die Comics habe ich fotografiert und auf Facebook gepostet, um ohne Aufwand eine Art Blog zu führen, denn sie haben sich dazu angeboten. Eine Weile nach der Reise habe ich alle Zeichnungen eingescannt, mit der Idee, sie zu bereinigen, die Fehler herauszunehmen und sie auf einfache Weise anzufärben. Dabei blieb es bis jetzt, jedenfalls sind sie auf dem Computer. Im Nachhinein gefällt mir der Gedanke, dass ich die Comics in Zukunft immer wieder anschauen kann. Aber ich vermisse es auch nicht, von anderen Reisen nichts Vergleichbares zu haben. In Grossbritannien machte das Alleinesein einen wichtigen Teil aus, während ich bei den anderen Reisen nicht alleine war und es sich eher um Ferien handelte. Und deshalb war der Fokus ein ganz anderer. Alleine zu reisen machte es nicht nur einfacher, sich zu bewegen, sondern bewirkte auch etwas in mir. Ich bin kurz vor der Reise mit meiner damaligen Freundin zusammengekommen, war mir dabei aber nicht ganz sicher. Und nach der Reise 14


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Erfahrungsbericht Charles Grögli

wusste ich plötzlich, dass das gut ist. Ich habe das Gefühl, das hat schon etwas ausgelöst, auch wenn ich nicht sagen kann, was genau. Es haben wohl bestimmte Seiten von mir mehr Gewicht bekommen. Ich denke, ich habe Schritte nach vorne und Schritte zurück gemacht. Auslöser für die Schritte zurück waren wohl Angst vor dem Unbekannten und die Unsicherheit. Ohne dass ich ein konkretes Beispiel nennen könnte. Mehr ein Ideal als eine reale Veränderung ist die Einsicht, dass man mit wenigen materiellen Gütern auskommt. Als ich zurückgekommen bin, habe ich noch zwei Monate aus dem Rucksack gelebt, mit wenig Geld und ohne Wohnung. Deshalb war die Reise mit der Rückkehr in die Schweiz noch nicht abgeschlossen. Der Alltag kam erst wieder, als ich eine neue Wohnung gefunden habe. Aber schrittweise und nicht von einem Tag auf den anderen. Und mittlerweile habe ich auch wieder viele Sachen im Zimmer. Es kann sein, dass die Reise auch in meine Musik eingeflossen ist. Ich habe in Manchester eine Spielzeuggitarre gekauft und begonnen, dort manchmal Lieder zu schreiben. Aber eigentlich nicht direkt mit der Reise zusammenhängend, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, was dort entstanden ist. Vorletztes Jahr im Sommer habe ich aber Ferien in Irland gemacht und später – einige Wochen nach der Heimkehr – ein Lied geschrieben, das von der Landschaft und meinen Gefühlen dort erzählt. Dabei wollte ich nicht bewusst auf die Reise eingehen, aber mit dem Lied ein Bild erzeugen. Und diese Erinnerung hat sich dafür geeignet. Wenn ich ein Lied schreibe, will ich eigentlich immer ein Gefühl hervorholen. Landschaften und Orte eignen 17


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Erfahrungsbericht Charles Grögli

sich für mich als eine Art Metapher, um Gefühle auszudrücken. Ich habe auch Lieder über Schweizer Landschaften oder Zugfahrten geschrieben und bin mir nicht sicher, was das konkret mit dem Reisen zu tun hat. Reisen sind für mich eigentlich ein Teil des Lebens und nicht spezifisch etwas, von dem ich mir Inspiration erhoffe. Aber etwas Spezielles sind sie schon, und dadurch hält man wohl die Rezeptoren ein Stück weit offener. Und von dem her fliesst sicher die Erfahrung von dieser Reise mit ein. Durch das Lied taucht dieses Bild von Irland in meinem Alltag immer mal wieder auf - obwohl es eigentlich kein konkretes Bild ist, sondern ein Zusammenschnitt von verschiedenen Bildern. Wenn wir das Lied spielen, proben oder auch nur darüber sprechen. Ich finde es schwierig zu formulieren, welche Gefühle etwas hervorholen können. Beispielsweise zu beschreiben, was genau mich an Grossbritannien angezogen hat. Ein Lied zu schreiben könnte der Versuch sein, solche Gefühle zu vermitteln. Ohne dass ich das aufs Reisen fixieren würde. Ich nehme an, dass ich jeweils das Gleiche von der Reise erzähle, was immer es auch ist. Dinge, die mich irgendwie berührt haben oder bei denen ich denke, dass es wichtig ist, sie zu erzählen. Aber es gibt nichts Bestimmtes, das ich immer wieder erzähle. Ich bin mir nicht so sicher, ob ich viel darüber spreche. Eher nicht. Wenn ich erzähle, dann in Form von Geschichten. Ich habe das Gefühl, dass das Geschichtenerzählen für mich sehr wichtig ist – eigentlich mache ich nichts anderes. Es klingt zwar etwas kitschig: Aber auch wenn ich etwas gekocht habe, erzählt das ja eine Geschichte. Also das muss ja nicht eine geschriebene oder gesprochene Ge22


