Gut & Böse

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Gut & Bรถse Moralische Dimensionen von Design bei jungen Menschen

Rainer Funke Matthias Schreckenbach Harry Hermanns [Hrsg.]



Gut & Bรถse Moralische Dimensionen von Design bei jungen Menschen

Rainer Funke Matthias Schreckenbach Harry Hermanns [Hrsg.]


Moralische Dimensionen von Design bei jungen Menschen [ZUM THEMA]

6 »Und ich denk immer drüber nach, was der jetzt über mich denkt.« [EIN SOZIOLOGISCHES VORWORT]

20 Daniel, Bella & Peter [GRUPPE No 1]

26 Nick & Felix [GRUPPE No 2]

44 Martin & Sandra [GRUPPE No 3]

54 Kevin & Marc [GRUPPE No 4]

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R端diger, Robert & Renate [GRUPPE No 5]

74 Anja & Cara [GRUPPE No 6]

86 Nele & Georg [GRUPPE No 7]

100 Laura & Christoph [GRUPPE No 8]

114 Stephan & Julian [GRUPPE No 9]

128 Impressum [

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Moralische Dimensionen von Design bei jungen Menschen — Z U M T H E M A von Rainer Funke

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FOTOS Anna Reinhardt & Lauren Lank


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Wie stark die moralische Wirkung von Konsumgütern sein kann, kommt besonders deutlich zum Ausdruck, wenn moralische Grenzen überschritten werden, wenn z.B., wie neulich in Berlin geschehen, der Leiter eines karitativen Vereins zur Hilfe für Obdachlose einen teuren Maserati als Dienstwagen fährt oder wenn Chanel ein Männerparfüm als „Égoiste“ inszeniert. Es ist nichts Neues, dass Menschen Moral an die Oberflächen von Dingen binden. Schon die Mosaischen Gesetze kamen in der Form von Schrifttafeln zu den Israeliten. Wenn auch die Relevanz der 10 Gebote für die Gemeinschaft dadurch gegeben war, dass jene Tafeln direkt aus Gottes Hand stammten, deren Inhalt, deren konkrete moralgebende Bedeutung erschloss sich in ihren Oberflächen: der Schrift. Ebenso ist es seit alters her üblich, dass Reichtum und Macht mit teuren und edel gestalteten Objekten zum Ausdruck gebracht und darüber hinaus gleichzeitig in der Form der Gebäude, der Räume, der Einrichtungsgegenstände, der Kleidung usw. die Regeln des Verhaltens in der Gemeinschaft symbolisiert werden. Seine höchste Ausdifferenzierung erfuhr dies am Hof von Ludwig XIV, wo quasi jede Geste geregelt war und im Zusammenhang mit Kleidern und Möbelstücken Rangfolge und Abstand zum König markierte. Es war die Moral der Unterordnung des Einzelnen in die strenge Hierarchie einer imaginierten göttlichen Weltordnung, welche auf diese Weise gelebt wurde. Eine vage Ahnung davon kann man auch heute noch bekommen, wenn man z.B. in teuren Restaurants auf die strengen Regeln des Gebrauchs von Besteck und Tafelgeschirr verwiesen wird. Ebenfalls eine lange Tradition hat es, moralisch positives Bestreben mit Askese zu verbinden. Auch in den monotheistischen Religionen ist diese in der Antike entwickelte Position w

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RAINER FUNKE — Moralische Dimensionen von Design bei jungen Menschen

ZUM THEMA Zeichen für eine moderne, gerechte Welt aber unerschwinglich für den Normalbürger: 1933 kostete der Wohnzimmertisch von Walter Gropius 75,Reichsmark und Mies van der Rohes Stahlrohrsesselt 125,-. Das durchschnittliche Arbeiter-Monatseinkommen betrug ca. 100,- Reichsmark.t © Warenbuch für den Neuen Wohnbedarf von Werner Gräff 1933 (Blatt 72) Quelle: Hasso Bräuer (Hrsg.): Archiv des deutschen Alltagsdesigns. Warenkunde des 20. Jhd. Digitale Bibliothek, Band 56. CD-ROM, Berlin 2002, S. 812 und S. 797.

verankert. „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“ heißt es bei Markus 10,25 (ähnlich bei Matthäus 19,24 und Lukas 18,25). Sokrates und Diogenes von Sinope (in der Tonne) gelten als Initialfiguren für asketischen Moralismus. Auch Buddha begab sich auf einen Weg, auf dem er sich von den irdischen Gütern abwand, um Spiritualität und Glückseligkeit zu finden. Gerade die Dinge, die Reichtum, Macht und besonderen Geschmack zum Ausdruck bringen, gelten aus der asketischen Sicht als verwerflich. Einen asketischen Aspekt hatte auch das Bestreben von Designern der Moderne, mittels Gestaltung das alltägliche Leben der Menschen – vor allem auch derjenigen mit geringem Einkommen und schwierigen Lebensumständen – grundlegend zu verbessern. So war die Idee des funktionalistischen Design eng mit dem Ziel der Überwindung unwürdiger Lebensverhältnisse verbunden. Das schwingt z.B. bei Adolf Loos mit, wenn er 1908 in „Ornament und Verbrechen“ das funktionalistische Gestalten proklamiert: „…denn das Ornament wird nicht nur von Verbrechern erzeugt, es begeht ein Verbrechen dadurch, dass es den Menschen schwer an der Gesundheit, am Nationalvermögen und also in seiner kulturellen Entwicklung schädigt.“1 Er folgt damit dem 1896 von Louis H. Sullivan aufgestellten Leitsatz „form follows function“. Ähnlich, jedoch in gefährlicher Nähe zur Nazi-Ideologie2, kämpfte Gustav E. Pazaurek für den „guten Geschmack“. 1909 eröffnete er eine „Abteilung der Geschmacksverirrungen“ im Landesgewerbemuseum Stuttgart. „Entsprechend der Philosophie des Deutschen Werkbunds ging Pazaurek von einem starken Einfluss der Dinge auf den Menschen aus. Nach Überzeugung des Werkbunds erhöhte ein entsprechendes Wohnumfeld nicht nur die Lebensqualität, sondern konnte auch den 1 Adolf Loos: Ornament und Verbrechen. In: Ulrich Conrads (Hrsg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Braunschweig/Wiesbaden 1981, S. 18. 2 In seiner Schrift: Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe. Stuttgart, Berlin 1912, heißt es auf S. 303: „Urwüchsige, männliche Kraft, … überschäumendes Herrengefühl, ungebrochene Furchtlosigkeit sind sicher nicht zu verachten, denn nur sie können feminine Dekadenz haltloser Hamletnaturen wirkungsvoll paralysieren. Gesundheit und Frische tut uns Not.“

