Tristan und Isolde

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Wie man sich denken kann, hatten schon viele Ritter versucht, durch den Kampf mit dem Drachen die schöne Isolde zu gewinnen. Mancher war geflohen, wenn er des Drachen ansichtig wurde, andere hatten ihre Kühnheit mit dem Leben bezahlt. Einer von denen, die davon träumten, Isoldes Gemahl zu werden, war der Truchsess des Königs. Er verehrte die blonde Königstochter seit langem, aber sie mochte ihn nicht. Da er zu furchtsam war, den Kampf mit dem Drachen zu wagen, sann er auf Betrug. Jedes Mal, wenn ein Kühner gegen den Drachen ausritt, hielt er sich in der Nähe versteckt, um keine Gelegenheit zu verpassen. Er hatte auch Tristan auf das Tal Anferginan zureiten sehen, war ihm gefolgt und hatte in sicherer Entfernung gewartet. Erst als der Todesschrei des Drachens durch die Wälder gellte, wagte er sich heran. Bald kam er dorthin, wo der Drache Blätter und Gras versengt hat, sah Tristans totes Pferd und gleich darauf das leblose Ungeheuer. Das versetzte ihm einen solchen Schreck, dass er vom Pferd fiel, sich keine Zeit ließ, um wieder darauf zu steigen, sondern davonlief. Lange blieb er in den Büschen versteckt, bis er sicher war, dass der Drache sich nicht mehr regte. Er suchte sein Pferd, schwang sich darauf, ritt zu dem Untier, und als er sich überzeugt hatte, dass es tot war, griff er es mit dem Speer an. Aber der wollte in der gepanzerten Haut nicht stecken bleiben. Er zerbrach ihn, rammte das vordere Ende dem Tier in die Gurgel, hieb mit seinem Schwert noch mehrmals auf den Leichnam ein und ritt dann schnell zurück nach Weisefort. Denn er dachte: Ist der unbekannte Ritter nicht tot, so muss ich eher da sein und den Tod melden! Bei Hofe erhob sich ein großes Geschrei um seine vermeintliche Heldentat. »Ja, ihr Herren«, sagte er, »da könnt ihr sehen, welche Wunder ein beherzter Mann aus Liebe zu einem Mädchen vollbringt. Ein Fremder, der vor mir da war, wurde gefressen. Ich aber habe das Ungeheuer erlegt. Ich will nicht viel Worte machen. Seht es euch an.« Und er zog mit Freunden und Verwandten in den Wald zeigte ihnen das halbe Pferd des Fremden und ließ dem Drachen das Haupt abschlagen und aufs Schloss bringen, als Beweis. Dann lief er zu König Gurmun und erinnerte ihn an seinen Schwur. Als Isolde davon erfuhr, begann sie zu weinen und zu klagen. »Nie, Mutter«, schluchzte sie, »werde ich dem Truchsess, dem Küchenoberaufseher, angehören! Eher nehm ich

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