Erfahrungsbericht Charles Grögli

schichte im klassischen Sinne sein. Doch rein durch das Vergehen der Zeit und dass man währenddessen etwas macht, das nachher da ist, hat man doch eine gewisse Geschichte erzählt. Und deshalb habe ich das Gefühl, dass es für mich nichts anderes gibt. Ich erzähle diese Geschichten nicht unbedingt gegen Aussen, also an Andere gerichtet. Obwohl das Liederschreiben und das Comiczeichnen ja schon Arten des Erzählens sind, die auch für Andere gedacht sind. Aber eigentlich habe ich das Gefühl, dass der erste Impuls dazu von Innen kommt. Wenn ich also an die Reise zurückdenke, dann fühlt sie sich wie eine Geschichte an.»

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Szene aus dem Comic: Chapter 1, Page 1, Pangbourne. Szene aus dem Comic: Chapter 1, Page 2, Pangbourne. In Manchester erstandene Spielzeuggitarre. Klanglich durch nicht

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gegebene Bundreinheit spannend. 4 «Pier» von Bournemouth. 5 T-Shirt, in Bournemouth erstanden. Zu klein und mittlerweile verwa schen. Nichtsdestotrotz ein Lieb lingskleidungsstück.

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Szene aus dem Comic: Chapter 5, Page 3, Glasgow Szene aus dem Comic: Chapter 6, Page 6, Glencoe.


Interview Andrea Markand

Andrea Markand (Jahrgang 1971) ist Autorin und Webmasterin der Buchreihe Stefan Loose Travel Handbücher. Etwa drei bis fünf Monate im Jahr verbringt sie auf Reisen. Wenn sie zuhause ist, schreibt sie an diversen Texten, sortiert Fotos und betreut Webseiten. Daneben erledigt sie den Papierkram der Markand GbR, die sie mit ihrem Mann Markus – ebenfalls Reisebuchautor derselben Reihe – betreibt. Sie ist Mutter von zwei Jungen.

Wie verändert sich das Reisen, wenn später aus den Erfahrungen ein Buch entstehen soll? Alles, was ich mache, tue ich im Grunde auch für das Buch. Ist man mit einer Mission unterwegs, achtet man stärker auf Einzelheiten und hinterfragt vieles weitaus mehr als «normale» Reisende. Ich versuche auch, mich in verschiedene Reisetypen hineinzudenken. Das öffnet meinen Horizont und da mache ich natürlich Dinge, die ich sonst nicht täte. Welche bewussten Strategien wendest du an, um eine Reise zu verarbeiten? Ich versuche, Freunden von den Reisen zu berichten, was aber immer schwieriger wird, weil

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kaum mehr einer zuhören mag. Es gibt scheinbar schon zu viel Input aus aller Welt. Deshalb ist Fotos zeigen meist das Beste. Dann reflektiere ich derzeit vor allem mit meinen Kindern: Was hat diese Reise für uns als Familie ausgemacht und was können die Jungs mitnehmen? Dann kommen beispielsweise Fragen zur Sprache wie «Was war anders dort?» oder «Warum fand ich das gut oder schlecht?». Und auf der beruflichen Ebene? Da arbeite ich die neuen Infos ein und reflektiere auf diese Weise: Was hat sich verändert, was ist noch immer so und warum ist das so? Bei jeder Reise erfahre ich mehr und begreife die Zusammenhänge besser. Meine


Interview Andrea Markand

Aufgabe ist es nun, meine Erkenntnisse so zu verpacken, dass die Lesenden informiert werden, ohne dass ich ihr Bild schon im Voraus zu stark präge. Wie wirkt sich das Reisen auf dich persönlich aus? Aus einem Land nehme ich privat jeweils mit: Was finde ich bemerkenswert? Hat es eine Bedeutung für mich und wie schaffe ich es, neue Gewohnheiten und Erkenntnisse im Alltag zu leben. Ein Beispiel: Nach einem Asien-Aufenthalt lache ich immer alle an. Mein Job nun: Verliere diese Freundlichkeit nicht – nur, weil viele mürrisch zurückschauen und dich für verrückt halten. Welchen Einfluss hat der berufliche Schreibprozess nach der Reise auf dich? Einiges davon vermischt sich sicher mit Privatem. Aber als Autorin ist man ja immer auch als Person dabei. Da Markus und ich gemeinsam diesen Beruf haben und die Jungs ebenfalls mitziehen, sind wir eben eine Reisefamilie, die das Hobby zum Beruf gemacht hat. Reisebücher beinhalten in der Regel ein Kapitel zur Vorbereitung einer Reise. Gibt es Überlegungen, wie die Leserschaft eine Reise nachbereiten könnte? Ich denke, es geht prinzipiell darum: setzt sich ein Mensch mit Erlebtem auseinander und ist