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Menschen selbst ‚bessern‘ und zu einem verantwortlich denkenden Mitglied der Gemeinschaft erziehen. Gekämpft wurde gegen die Prunksucht und den Dekorationsirrsinn der Gründerzeit, gegen eine als verlogen empfundene, oberflächliche Kultur.“3 Auch zahlreiche Gestalter im Bauhaus wie Walter Gropius, Hannes Meyer oder Herbert Beyer verfolgten sozialreformerische Anliegen.4 Für Margarete Schütte-Lihotzky bestand in der Erleichterung der Hausarbeit für Frauen das zentrale Anliegen bei der Entwicklung der Frankfurter Küche. Sie sah sich als Kommunistin in der moralischen Pflicht, für das Wohl der unterprivilegierten „kleinen Leute“ einzutreten.5 Besonders interessant ist, dass die bis heute wirkende Idee der Entsprechung von sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit mit einer funktionsorientierten, geometrisch reduzierten Gestaltung der Dinge des Alltags weit in die Geschichte reicht. Wir finden sie schon bei den Häusern und Möbeln der Shaker im 19. Jahrhundert. Noch früher, bereits 1516, also 400 Jahre vor der Entwicklung des industriellen Bauens, hatte Thomas Morus in seiner Utopia detailliert die Häuser der idealen Inselrepublik ganz im Sinne der Konzepte der Moderne konzipiert: dreistöckige Bauten mit Flachdächern, großen Glasfronten, Gärten nach hinten, bei völlig einheitlicher Gestaltung in allen Straßen. Sie bildeten den baulich-gestalterischen Rahmen der umfassenden Konstruktion einer Gesellschaft ohne Eigentum 3 Imke Volkers: Böse Dinge. Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks. Begleittext zur gleichnamigen Ausstellung 16. 07. – 30. 11. 09. Museum der Dinge, Werkbundarchiv Berlin, S. 5. 4 Jedoch kamen diese sozialreformerischen Bemühungen bei den Preisen der Produkte nicht zum Tragen. So wird im Warenbuch für den Neuen Wohnbedarf von Werner Gräff 1933 (Blatt 72) der Preis des Thonet-Wohnzimmertisches T 45 von Walter Gropius mit 75,Reichsmark angegeben. Das durchschnittliche Arbeiter-Monatseinkommen betrug circa 100,- Reichsmark. Der Stahlrohrsessel von Mies van der Rohe MR 544, ebenfalls von Thonet in Wien hergestellt, kostete 125,- Reichsmark (Blatt 57) / Vgl.: Hasso Bräuer (Hrsg.): Archiv des deutschen Alltagsdesigns. Warenkunde des 20. Jahrhunderts. Digitale Bibliothek, Band 56. CD-ROM, Berlin 2002, S. 812 und S. 797. 5 Obgleich streng funktionalistisch geplant, erwies sich die Frankfurter Küche in vielen Arbeiterhaushalten als ziemlich unpraktisch. Zwar waren die Arbeitsabläufe in der Küche optimiert, was tatsächlich eine Entlastung der Hausfrau darstellte, der gewohnte Esstisch passte jedoch nicht mehr in den kleinen Raum. Die Hausfrau wurde damit de facto zur von der Familie abgeschirmten Arbeitskraft degradiert, das gewohnte Familienleben nahe am Herd unmöglich.

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Thomas Morus sah in einfachen, geometrischen, offenen Häusern die Entsprechung einer gerechten Gesellschaft ohne Eigentum. G R A F I K Kreidezeichnung von Hans Holbein. Datiertes Jahr, 1528


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ZUM THEMA Bereits Kleinkinder lernen beim Spielen mit Bauklötzen das konstruktive Fortschreiten in nahezu unendlicher Vielfalt von Kombinationen geometrischer Körper kennen F O T O © Caridge Well

und ohne soziale Unterschiede. Neben dem Egalitätsstreben, neben einer asketischen Orientierung, neben der Ablehnung von Prunksucht und Romantizismus, neben der Zurückweisung ausschweifend-sinnlicher Überladung der Dingwelt war und ist die Fixierung auf die geometrische Reduktion mit dem Bestreben verbunden, das Wesen der Dinge selbst und nicht nur Zeichen davon zu verkörpern, einen Zustand der perfekten Ordnung zu erreichen. Gropius hatte das als Programm der Typisierung beschrieben: nicht in der Form besondere, sondern funktional typische Produkte zu entwerfen.6 Die Reinheit der Form der Körper, welche der Geometrie folgen, ist Ausdruck für die Begierde nach dem Idealen. Zugleich ist sie Ausdruck der moralischen Norm, nicht abzulassen, dem Idealen zu folgen. Gerade dort, wo die Geometrie sichtbar wird, erwächst auch eine Ahnung davon, dass der Konstruktionsprozess immer weiter fortgesetzt werden kann. Jeder Baukasten weckt den Wunsch nach der Unendlichkeit des Aneinander-reihens von Baustein an Baustein. Der Fortschrittglaube bindet sich also nicht ohne Grund an die Geometrie: Design als angewandte Aufklärung. Bis zum Aufkommen postmoderner Zweifel war der Fortschrittsglaube zu hundert Prozent moralisch. Das gilt für das von der Hochschule für Gestaltung Ulm oder von den Produkten der Firma Braun geprägte westdeutsche Designleitbild ebenso wie für das Bemühen um die „gute Form“ in der DDR, ob es im Ideal einer dem Sozialismus adäquaten Lebensform oder in der klassischen Moderne begründet war. Jedoch, was Harry Lehmann für die DDR feststellt, trifft auch für große Bevölkerungsgruppen Westdeutschlands zu: „Der abstrakten Form fehlte die Volksnähe, sie besaß keine Fiktionswerte, die in der Lebenswelt der Bevölkerung verankert waren.“7 Diese Fiktionswerte fanden sich eher in den Gegenströmungen zum 6 Vgl. Walter Gropius: Grundsätze der Bauhaus-Produktion. In: Ulrich Conrads (Hrsg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jhd. Bauwelt Fundamente Nr. 1, Basel 1975, S. 90 ff. 7 Harry Lehmann: Die ästhetische Wende. In: lettre international Nr. 86, Berlin Herbst 2009, S. 128.

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Funktionalismus. Mit der ornamentalen Romantisierung des Alltags der Nachkriegszeit sollten und konnten die überstandenen Schrecken von neuer, versöhnender Opulenz überdeckt werden, sollten und konnten neue Lebenslust, Zuversicht und Weltvertrauen Ausdruck finden. Unter dessen hatten sich die Lebensbedingungen der Menschen in den Industrieländern grundlegend gewandelt. Der Alltag bestand immer weniger aus dem bangen Ringen um Überlebensressourcen, sondern richtete sich immer mehr auf die Erlebnisqualität der Verrichtungen und der Dinge. Neu in der Erlebnisgesellschaft des Massenkonsums ist, dass wir alle, und nicht nur eine besondere Oberschicht, in unserem Alltagsleben ständig Gebrauchsgüter nutzen, um uns selbst unserer Moral zu vergewissern und sie anderen mitzuteilen. Neben den klassischen Kommunikatoren für Moral wie Religionen oder Erziehung sind die Konsumgüter zu Trägern moralischer Positionen geworden. In der Differenziertheit der Oberflächen von Konsumgegenständen erblicken wir Stück für Stück die Mannigfaltigkeit unserer sozialen Daseinsmöglichkeiten als Erlebnisangebote. Jahrhunderte lang hatten unsere Vorfahren davon geträumt, saturiert und faul, jenseits der täglichen Mühsal im Schlaraffenland zu leben. Als die Produktivität und die Technisierung des Alltags dann sozusagen die gebratenen Tauben bereitstellten, setzte das Gegenteil ein: statt träge dem Nichtstun nachzugehen, begann eine große Nervosität. Wir waren Konsumbürger geworden, deren tägliches Hauptmotiv es ist, die permanente Suche nach den eigenen, ganz besonderen Idealen mit den dazu passenden ganz besonderen Konsumgütern auszufüllen: vor den Schaufenstern und in der Umkleidekabine der Kaufhäuser, in Möbel- und Autohäusern, Technik-, Drogerie- und Baumärkten, Internetshops usw. usw. … Kaufakte erscheinen als Akte der Lebensformgestaltung, bei denen wir in genussvolle Dialoge mit uns selbst treten, eine angenehme Form, die eigene Individualität zu gestalten und dabei über Schwächen oder Ängste hinweg zu fiktionalisieren. Die von der Aufklärung programmatisch formulierte Idee des souveränen Subjekts manifestiert sich als Konsum-Individualismus. Die Integration

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in Gruppen erscheint als das Ergebnis aktiver Individualisierung, verwirklicht mit komplexen Zeichensystemen des Design. Viel mehr als aus Gründen familiärer Herkunft gehören wir heute sozialen Gruppen an, die wir aktiv aufgesucht haben. Wir suchen die Zusammengehörigkeit mit anderen Menschen, die ihre Individualitätssuche auf ähnliche Weise betreiben wie wir selbst, bzw. wie wir es gern selbst täten. Und wir erkennen dies zum großen Teil an deren Konsumverhalten und den von ihnen bevorzugten Konsumgütern, welche sich in ihren Oberflächen von denen anderer Gruppen unterscheiden. Sozialisation erfolgt als Parallelausrichtung unseres aktiven Bemühens um Individualisierung. Produkte, Kommunikationsmittel und ganz besonders Marken werden als Zeichen einer attraktiven oder zu verachtenden Lebensweise gedeutet, sich selbst und den Anderen gegenüber. Sie befestigen oder erschüttern die eigene soziale Identität. Sie sind Brücken, auf denen Beziehungen zu anderen Menschen möglich werden, in der Regel streng nach der Zugehörigkeit zu Milieugruppen unterschieden. „Mochte dem einzelnen einmal romantische Naturlyrik oder eine Klaviersonate Beethovens das Gefühl vermitteln, aufgehoben und geschützt in einem intimen Größeren zu sein, so kann ein ähnliches Feedback inzwischen von einem Markenprodukt, einem Rasierapparat oder einem besonders formschönen Füllfederhalter kommen. Und wie ein Spielfilm oder eine Erzählung Phantasien stimuliert, malt mancher sich das eigene Leben ausgehend von einem Anzug oder einer Espressomaschine als Erfolgsstory aus und träumt seine Träume etwas schärfer konturiert als sonst.“8 In dem Maße, wie der Druck zur Individualisierung steigt, relativiert sich auch das klassische Egoismusverbot. Die Furcht vor Vereinnahmung und vor Mangel an Sinn sind zentrale Sozialisationskräfte in unserer Zeit. Parallel zur klassischen bürgerlichen verbreitet sich eine zweite Moral, eine der Amoralität. Aus „Du sollst andere lieben!“ wird „Du darfst, Du musst Dich selbst lieben, Dich oder Deinesgleichen!“ Die Konsum8 Wolfgang Ullrich: Träume gegen Geld – Die neue Konsumkultur. Rundfunksendung, 25. Februar 2007, 8.30 Uhr, SÜDWESTRUNDFUNK, SWR2 AULA.

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artikel sollen beides leisten: Sie sollen das Erlebnis des Sieges des Einzelnen über die Anderen symbolisieren und gleichzeitig dessen Integration in ein Milieu bewerkstelligen. „L‘égoiste“, „Geiz ist geil!“ meinen „Du darfst egoistisch sein.“ Man liebt im Anderen sich selbst in der Weise, dass man nur das Eigene im Anderen findet oder in ihn projiziert. Die antisoziale Umwertung gerät zur sozialen Bindekraft: die Gemeinschaft der Spieler um den Preis für den cleversten Geizigen, skrupellosesten Konkurrenten, selbstverliebtesten Egoisten. Die Revolte gegen die Moral zur Vermeidung der Anstrengung einer normgerechten Selbstausrichtung ist selbst zur Norm geworden, welche nicht minder zwingend ihre Saugnäp-fe auf die Seelen legt. Auch diese Anstrengung, die nun nötig ist, wird belohnt – real oder nur scheinbar, jedenfalls gibt es das Versprechen der Belohnung: durch Aufmerksamkeit, Gemeinsamkeit, Nähe. Seit Narziss sich vor der Klarheit des Wassers verbeugte, um der Faszination des Bildes eigener Schönheit zu erliegen, sind wir von der Sehnsucht getrieben, unsere Schönheit in den Dingen der Welt zu spiegeln. Eines unterscheidet uns heute ganz wesentlich vom antiken Narziss: er wusste nicht, dass er es selbst war, in dessen Bild er sich verliebte. Uns hingegen begleitet dieses Wissen. Die Selbstverliebtheit wird akzeptiert und genossen, sowohl in ihrer paralysierenden als auch in ihrer aktivierenden Dimension. Auch wenn die klassischen Normen, wie die 10 mosaischen Gebote9 oder Kants Leitsätze individueller sittlicher Vernunft10 grundsätzlich Gültigkeit behalten, werden sie auf dem Weg von einer Moral der 9 Insbesondere Sozial-, Eigentums- und Rechtsprinzipien wie „Du sollst nicht töten.“, „Du sollst nicht stehlen.“ „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ gelten nach wie vor als sittliche Basis von Gemeinschaft. 10 Auch Kants Leitsätze finden nach wie vor mehrheitliche Anerkennung und Beachtung: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“ „Demnach muss ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.“ (Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akademie-Ausgabe Kant Werke IV, S. 421ff.)