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er bereit, etwas an sich zu ändern – oder konsumiert er nur? Letzterer wird nicht nachbereiten. Ich sehe es zwar als gute Idee, den Reisenden zu sagen: denkt mal nach, was habt ihr gelernt auf dieser Reise, was bedeutet es für euch und euer Leben. Aber: Ich will nicht erziehen. Im Idealfall versucht man als Autor diesen Gedanken anzuregen, aber mehr sprengt meinen Aufgabenbereich dann doch. Ich rate aber zum Mitbringen von Gewürzen und Kaffee, denn sensorisch und geschmacklich bleiben dann Erinnerungen wach. Hast du mit deinem professionellen Hintergrund Ratschläge an andere Reisende, wie man Reiseerfahrungen kreativ reflektieren kann? Fotobücher machen und bloggen, wenn einem das liegt. Aber ganz ehrlich: Ich finde es nicht so wichtig, immer alles kreativ zu nutzen. Es sollte sich niemand unter Druck setzen. Man muss nicht alles verwerten. Es erlebt zu haben reicht. Die Leute sollen lieber reisen und etwas in die Länder mitbringen: Neugier, sich unterhalten, zeigen, dass sie interessiert sind. Steht der eigene Nutzen im Vordergrund, geht viel verloren.


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Anna Ruch (27) Ergotherapeutin

ÂŤWir wollten etwas Handfesteres. Und sind dann auf die Idee gekommen, Briefe zu schreiben.Âť

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Erfahrungsbericht Anna Ruch

Zusammen mit ihrem Freund Lukas fuhr Anna beinahe zwei Jahre lang mit dem Fahrrad durch Europa und Asien. In Vietnam stiegen sie in den Zug und machten sich auf den Heimweg durch China, die Mongolei und Russland. Seit über einem Jahr sind sie nun wieder Zuhause. Als wir heimgekommen sind, also ganz am Anfang, war es mir zu viel, bereits Erinnerungen zu teilen. Zuerst einmal mussten wir hier ankommen und uns einfinden. Erst nach einigen Wochen kam das Bedürfnis, mit dem Erzählen zu beginnen. Vielleicht hatte das mit der neuen Situation zu tun, die viel Aufmerksamkeit erforderte. Oder es musste sich alles erst einmal setzen. Wir haben so viel erlebt in den zwei Jahren, dass das Zusammenfassen schwierig war. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, noch etwas Zeit zu brauchen. Hat man es einmal erzählt, hat man es auch ein wenig verloren, vielleicht. Zumindest hat man es nicht mehr nur für sich. Und manchmal ist es schön, etwas noch ein wenig zu behalten. Als ich dann zu erzählen begonnen habe, war das immer wieder ein wenig dasselbe, hauptsächlich das, was uns am meisten beeindruckt hat. Wir haben etwas spärlicher und zögerlicher erzählt als später. Mittlerweile kommen mir auch wieder Dinge in den Sinn, die ich damals nicht erwähnt habe. Meistens sind es aber schon Erlebnisse, die aus einem bestimmten Grund geblieben sind: Weil sie beispielsweise lustig oder mühsam waren. Oder Dinge, die uns komisch vorgekommen sind. Vom ganz 28


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Erfahrungsbericht Anna Ruch

normalen Alltag erzählen wir eigentlich nicht, weil es für mich zu wenig Bedeutung hat und mir selbst eher langweilig erscheint. Ich glaube, wir erzählen viele Dinge, bei denen es wirklich Pointen gibt, auch für uns. Manchmal passiert es mir, dass ich Dinge nicht immer genau auf dieselbe Weise erzähle. Wenn eine Geschichte stark vereinfacht wurde und bereits ein wenig abgenutzt ist, dann erzähle ich sie etwas anders. Im Grossen und Ganzen zwar dasselbe, aber ich betone andere Details. Aber es ist mir jeweils wichtig, dass ich es so erzählen kann, wie ich es erlebt habe. Und nicht so, dass es nach einer Wahnsinnsgeschichte klingt. Es gibt auch Leute, die andere Fragen stellen und etwas Bestimmtes ganz genau wissen wollen – beispielsweise wie wir geplant haben. Und da zählt man dann einfach Fakten auf. Von schwierigen Dingen erzähle ich eher selten. Es gibt Erinnerungen, welche ich lieber ausblende. Gerade was das Velofahren betrifft, denn das war schon mit hohen Strapazen verbunden. Es ist zwar nicht so, dass ich davon nicht berichten will. Aber wenn ich von mir aus erzähle, dann kann ich ja nicht aufzählen, was alles schlimm war. Das wäre ja nicht schön zum Zuhören. Aber wenn mich jemand darauf bringt und fragt, was denn schwierig war, dann erwähne ich es natürlich. So erzähle ich heute beispielsweise oft vom Pamirgebirge, als hätte mich dieses extrem begeistert. Das tut es schon, jetzt im Nachhinein. Aber wenn ich bewusst daran zurückdenke und vielleicht auch im Tagebuch nachlese, war es eigentlich eine sehr anstrengende Zeit, in der wir völlig an unsere Grenzen gekommen sind. Aber ich glaube, diese Erinnerungen kann 30


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man irgendwo ablegen, vielleicht ist das eine Art Schutzmechanismus. Oder vielleicht schwächt es die Erinnerung auch einfach etwas ab. Weil ich weiss es ja schon noch, völlig vergessen ist es nicht. Gleichzeitig kommt mir heute der Pamir sehr oft in den Sinn, und zwar als eines der Highlights. Vielleicht hat sich das gerade wegen der Strapazen tiefer eingeprägt als Anderes. Oder auch, weil wir viel darüber gesprochen haben. Mittlerweile haben wir von allem, was wir erlebt haben, erzählt. Von gewissen Dingen mehr, von anderen weniger. Aber es gibt nicht irgendwie so ein Geheimnis, einen Schatz, auf den man aufpassen muss. Dieses Gefühl vom Anfang, als ich gedanklich noch völlig in dieser Reise war, physisch aber hier, und diese zwei Welten noch nicht vermischen wollte, ist verschwunden. Denn wenn man davon erzählt, dann verflüchtigt sich das irgendwie. Wir haben auch Sicherheit gewonnen im Erzählen und irgendwann wurde es zu einer Gewohnheit. Das musste man ein wenig lernen. Eigentlich haben wir jeden Tag versucht, Tagebuch zu schreiben. Auch wenn es nur etwas Kurzes war. Aber wir haben dann doch oft einige Tage oder sogar Wochen zusammengefasst. Wir haben das Tagebuch gemeinsam geführt und abwechslungsweise geschrieben. Unsere Einträge sind jeweils ein wenig unterschiedlich. Doch schliesslich spielt es keine grosse Rolle, welche ich lese – beide erinnern mich an dasselbe. Seltsamerweise haben wir bereits während der Heimreise aufgehört mit Schreiben. Der letzte Eintrag ist von der Zugfahrt nach Moskau, obwohl wir danach nochmals mehrere Wochen mit dem Fahrrad unterwegs waren. Wir 31


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Erfahrungsbericht Anna Ruch

mussten uns schon immer an der Nase nehmen, regelmässig zu schreiben. Und als wir wussten, jetzt sind wir bald wieder Zuhause, wurden wir wohl nachlässig. Gegen einen Blog haben wir uns bewusst entschieden, weil wir etwas Handfesteres wollten. Und sind dann auf die Idee gekommen, Briefe zu schreiben. Etwa alle zwei oder drei Monate haben wir also von Hand geschrieben und darin zusammengefasst, was wir in den letzten Wochen erlebt haben. Da waren uns die Tagebucheinträge jeweils eine Hilfe. Dazu kamen immer einige Fotos und gezeichnete Landkarten der aktuellen Route. Den Original-Brief kopierten wir dann und verschickten ihn an unsere Freunde und Familien, an insgesamt 42 Adressen. Dann haben wir natürlich fotografiert auf der Reise. Doch das wurde manchmal etwas mühsam und irgendwann haben wir den Ehrgeiz verloren, alles was wir schön finden, mit der Kamera festzuhalten – denn es gibt so vieles. Wir hatten diverse Phasen, lichteten eine Weile viele Landschaften ab, dann uns, dann andere Menschen, dann Städte. Obwohl wir vergleichsweise wenig fotografierten, hatten wir am Schluss um die 8000 Fotos. Ein wichtiger Bestandteil des Erzählprozesses nach der Reise waren zwei Fotoabende für Familienmitglieder und Freunde. Nun machen wir noch ein Fotoalbum. Dazu lese ich manchmal in den Tagebüchern Dinge nach. Ab und zu packt es mich und ich lese weiter, was jeweils sehr schön ist, weil mir alles wieder in den Sinn kommt. Die Gefühle, die ich damals in der jeweiligen Situation hatte, werden wieder ausgelöst. Das geschieht aber auch, wenn ich Fotos anschaue. 35


Erfahrungsbericht Anna Ruch

Jedoch haben wir die Bilder beim Auswählen und Sortieren auch so viele Male gesehen, dass sie manchmal etwas an Bedeutung verloren haben. Beim Erstellen des Albums fällt mir immer wieder auf, dass diejenigen Fotos, die wir frisch dazu genommen haben, viel interessanter sind als die alten, die in der Diashow waren und die wir schon oft erklärt haben. Manchmal versuche ich auch, Erinnerungen über das Essen hervorzuholen. Dann koche ich etwas, das wir unterwegs gegessen haben. Meist ist es wirklich nicht das Essen selbst, das mich dazu bewegt. Ich denke beispielsweise nie an Nudelsuppe und möchte das Gericht unbedingt essen. Sondern es ist vielmehr die Lust darauf, die Erinnerung zurückzuholen. Da wir so lange zu zweit unterwegs waren, habe ich fast ein wenig vergessen, dass ich auch alleine funktionieren kann. Das kam mir jedenfalls in der Zeit nach der Heimkehr manchmal so vor. Ausserdem habe ich früher immer sehr viel Struktur gebraucht. Das habe ich ein Stück weit abgelegt, denke nun eher von Tag zu Tag und plane nicht mehr so viel. Auch bin ich durch die Reise kritischer gegenüber unserer westlichen Welt geworden, insbesondere dem Wirtschaftssystem. Ich finde es schwierig, darin wieder Sinn zu finden. Manchmal habe ich das Gefühl, die Reise hat mich ein wenig aus dem Konzept geworfen. Das ist wohl etwas zu stark ausgedrückt, aber jedenfalls hat sich etwas verändert, das ich immer noch nicht so recht fassen kann. Es macht mich aber sicher stolz, darüber zu erzählen. Schliesslich ist es etwas, das nur wenige in dieser Form gemacht haben. Wir haben auch viele Herausforderungen gemeistert. Beispielsweise 36