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Überlebensoptimierung hin zu einer Moral der Erlebnisoptimierung situativ und Milieu-bezogen differenziert, relativiert und erweitert. So finden wir uns in einer postmodernen Wertepolarität des „sowohl-als-auch“ wieder:

Milieugruppen nach Gerhard Schulze: Unterhaltungs-, Integrations-, Niveau-, Harmonie-, Selbstverwirklichungsmilieu (v.l.n.r.); G R A F I K © Raúl Soria Andrés, FH Potsdam, Fachbereich Design 2008

Sei solidarisch! und Sei besonders! Diene dem Gemeinwohl! und Sei clever! Begrenze Deine Lust! und Sei lustvoll! Sei vernünftig! und Sei emotional! Sei diszipliniert! und Sei frei! Sei klug! und Sei phantasievoll! Glaube! und Sei kreativ! Sei keusch! und Sei sexy! Sei männlich-stark! und Sei weiblich! Sei ernsthaft! und Sei spielerisch! Sei erwachsen! und Erhalte Dir Deine Kindlichkeit! Sei erfolgreich! und Sei glücklich! Sei gut! und Sei schön! Der Konsum stellt ein wesentliches Medium einerseits der Selbstvergewisserung über die Gültigkeit von moralischen Werten und andererseits deren Kommunikation dar. „Dem Konsum kommt…nicht nur eine individualitätsstützende, sondern genauso eine soziale Dimension zu: Er konstituiert die Milieus, innerhalb derer Individualität jeweils erst einen Schutzraum besitzt.“11 Moralische Grundsätze markieren die Grenzen der Milieus. Im Besitzenwollen, Besitzen oder Nutzen spezieller Konsumgegenstände findet man den Ausdruck bestimmter Lebensstile, Haltungen und Weltanschauungen. Dazu Felicidad Romero-Tejedor: „Nach Kai-Uwe Hellmann bringen Marken in ihrem Sozialprogamm einen Sozialcode mit sich. Dieser Code ist ganz einfach: Inklusion oder Exklusion gegenüber der Marke. Eine Rolex am Armgelenk signalisiert, dass man zum Kreis der ‚Winner-Typen‘ gehört. Ein Geldmensch ohne Rolex signalisiert auch etwas, nämlich dass er sich distanziert. Aber 11 Wolfgang Ullrich, a.a.O.

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hier soll kein Missverständnis aufkommen: Mit Produktsemantik gestalten Designer nicht die Gesellschaft, sie bestätigen nur bestehende Identifikationsambivalenzen.“12 Nun, ganz so einfach ist der Code dann doch nicht. Neben der Zugehörigkeitsvorstellung vermittelt er auch ein konkretes Erwartungsszenario gegenüber dem Rolex-Träger, welches je nach Milieu moralisch bewertet wird: „Rolex-Träger verhalten sich so und so.“ Genau ein solches imaginiertes Verhaltensszenario, welches als emotionaler Gewinn oder Verlust erlebt wird, erlaubt jenen, für die Reichtum und Macht unerreichbar erscheinen, eine symbolische Teilhabe. Darin liegt eine nicht zu unterschätzende Antriebskraft der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich unter Zuhilfenahme von gestalteten Produkten Aufstiegshorizonte zu zeichnen. In dem Zusammenhang etablieren sich vielfach verzweigte Spiele, bei denen unterschiedliche Abstände zu Verhaltensnormen justiert werden können. Z.B. Dinge, welche aus der Sicht des Selbstverwirklichungsmilieus13 als besonderer Ausweis für Spießigkeit gelten (z.B. Gartenzwerge oder Wackeldackel), können durch ironische Platzierung zu Zeichen für besondere Stärke und Coolness avancieren. Man kann sich die Nähe des Hässlichen leisten, man ist nicht mehr gefangen im Reflex der Ablehnung des Kitsches. Das Maß an Sentimentalität wird dosierbar. Die schwere Rapper-Goldkette gerät am Hals eines Experimentalisten14 zum Freiheitssymbol. Zahlreiche Marken profitieren von derartiger Bedeutungsdynamik. Auch der Umgang mit Imitationen und Markenfälschungen differenziert sich vielfältig aus. Ein gutes, manchmal sogar auch ein schlechtes Imitat einer Louis-Vuitton-Handtasche bringt unter Umständen mehr Sozialprestige ein als das Original. Insofern hat Rainer Erlinger nur teilweise Recht, wenn er meint: „Speziell in einer Zeit sozialer Unsicherheit kann, mehr noch als die Zurschaustellung von Luxus, grade die Dar12 Felicidad Romero-Tejedor: Design ist mehr: Fragen im Jahrhundert des Designs. In: Öffnungszeiten Papiere zur Designwissenschaft 23/2009, FH Lübeck, S. 5. 13 Vgl.: Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt a.M., 2005. 14 Vgl. Sinus-Milieus, Sinus Sociovision GmbH, 2009, http://www.sociovision.de/ loesungen/sinus-milieus.html.

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Zeichen für Kraft und Dominanz: Hummer H3 von General Motors. F O T O © GM Corp.


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stellung von Macht gesellschaftszersetzende Wirkungen entfalten – und damit allein aus der symbolischen Kraft des Design heraus ethisch höchst fragwürdig sein.“15 So sind Sport Utility Vehicles (große Autos, die so tun als wären sie Geländewagen) bei vielen, die sie sich nicht leisten können, sehr beliebt, eben weil sie die „formensprachliche Aussage der Macht, des Reichtums und der Ausgrenzung…“ vermitteln, „…teilweise…mit einem unterschwelligen Bedrohungspotential verbunden, das… mit martialischer Gestaltung und Farbgebung zu tun hat…“.16 Mag sein, dass „…das Gefühl der Chancenlosigkeit und Ausgrenzung…“ verstärkt wird „…durch die Konfrontation mit einem Design…, das Macht und Luxus derjenigen betont, die zentral in der Gesellschaft stehen.“17 Andererseits wird im SUV das Lebensgefühl der Reichen und Mächtigen vorstellbar und grundsätzlich erreichbar. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Unsere Fixierung auf die Oberflächen der Konsumgüter hat unsere Moral verändert. Konsumgegenstände sind zu wichtigen Delegierten der Moral geworden. Sie sind Bestandteil unserer Freiheit als selbstbestimmte Bürger. Aber sie sind nur Medien, nicht Quellen der Moral! In welcher Weise junge Menschen aus verschiedenen Milieus ihre moralischen Grundsätze an die Gestalt von Gegenständen knüpfen, wurde im Rahmen eines Designtheorie-Seminars an der Fachhochschule Potsdam im Sommersemester 2010 unter der Leitung der Soziologen Harry Hermanns und Matthias Schreckenbach sowie von mir untersucht. Neun studentische Teams haben insgesamt 19 Jugendliche aus Berlin und Potsdam im Alter zwischen 13 und 18 Jahren befragt, von den Befragungen Videoaufzeichnungen angefertigt und diese unter Bezug auf die Milieugruppenmodelle von Gerhard Schulze und Sinus Sociovision (vgl. Anmerkungen 13 und 14) ausgewertet. Die Ergebnisse sind im Folgenden dokumentiert. 15 Rainer Erlinger: Die Form des Guten. In: form-The Making of Design 227, Basel, Juli/August 2009, S. 74. 16 Ebenda. 17 Ebenda.

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»Und ich denk immer drüber nach, was der jetzt über mich denkt.« —

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ZITAT AUS DEM INTERVIEW MIT ANJA VON GRUPPE 06

E I N S O Z I O L O G I S C H E S V O R W O R T von Harry Hermanns und Matthias Schreckenbach

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Was die Menschen als gut und böse, moralisch oder unmoralisch bezeichnen, nennen die Soziologen einen Wert. Eine Nationalgesellschaft hat Werte (z.B. Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit usw.), eine kriminelle Gang hat Werte (z.B. kein Gruppenmitglied verraten) und eine Familie hat Werte (z.B. Harmonie, Schutz, Selbstentfaltung). Nicht jedes Mitglied einer Gruppe teilt alle Werte dieser Gruppe, aber die Werte der Gruppe sind für diese konstitutiv. Werte können kollidieren, auch in einer Gruppe: in einer Familie herrschen die Werte Harmonie, Ehrlichkeit und Selbstentfaltung. Ein jugendliches Mitglied der Familie fühlt sich zur Gothic-Szene hingezogen, die Eltern finden das scheußlich. Der Jugendliche kann den einen Wert (Selbstentfaltung) höher bewerten, aber dann ist in der Familie die Harmonie am Ende. w


H. HERMANNS UND M. SCHRECKENBACH — Ein soziologisches Vorwort

VORWORT

Er kann es verheimlichen, dann verstößt er gegen den Wert Ehrlichkeit. Werte gelten in einer Gruppe, aber in verschiedenen Situationen wird ein Wert unterschiedlich interpretiert: eine ökologisch orientierte Familie trennt den Müll, aber sie hat ein großes Auto. Solche Widersprüche sind nichts Besonderes. Einen Wert, zum Beispiel Altruismus, muss man eingrenzen: solange noch Menschen verhungern, müsste man als altruistischer Mensch ja eigentlich seinen gesamten Besitz verkaufen und mit dem Geld helfen. Aber man geht mit den Werten nicht konsequent um. Die Gruppe hat Interpretationsregeln, wann der Wert und wie er zu gelten hat. Eine Kirchengemeinde, einigt sich, wann die Spende für die Armen hoch genug ist und man dem Wert „Altruismus“ genüge getan hat. Durch soziale Interaktion werden die Werte bestärkt oder geschwächt. Wenn ein Jugendlicher im Sportverein Herausragendes leistet, wird er vom Trainer und den Mitspielern gelobt; damit wird auch der Wert „Erfolg“ bestärkt. Die Eltern sind aber beunruhigt, weil der Jugendliche für die Schule nichts tut, er erfüllt seine Pflicht nicht und die Eltern machen ihm Vorhaltungen. Durch diese Interaktion stärken sie den Wert „Pflichterfüllung“. Der Jugendliche steht in einem Konflikt: der Sportverein hat andere Werte als die Eltern. Er steht zwischen zwei Werten und zwei Gruppen und muss daraus seinen eigenen Weg finden. Wenn wir in Interaktionen handeln, dann sind wir damit beschäftigt, das Handeln der Anderen zu interpretieren. Einzelne Handlungen versuchen wir zu entziffern und deuten sie als Elemente eines Musters: er stellt sich über mich, er traut mir nichts zu, er kennt meine Kompetenzen, er bewundert mich. Wir machen uns ein Bild von dem, wie das Gegenüber uns sieht - und der Partner in der Interaktion macht das genauso. Ich kann also an meinem Interaktionspartner sehen, wie er mich wahrnimmt und meine Handlungen interpretiert. Da wir durch die Anderen erfahren, wer wir sind, versuchen wir die Anderen dazu zu bringen, uns so zu behandeln, dass wir uns als die Person erleben, die wir sind oder gerne sein würden. Wenn wir mit Anderen in Interaktionen eintreten, versuchen wir die Situation so zu inszenieren, dass wir die Rolle

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VORWORT

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zugewiesen bekommen, die zu unserem Bild von uns passt. Goffman nennt diese (willkürlichen oder unwillkürlichen) Versuche, bei Interaktionspartnern die Wahrnehmung der eigenen Person zu steuern: "impression management"(EindrucksManagement)1. Man versucht, den Eindruck, den Andere in der Interaktion von einem gewinnen, zu beeinflussen, vielleicht sogar zu manipulieren. Wenn das gelingt, dann wird man als derjenige behandelt, der man zu sein glaubt (oder zu sein wünscht). Die Inszenierung einer Situation kann durch Handeln erfolgen: ich breite mein Wissen aus (ich will als Wissender anerkannt sein - Wissen), ich behalte mein Wissen für mich (ich will mit niemandem konkurrieren - Harmonie), ich stimme den Autoritäten der Gruppe zu (ich will ein verlässliches Gruppenmitglied sein - Anpassung). Alle diese Handlungen verweisen auf Werte, auf die sich meine Rolle bezieht. Die Rolle, die man in der Gruppe einnehmen will, kann man versuchen, auch durch Objekte – sozusagen als Fassade – zu steuern. Mit Objekten, die Werte symbolisieren, z.B. Rolex (reich!), iPhone (stylish!), Nike-Kleidung (cool!) kann man versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass die Werte, die diese Objekte repräsentieren, auch auf die Rolle des Trägers zutreffen. Aber die Objekte sind nicht für jede Gruppe mit denselben Werte verbunden: eine Rolex im Bankenmilieu symbolisiert „Erfolg“, ein Punk spuckt drauf, weil Rolex alles das verkörpert, was er verachtet. Die Objekte, die man zum „impression management“ benutzen kann, sind nicht für jedermann gleichermaßen erreichbar: eine Rolex Oyster Perpetual kostet 20.800 €, immerhin die Gucci-Badelatschen kann man für 215 € erwerben und im Gegensatz dazu kann sich jeder die Picaldi-Jeans leisten (59,99 €). Die soziale Lage setzt Grenzen für den Erwerb dieser Objekte. Wer bestimmt, wie Objekte mit Werten verbunden sind? Das Individuum? Die Gruppe? Die Medien? Die soziale Lage? Das will diese Untersuchung bei Jugendlichen herausfinden. Es werden Portraits von Jugendlichen vorgestellt, die sich in verschiedenen sozialen Lagen befinden, die verschiedene Zukunftsperspektiven haben, die von verschie1 Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. New York, 1959