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Erfahrungsbericht Anna Ruch

musste ich mich meinen Ängsten vor dem wilden Zelten stellen, mich einfach darauf einlassen. Oder unzählige andere Entscheidungen treffen, bei denen man abwägen musste. Oft bin ich gefangen in bestimmten Vorstellungen und denke, so wird es sein. Beispielsweise, dass wir keinen Schlafplatz finden werden und dann völlig aufgeschmissen sind. Bis ich einmal die Erkenntnis hatte, dass sich immer etwas ergibt. Ob es gut oder schlecht ist, das sieht man dann. Aber es geht einfach weiter, denn die Zeit bleibt ja nicht plötzlich stehen. Es wurde also zu einer Strategie, einfach mal abzuwarten und zu schauen, was passiert. Und dabei etwas optimistischer zu sein. Aber zurück im Alltag hier habe ich das wieder etwas verloren.»

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Erfahrungsbericht Anna Ruch

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Briefseite aus Mazedonien, November 2013. Briefumschläge aus Vietnam (Hanoi und Saigon), Litauen, Myanmar, Montenegro und der Türkei. Handgeschriebener Brief an Familie

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und Freunde, verschickt aus der Türkei, Februar 2014. Briefseite aus Vilnius (Litauen), Oktober 2013. In der Slowakei auf kleinen Strassen durch die Berge, gerade unterwegs

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mit Freunden. Oktober 2013, irgendwo westlich von Kosice. Unsere Reisetagebücher. Drei volle Hefte, mit Einträgen aus 27 Ländern. Landkarte von Myanmar mit eingezeichneter Route.


Interview Urs Mannhart

Urs Mannhart (Jahrgang 1975) ist Schriftsteller und Reporter. Seit 2003 berichtet er unter anderem für Reportagen und Der kleine Bund aus zahlreichen Ländern, besonders oft aus Osteuropa. Ausserdem veröffentlichte er drei Romane. Er lebt in der Schweiz auf dem Land und arbeitet dort auf einem Bauernhof. Wie verändert sich das Reisen, wenn im Fokus steht, später aus den Erfahrungen einen Text zu realisieren? Wenn ich unterwegs weiss, dass aus dem, was ich erlebe und dass aus denjenigen, die ich treffe, später eine Reportage entstehen soll, entsteht ein gewisser Druck. Den mag ich grundsätzlich, habe ihn aber auch auszuhalten gelernt. Er ist ein gutes Rezept gegen Schüchternheit und Zurückhaltung. Und das Risiko, mit vielen Erfahrungen, aber ohne publikationswürdige Geschichte nach Hause zu reisen, gehört dazu.

Welche bewussten Strategien wendest du an, um eine Reise zu verarbeiten und zu reflektieren? Keine andere Strategie als jene, mit der ich auch im Alltag lebe: Ich notiere mir Szenen und Gedanken. Und dabei versuche ich, sowohl die Details wie auch das Grosse und Ganze zu erfassen.

Gibt es Momente, in denen du nur wegen dem Text reist? In Kirgistan wurde mir die Geschichte eines Wolfsjägers erzählt. Dieser Mann lebt in einem Dorf, das mehr als 50 Kilometer von meinen Gastgebern entfernt liegt – was das heisst, versteht nur, wer weiss, wie sich eine

Gibt es dabei Unterschiede zwischen beruflicher und persönlicher Ebene? Auf einer Reportagereise versuche ich, mich zu disziplinieren und persönliche Gedanken knapp zu halten. Wenn ich mir notiere, was mich an dem mitreisenden Fotografen freut oder

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verschneite kirgisische Schotterpiste befahren lässt. Als klar wurde, dass meine Reportage ohne seine Geschichte nicht auskommen wird, habe ich meine Gastgeber gefragt, ob sie mich in dieses Dorf fahren könnten.


Interview Urs Mannhart

ärgert, dann weiss ich, dass diese Zeilen nie Teil der späteren Reportage werden. Aber da ich mir allgemein viele Notizen mache, läuft halt alles Gefahr, zwischen die Deckel meines Notizbuches zu geraten. Wie funktioniert der berufliche Schreibprozess nach der Reise? Wenn ich von einer Reise heimkomme und befürchte, ich hätte nicht genügend Material beisammen, hilft es mir, wenn ich alle Notizen in die Tastatur prügle. Wenn ich dann bei 80’000 Zeichen angelangt bin, kann ich sicher sein, dass es für eine Reportage von 30’000 Zeichen genügend Stoff geben müsste. Oft sind die Notizen aber gar nicht nötig und ich schreibe die Reportage, wie ich sie im Kopf habe. Oder besser gesagt, wie ich sie während des Schreibens in den Kopf bekomme. Also die Verfertigung einer Reise beim Schreiben... Was löst die intensive schriftliche Bearbeitung des gesammelten Materials aus? Eine schöne Rückkehr in die damalige Gegenwart. Und ein Wiedererleben eines kostbaren Moments. Siehst du das Schreiben übers Reisen als kreativen Prozess? Was macht diesen aus? «So wie es gewesen ist, kann man es ja nicht erzählen.», schrieb der österreichische Schriftsteller Elias Schneitter einst. Das gilt

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auch für meine Reportagen – und nicht nur für meine. Man erzählt ja in der Regel nicht ein Making-of, ausser bei einem als Road-Movie angelegten Text. Sondern man komponiert, entscheidet sich für eine Eingangsszene, steuert den Hauptkonflikt an und platziert vielleicht einen Cliffhanger. Dabei lässt man hundert spannende und tausend langweilige Momente links liegen. Wie gehst du mit so zahlreichen Reiseerinnerungen um? An einem gewissen Punkt meines Lebens hatte ich derart zahlreiche Reiseerinnerungen angesammelt, dass sie unmöglich in einer Reportage unterzubringen waren. Sie liessen mich aber dennoch nicht los. Deshalb entschied ich mich, einen Roman zu schreiben, in welchem diese Szenen in einem fiktionalen Gewand wiederkehren. So entstand ein wichtiger Motivationspfeiler für meinen Roman «Bergsteigen im Flachland.» Wie beeinflusst das Schreiben deine Erinnerungen? Vor allem, wenn es um länger zurückliegende Reisen geht? Teils konservierend, teils zudeckend. Was textlich vorkommt, wird Bestand haben, auch in der Erinnerung. Was nicht in den Text findet, kippt tendenziell auch rascher aus der Erinnerung. Aber mir scheint, diese Frage kommt zu früh: Frag mich das in fünfzehn Jahren!


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Joana Bolsinger (27) Assistant Restaurant Manager

«Die Reise manifestiert sich in den Fotobüchern, so dass man sie auf diese Weise in den Händen halten kann.»

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Erfahrungsbericht Joana Bolsinger

Während acht Monaten reiste Joana als 22-Jährige durch Südostasien, Nepal und Indien. Etwa einen Drittel der Zeit war sie alleine unterwegs. Seither folgten viele kürzere Reisen. Nun steht sie erneut kurz vor dem Aufbruch, dieses Mal für ein ganzes Jahr. «Wenn man alleine reist und keinen Vertrauten um sich hat, ist das Tagebuchschreiben etwas sehr Gutes. Ich habe auf all meinen Reisen geschrieben, denn man kann und will seine Gedanken nicht immer gleich mit Leuten teilen, die man frisch kennengelernt hat. Deshalb war das Tagebuch mein Vertrauter. Angefangen damit habe ich aber, als wir noch zu zweit unterwegs waren, eigentlich hauptsächlich, weil meine Reisepartnerin auch Tagebuch schrieb. Und ich wollte meine Erlebnisse festhalten. Damals schrieb ich täglich. Heute bin ich nicht mehr ganz überzeugt davon, weil ich gemerkt habe, dass es teilweise zum Zwang wurde. Denn ich habe nicht das Bedürfnis, jeden Tag zu schreiben, sondern nur dann, wenn meine Gedanken alleine zu laut werden und ich etwas brauche, um sie festzuhalten. Aber wenn ich im Nachhinein lese, möchte ich eigentlich doch über jeden einzelnen Tag etwas erfahren. Also muss man irgendein Zwischending machen. Ich habe noch keine überzeugende Strategie für die nächste Reise entwickelt, obwohl ich auf jeden Fall schreiben will. Heute sind die Tagebücher versorgt und ich lese selten darin. Ich weiss aber, wo sie sind. Wahrscheinlich sind das Festhalten während der Reise 46


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und der dadurch in Gang gesetzte Verarbeitungsprozess fast wichtiger für mich als das Nachlesen. Ausser in seltenen Momenten, in denen ich vergesse, wie richtig sich das Reisen angefühlt hat. Denn das Wichtigste, was ich auf meinen Reisen erfahren habe, ist diese völlige Akzeptanz dem Leben gegenüber und dieses Gefühl von Freiheit. Ich glaube es geht mir darum, prägende Momente – oft haben diese mit Ruhe und Frieden zu tun – festzuhalten. Nicht weil ich sie im Kopf vergesse, sondern weil ich vergesse, wie sie sich angefühlt haben. So dieses voll im Saft stehen. Die Augenblicke, in denen man realisiert, dass alles einfach richtig ist. Und dazu sind die Tagebücher und Fotografien schon gute Medien, denn sie ermöglichen mir, solche Gefühle wieder aufleben zu lassen. Nach dieser langen Reise bin ich nach Hause gekommen und direkt wieder ins Arbeitsleben eingestiegen – allerdings nicht in meinen Alltagsjob. Stattdessen arbeitete ich für einen Monat auf dem Weihnachtsmarkt, was durch das viele Draussensein und die feierliche Stimmung zu einem sanften Übergang wurde. Bevor ich wieder eine feste 100%Stelle angetreten habe, nahm ich mir gut zwei Wochen Zeit, um meine Fotobücher zu erstellen. Dabei ging ich alle Bilder durch und schwelgte nochmals bewusst in Erinnerungen. Zwischendurch habe ich auch geschrieben, um kurze Weisheiten einfliessen zu lassen. Diese Fotobücher nehme ich auch heute noch regelmässig hervor, wenn Freunde bei mir zuhause sind und das Thema Reisen zur Sprache kommt. Darin manifestiert sich meine Reise, so dass man sie auf diese Weise in den Händen halten kann. Und ich erzähle dann dazu, was ein sehr 48