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H. HERMANNS UND M. SCHRECKENBACH — Ein soziologisches Vorwort

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denen Wertvorstellungen geprägt sind, und die zu verschiedenen Gruppen gehören. Sie erzählen, wie die Jugendlichen in Gruppen integriert sind, zeigen die Werte der Gruppen, welche Objekte die Gruppen bevorzugen und wie bewerten. Die Portraits folgen keinem formalen Muster, sie sind jeweils vom Interview bestimmt. Die Untersuchung wurde mit offenen Interviews durchgeführt. Es hatten die Untersuchungsteams einen eigenen Leitfaden entworfen, in dem folgende Themen vorkamen: ◆

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Alter, Schule/Beruf, soziale Lage und wie ist der Interviewte aufgewachsen? Die Identitätssuche: Vorbilder, Motivation, Wertvorstellungen Freundeskreis, Gruppe(n), Integration in der Gruppe Gibt es Gruppen, von der der Interviewte sich abgrenzen will? Was bedeuten die Objekte für den Interviewten? „Objekte“: Musik, Kleidung, Schuhe, Läden, Marken, Zigaretten, Alkohol, Drogen, Fastfood, MP3-Player, Handy, Rucksack, Computerspiele Was bedeuten die Objekte für die Rolle des Interviewten in der Gruppe? Wer nimmt Einfluss auf die „Bedeutung“ der Objekte? Gruppen? Bezugspersonen? Medien? Wer noch? Was denkt der Interviewpartner, wie lang die Objekte die Bedeutung, die sie jetzt für ihn und die Gruppe haben, noch haben werden?

Es wurden 19 offene Interviews geführt. Die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner waren im Alter von 13 bis 18 Jahren. Den Studierenden der fhp war es sehr wichtig, junge Menschen aus unterschiedlichen Bildungsmilieus und unterschiedlichen Biografien zu befragen. Einerseits sollte ein möglichst breites Spektrum realer Jugendszenen abgebildet werden, andererseits wollten die Studierenden eigene, bestehende Vorurteile überprüfen und möglicherweise revidieren. Die Interviewer trafen somit auf Jugendliche mit unterschiedlichsten Biografien in den verschiedensten Lebenslagen. Die Studierenden begegneten Jugendlichen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe leben, da ihre Eltern nicht in der Lage sind, dem Wohl

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der Jugendlichen entsprechend zu erziehen. Diese Jugendlichen sind materiell eher begrenzt und haben tiefgreifende, häufig traumatische Beziehungserfahrungen hinter sich. Ihre Schul- bzw. Bildungsbiografien sind ebenso häufig von vielen Brüchen und Abbrüchen gekennzeichnet. Andere jugendliche Interviewpartner leben in gut bürgerlichem Milieu bei ihren Eltern und besuchen Gymnasien, haben weitestgehend Zugang zu gewünschten Freizeitaktivitäten und Kulturangeboten. Die Eltern sind gut situiert und geben ihren jugendlichen Kindern materielle und emotionale Sicherheit. Bei der Auswahl der jugendlichen Interviewpartnerinnen und Interviewpartner wurde also auf die Abbildung einer möglichst realen Vielfalt von Jugendkultur geachtet. Die Jugendlichen besuchen Förderzentren, Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien. Gleichermaßen wurde versucht, ein möglichst breites Spektrum an Örtlichkeit abzudecken. Die befragten Jugendlichen leben in unterschiedlichen Regionen in Berlin und Brandenburg. Bevor die Jugendlichen interviewt wurden, führten die Studierenden ein intensives Vorgespräch und erläuterten das Thema. Das Vorgespräch schuf für beide Seiten eine verbindliche Atmosphäre und baute Vorbehalte und Ängstlichkeiten ab. Außerdem wurden die Eltern um Einverständnis gebeten. Die Jugendlichen konnten den Ort des Interviews frei wählen und waren somit aktiv, partizipativ in das Geschehen eingebunden. Die Interviews wurden aufgezeichnet und mit uns und dem Designtheoretiker Rainer Funke fachlich, theoretisch ausgewertet. Für alle Beteiligten waren die Interviews eine intensive Erfahrung und führten zu guten, neuen Erkenntnissen.

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144 GRUPPE 01 – Insa Bortfeldt Jennifer Elsner Jan Gohlke Anne Hofmann Michael Rosenlehner Juliana Wiest

BEOBACHTUNGEN


1 Daniel, Bella & Peter –

EINE BEOBACHTUNG UND ANALYSE von Insa Bortfeldt, Jennifer Elsner, Jan Gohlke, Anne Hofmann, Michael Rosenlehner, Juliana Wiest


BEOBACHTUNGEN

FOTO D. Reichardt (flickr.com)


DANIEL

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FOTO Jan Gohlke

Um die Bedeutung von Design und deren moralische Dimensionen bei Jugendlichen beispielhaft bestimmen zu können, haben wir drei Interviews geführt. Die Befragten sind 17 und 18 Jahre alt und wohnen bei ihren Eltern. Da sie im gleichen Alter sind und aus ähnlichen Erziehungsumfeldern stammen, lassen sie sich gut vergleichen. Der 18-jährige Daniel besucht die 12. Klasse eines Gymnasiums. Er kommt aus dem bürgerlichen Mittelstand. Sein Vater ist Manager, seine Mutter Lehrerin. Er hat einen jüngeren Bruder. Daniel ist in einem intakten familiären Umfeld aufgewachsen. Dass er das Zentralabitur in 13 Jahren machen kann, findet er gut. Es nimmt ihm den Leistungsdruck. w

[ I N T E R E S S E N ] Daniel ist sozial gefestigt und engagiert. In einer Zirkusgruppe, in der er jongliert und Akrobatik lernt, unterrichtet er jüngere Kinder. Es macht ihm Freude „den Kleinen etwas beizubringen“, denn diese seien „noch formbar, sie hören zu und sind lernwilliger als pubertierende Teenies“. Nach seiner Konfirmation engagierte sich Daniel in der Jugendarbeit der Gemeinde. Als so genannter „Teamer“ betreut er Konfirmandengruppen und auch Freizeitfahrten für Kinder und Jugendliche, zum Beispiel im EU-Jugendcamp. Eine Leidenschaft von ihm ist die Musik. Er spielt in zwei Bands Gitarre und geht gerne auf Konzerte. Dabei ist ihm wichtig, Bestätigung für

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GRUPPE 01 – Insa Bortfeldt Jennifer Elsner Jan Gohlke Anne Hofmann Michael Rosenlehner Juliana Wiest

DANIEL

sein Tun zu bekommen. Seine vielen Aktivitäten zeigen, dass er gern Verantwortung übernimmt. Diese Aufgaben und Interessen nach seinem bestem Gewissen zu erfüllen, verlangt ihm ein konsequentes Zeitmanagement ab. Zeit für seine Freundin, die er seit drei Monaten hat, nimmt er sich dennoch. [ F R E U N D E ] Trotz seines Ehrgeizes ist Daniel seinen Freunden sehr verbunden und gibt gerne Rat. Durch die unterschiedlichen Milieus, in denen er sich bewegt – die alternative Zirkusgruppe, die Bandkollegen und seine Schulfreunde – beweist er Anpassungsgeschick und kann seine vielfältigen Interessen ohne Konflikte ausüben. So nimmt er zum Treffen mit den Schulfreunden seine Gitarre mit, um anschließend zur Bandprobe zu gehen. Hier stellt sich die Frage, wo bei so vielen Interessen Zeit für ihn selbst bleibt? „Dies ist kein Problem für mich“, sagt Daniel, „irgendwie funktioniert es immer gut, zwischen den verschiedenen Terminen hin und her zu wechseln“. Emotional ist Daniel an seinen Herkunftsort, an welchem er sich wohl fühlt, gebunden. [ M A T E R I E L L E S ] Er möchte weiterhin in Berlin leben und studieren. Daniel bekommt ungefähr 50 Euro Taschengeld, wovon er sich die Monatsmarke der Verkehrsbetriebe kaufen muss. Den Rest gibt er für Erlebnisse, wie zum Beispiel Konzerte und kleine Wünsche aus. Die Handykosten werden von seinen Eltern übernommen. Durch kleine Nebentätigkeiten zu Hause kann er sich etwas dazu verdienen. Dies zeigt, dass Daniels Eltern ihm ein gesundes Verständnis für Finanzen mitgeben, da er sein Taschengeld selbst verwalten muss. Während des Interviews stellt sich allerdings heraus, dass seine Eltern ihm größere Sachwerte finanzieren. Sein Vater schenkte ihm ein iPhone, welches dieser kaum benutzte. Daniel ist bewusst, das dies ein Privileg ist. Er betont jedoch, dass es ein Geschenk war und ihm die Marke nicht so wichtig sei, auch wenn das Design Vorteile böte. Er besitzt ein MacBook, weil es die bessere Software hat, wodurch er effektiver arbeiten kann. Zudem schätzt er die Zuverlässigkeit und Verarbeitung von Apple, sowie die Nutzer-

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DANIEL

freundlichkeit. Daniel weiß zwar um die Kosten und den Wert eines solchen Designobjektes, spricht ihm jedoch keine große Bedeutung zu. Er muss damit nicht angeben. So auch bei seinen Musikinstrumenten. Er hat sich eine teure Markengitarre gekauft. Besonders deutlich wird dies bei seiner Campingausrüstung. Er schätzt den pragmatischen Wert und genießt das Erlebnis. Hier verlässt er sich auf Produktnamen wie Deuter oder Jack Wolfskin, die ihm funktional und qualitativ am meisten versprechen. Auf die Frage nach Kleidung, Design und Marken gibt Daniel an, keinen besonderen Wert darauf zu legen. Er kauft jedoch mit seiner Mutter meist bei Peek & Cloppenburg. Daniel ist durchaus bewusst, dass er qualitativ hochwertige Marken besitzt und weiß diese bei einem Kauf zu schätzen. Er möchte sich damit jedoch nicht über andere stellen, sich nicht als finanziell privilegiert zeigen, nicht „angeben“. So verleiht er gerne sein Handy an Freunde, damit sie Spiele spielen und es mit nutzen können. Im Gespräch vermeidet es Daniel fast immer, etwas zu bewerten und sich über Objekte zu profilieren. Er macht deutlich, dass für ihn innere Werte wichtiger sind als finanzieller Status. Daniel spricht sich klar gegen „Markenopfer“ aus. Menschen, die nur Ed Hardy-Produkte trügen, seien prollig, und es gefiele ihm nicht, dass eine Marke so oberflächlich „jemanden ausmache“, man sich einer Marke so hingebe. Das widerspricht seinem eigenen Markenverhalten. In seiner zukünftigen Berufswahl ist seine Mutter ein Vorbild: er möchte Grundschulpädagogik studieren und Lehrer werden. Damit leistet er einen Dienst an der Gesellschaft, ein moralisch vertretbarer Beruf. In der Grundschulpädagogik stehen ihm zusätzlich Türen offen, als Beamter aufzusteigen. Er könnte ein Amt als Schuldirektor anstreben und finanziellen Erfolg erleben, gleichzeitig seiner Vorstellung treu bleiben und Kinder unterrichten, sein Wissen weitergeben. [ W E R T E ] Daniel ist reflektiert, selbstbewusst und ehrgeizig. Er will seinen Weg gehen und seine Ziele verwirklichen, dabei jedoch für andere da sein. Wichtig ist ihm „glücklich und zufrieden zu sein“. In diesen Wünschen möchte er respektiert und ernst genommen werden.