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guter Verarbeitungsprozess ist, denn wenn ich das Album anschaue, tauche ich immer völlig in die Reise ein. Zusätzlich habe ich eine grosse Fotocollage gemacht, die auch heute noch neben meinem Bett steht. In meinem Zimmer gibt es Vieles, was auf das Reisen hinweist: Einen grossen Wandbehang aus Indien, afrikanische Statuen oder Postkarten, die ich von anderen bekommen habe. Jemand hat mir einige Fotos gross ausgedruckt und es liegt Garn herum, weil ich auf einer Reise begonnen habe, Armbänder zu knüpfen. In der Küche hängt eine Schürze, die von einem der Kochkurse stammt, die ich in fast jedem Land besucht habe. Kochen ist schon seit langem eine Leidenschaft und das Reisen hat meine Küche stark geprägt. Diesen Teil einer Kultur kann ich sehr gut mit meinem Leben hier verbinden. Das ist sogar so fest integriert, dass ich es gar nicht mehr bewusst mit der Reise in Verbindung bringe, obwohl es eigentlich auch ein Überbleibsel davon ist. Aber es ist so stark verankert, dass ich es gar nicht mehr wahrnehme. Was mir auch viel gebracht hat, um die Reise etwas länger nachwirken zu lassen, ist der Kontakt mit den Leuten, die ich kennengelernt habe. Es gibt eine Gruppe von Frauen, die ich in Nepal auf einem Trekking getroffen habe. Eine kommt aus Indien, zwei aus London und eine aus New York. Obwohl wir nur drei oder vier Tage zusammen verbracht haben, sind wir dicke Freundinnen geworden. Wir haben eine WhatsApp-Gruppe, in der phasenweise viel läuft, phasenweise gar nichts. Momentan schrieben wir oft, weil zwei von uns Geburtstag hatten und die amerikanischen Wahlen ein Thema waren. 49


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Ausserdem haben wir es bereits mehrmals geschafft, uns wieder zu treffen. Und das ist für mich eine Möglichkeit, die guten Momente des Reisens lebendig zu behalten. Um internationale Kontakte zu pflegen, ist natürlich auch Facebook nützlich. Über die Plattform hielt ich während der Reise auch Freunde und Familie auf dem Laufenden. Gegen Ende des Aufenthalts in einem Land habe ich jeweils meine Fotos geordnet, hochgeladen und kurze Texte dazugeschrieben. Diese brauche ich heute nur selten, nämlich dann, wenn ich nicht zuhause bin und mit jemandem übers Reisen zu sprechen beginne. Dann kommt es vor, dass ich auch mal diese Alben aufrufe, um die Erzählung zu dokumentieren. Direkt nachdem ich heimgekommen bin, habe ich viel und oft erzählt. Alle wollten ja wissen, wie es war. Ich denke, vieles geschieht bei mir am Anfang, gerade weil ich ein sehr kommunikativer Typ bin. Schwierig zu formulieren sind natürlich die Gefühle. Ich versuche es aber trotzdem, weil es häufig um tolle Dinge geht, für die man keine Worte hat. Dann braucht es eben etwas mehr Körpersprache, um das Gefühl herüber bringen zu können. Ich erzähle auch heute noch gerne, wenn auch nicht mehr gleich viel, weil es halt schon länger her ist und mein Umfeld die Geschichten kennt. Jetzt, wo die Planung einer neuen Reise ansteht, ist es zwar wieder mehr präsent und kommt öfters zur Sprache. Manchmal geht es mir beim Erzählen auch darum, das Verständnis zu fördern und die Leute zu ermutigen, wirklich zu reisen und nicht nur Ferien zu machen. Das bedeutet aber nicht, dass ich nur Gutes erzähle – ich sage wirklich auch, was nicht so toll war. Doch das wiegt das Positive meist nicht im Geringsten auf. 54


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Gerade bei Indien ist es halt so, dass viele Leute unglaublich skeptisch sind. Und dann sehe ich mich schon als eine Art Würdenträgerin für das Land und nehme diese Rolle auch beim Erzählen ein. Wirklich Negatives habe ich auch einfach nicht zu erzählen. Bei der Reise von Nepal nach Indien beispielsweise, da musste ich durch abgelegene Gebiete reisen. Tagelang habe ich keinen einzigen Touristen gesehen und mich mehr als einmal unglaublich verloren und fremd gefühlt. Ich habe mich zwar sehr auf Indien gefreut, aber auch solche Angst gehabt. Vor allem davor, krank zu werden und niemanden zu haben, der mir hilft. Aber dann, im Nachhinein zu merken, wie ich es mir trotzdem zugetraut habe, ist ein eindrücklicher Moment. Und auch einer, der mir heute in bestimmten Situationen immer noch Kraft gibt. Denn ich habe auf das Gute im Menschen vertraut, oft unerwartete Hilfe bekommen, und so hat das funktioniert. Rückblickend betrachtet ist das also nicht mehr ein schwieriger Moment, sondern eine Herausforderung, die ich gemeistert habe. Wenn ich also davon erzähle, dann gibt es nichts anderes zu sagen, als genau das. Wenn man sich auf Reisen die Zeit nimmt, in sich hineinzuhören, kann man sehr viel über sich selbst lernen. Natürlich kann man zwei Jahre Backpacken und als derselbe Mensch zurückkehren – wenn es einem nur um Spass geht und man hauptsächlich Party macht, surfen geht und sich nicht mit sich selbst auseinandersetzt. Für mich sind die Reisen aber Zwischenschritte in meiner persönlichen Entwicklung: Ich reife im alltäglichen Leben, und auf meinen Reisen reife ich auch – jedoch auf eine andere Art. Ich würde sagen, ich habe immer ein 55


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wenig von meiner Reise-Joana mit in den Alltag genommen. Manchmal mehr, manchmal weniger – was sicher ein Grund ist, wieso ich immer wieder gehe. Um mir genügend prägnante Erlebnisse und Orte zu schaffen, die mir helfen, so zu bleiben. Ich wünsche mir schon, dass ich meine Gelassenheit noch etwas mehr bewahren kann. Doch manchmal habe ich auch das Gefühl, dass es für die Person, die ich auf Reisen bin, in meiner Welt in der ich hier lebe, einfach keinen Platz hat.»

1 Indien 2012 / 284 von 389 / Rishikesh - Ved Niketan Ashram my messie room 2 Indien 2012 / 1 von 389 / Manali just a good light 3 Indien 2012 / 27 von 389 / Mc Leod Ganj - MOMO’s cooking class enjoy your meal! best momos ever!! 4 Indien 2012 / 24 von 389 / Mc Leod Ganj - MOMO’s cooking class - 4

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fillings: potatoes; spinach; cabbage; chocolat 5 Indien 2012 / 22 von 389 / Mc Leod Ganj - MOMO’s cooking class 6 Indien 2012 / 181 von 389 / Shimla Himalaya 7 Nepal 2012 / 29 von 203 / Kathmandu Thamel 8 Indien 2012 / 307 von 389 / Rishikesh - THE thali 9 Indien 2012 / 308 von 389 /

Rishikesh 10 Nepal 2012 / 143 von 203 / Kathmandu – cooking class 11 Nepal 2012 / 145 von 203 / Kathmandu – cooking class 12 Nepal 2012 / 138 von 203 / Kathmandu – cooking class 13 Nepal 2012 / 140 von 203 / Kathmandu – cooking class 14 Indien 2012 / 158 von 389 / Shimla on the way to Himalaya


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Impressum

Die Publikation entstand im Rahmen des Master Art Education Kulturpublizistik an der Zürcher Hochschule der Künste als Masterthesis, Dezember 2016.

Text & Konzept Anna Studer Grafik Adriana Aniello Lektorat Sabine Gilgen Natalie Reusser Bilder Charles Grögli Anna Ruch Joana Bolsinger Druck Basisdruck AG, in Bern

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Ist eine Reise zu Ende, sobald man nach Hause gekommen ist, oder besteht sie durch unsere Erinnerungen fort? Drei Menschen erzählen von ihren Strategien der Verarbeitung vergangener Reisen. Zentral sind die Fragen nach der Dokumentation und dem Erzählprozess, aber auch, inwiefern Reisen persönliche Entwicklungen und Veränderungen hervorrufen und einen Reifeprozess auslösen können. Dabei steht das Reisen von jungen Erwachsenen im Fokus. Daneben beantworten eine Reisebuchautorin und ein Reporter, was eine intensive professionelle Auseinandersetzung mit auf Reisen gesammeltem Recherchematerial auf der persönlichen Ebene ausmacht. Die Publikation will Beispiele aufzeigen, wie andere Menschen über ihr Reisen nachdenken. Auf diese Weise soll sie die Lesenden dazu anregen, sich auf die Suche nach den eigenen Reisespuren zu machen und ihre persönliche Art der Verarbeitung zu finden. Sie kann – im Gegensatz zum klassischen Reiseführer – auch und vor allem nach der Heimkehr zur Hand genommen werden, als Hilfsmittel, um seine eigene Erinnerungskultur zu schaffen und so eine Reise länger nachwirken zu lassen.


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