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FOTO Fabian Lohr für deuter


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BELLA

Die 17-jährige Bella lebt mit ihrer Mutter, deren Ehemann und dessen Sohn in Süddeutschland. Sie besucht die 12. Klasse eines Gymnasiums und sagt selbst, dass sie es gut findet, 13 Jahre für das Abitur Zeit zu haben. Dies bedeute weniger Stress für sie. Das Interview mit Bella führten wir in der Wohnung ihrer älteren Schwester in Berlin. w

[ I N T E R E S S E N ] In ihrer Freizeit ist auch Bella als „Teamer“ in der Kirchengemeinde tätig. Ihr ist es wichtig, etwas für die Gesellschaft zu tun. Bella sagt über sich selbst, sie sei faul. Statt Sport zu treiben, trifft sie sich lieber mit ihren Freunden, die ihr sehr wichtig sind. Gerne wird dabei auch über das unangemessene (Ausgeh-)Verhalten der Freunde gelästert. Dennoch verstehe sie sich mit allen und nähme in ihrem Freundeskreis oft die Position der Vermittlerin ein. [ A R B E I T ] Sie arbeitet drei Stunden pro Woche in einer Rechtsanwaltskanzlei. Als sie uns davon erzählt, stellt sie den Ort über die Tätigkeit, die sie verrichtet. Sie betont, dass sie nach dem Schulpraktikum gefragt wurde, ob sie dort arbeiten möchte. Ein Hinweis darauf, dass sie Leistung wertschätzt und dass sie ihre Leistung anerkannt haben will. Dennoch empfindet sie Büroarbeit als trist und möchte beruflich lieber etwas Soziales machen. [ M A T E R I E L L E S ] Zu einem Taschengeld von circa 50 Euro monatlich kommen ungefähr 100 Euro, die sie in der Kanzlei für die Erledigung kleinerer Arbeiten erhält. Dies gibt ihr finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern sowie die Legitimation, sich etwas davon zu gönnen. Sie muss sich einiges selber kaufen, aber wenn Bella genügend Argumente für neue Anschaffungen aufbringt und die Eltern den Bedarf sehen, kann sie sie oft überzeugen und bekommt, was sie benötigt bzw. haben möchte. Größere Investitionen, wie zum Beispiel den Führerschein, finanzieren ihre Eltern, obwohl sie einen kleinen Teil dazu beitragen sollte. Sie könnte – nach bestandener Fahrprüfung – das Auto ihrer Mutter geschenkt bekommen. Dies lehnt sie ab, weil ihr der Unterhalt eines Wagens zu kostspielig ist. Auf ihre Art denkt Bella ökonomisch, da sie ihr Geld lieber für andere Dinge aus-

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BELLA

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gibt. Sie legt zwar Geld zurück, gibt dieses jedoch gerne wieder aus. Insbesondere für Reisen und Shoppen. Sie begrenzt ihre Lust nur, um beim nächsten Mal umso lustvoller zu sein. [ F A M I L I E ] Mutter und Schwester sind Vorbilder, da sie in Bellas Augen etwas geschafft haben. Dies gilt nicht nur für den beruflichen Werdegang der Frauen, sondern auch für die gemeinsam durchlebte Scheidung. Bella orientiert sich nach eigener Aussage nicht an der Welt der Prominenten und ahmt nicht gerne nach. Sie hat ihre Heldinnen aus dem Alltag entnommen. Stilistisch orientiert sie sich an ihrem Umfeld. Die Zeitschrift Glamour liefert ihr Schminktipps. [ S H O P P I N G ] Bella shoppt gerne und geht dieser Leidenschaft bei H&M und Zara nach. Sie empfindet Zara hochwertiger als H&M. Kleidung und Accessoires aus dem Urlaub dienen nach eigener Aussage der Erinnerung, und sie kann mit ihnen zeigen, dass sie etwas Einzigartiges hat. Bella kann deutlich machen, dass sie herumkommt in der Welt und damit auch Neid hervorrufen. Sie ist stolz auf Neuerwerbungen. Wir bekommen ein Beispiel dieses Verhaltens, als sie uns ihre neuen Adidas-Turnschuhe vorstellt. Die wichtigste Kaufentscheidung dabei waren die drei Streifen. Adidas würde sie Kinderarbeit weniger zutrauen als anderen Firmen, weil es „eine große Marke“ ist. Sie sagt aber „Wenn ich sie nicht kaufe, dann kauft sie jemand anders“. Das Thema Kinderarbeit scheint ihr unangenehm. Sie macht den Eindruck, als würde sie sich damit nicht beschäftigen wollen. Wir stellen Bella die Frage, was sie mit 100.000 € machen würde. Sie würde weiterhin bei Zara shoppen gehen, denn da würde sie mehr Kleidungsstücke bekommen als bei teureren Marken. Sie würde sich auch eine teure Tasche leisten. Hier kommt das Gespräch auf das Thema Imitate. Diese lehnt sie aus Qualitätsgründen ab. [ S T I L ] Wir fragen sie nicht direkt nach Feindbildern, aber Bella äußert sich negativ über „Tussis“ und weiße Lederstiefel. Beides wirkt für sie billig und unnatürlich. Ihren eigenen

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»Bella träumt von einem Verwöhnprogramm in Form von Acht-Gänge-Menüs und Luxus-Spas.«


BELLA

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Stil und den ihrer Freunde bezeichnet sie als unauffällig. Sie sagt selbst, sie gehören zu den „Normalos“. Sie besitzt einen iPod nano und findet die weißen Kopfhörer „cool“, denn man kann sehen, um welches Gerät es sich dabei handelt, ohne es zeigen zu müssen. Für Technik interessiert sich Bella kaum, obwohl sie das neue MacBook ihrer Schwester schön findet, ist ihr die Einarbeitung in ein neues Betriebssystem zu aufwändig und sie bleibt lieber bei ihrem alten Windows-Rechner. [ T R Ä U M E ] Bella träumt von einem Verwöhnprogramm in Form von Acht-Gänge-Menüs und Luxus-Spas. Sie träumt davon, viel Geld zu verdienen und zufrieden zu sein. Aber sie sieht sich auch in einem Haus mit Kindern, Ehemann und Hund – also einer, wie sie sagt, 08/15-Zukunft. Derzeit ist ihr wichtig, das Abitur zu schaffen und ihr Leben so zu leben, wie sie es will. Bella zeigt sich im Interview in unterschiedlichen Facetten: mal lächelt sie freundlich, dann wieder wirkt sie äußerst unsicher und verschämt. Als es um das Lästern über die eigenen Freunde geht, zeigt sie mit ihrer Körpersprache, dass sie weiß, dass sich das nicht gehört. [ W E R T E ] Bella hat diese bürgerlichen Moralvorstellungen übernommen, zu denen auch Pflichtbewusstsein und Leistung zählen. Dennoch bricht sie manchmal aus. Dem Integrationsmilieu entsprechend verzichtet sie darauf, mit Produkten oder Marken anzugeben – versteckt sich jedoch nicht damit. Bella möchte sich nicht aus der Masse hervorheben, aber sie präsentiert sich gern und will bewundert werden. Sie strebt eine Individualität an, die den Regeln innerhalb der eigenen Gruppe entspricht, ihr aber einen besonderen, vielleicht höheren Status gewährt. Auf die 100.000-EuroFrage antwortet sie, sie würde ihr Verhalten nicht ändern und äußert keine Machtfantasien.

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BELLA


BELLA

FOTOS Anne Hofmann & Michael Rosenlehner


GRUPPE 01 – Insa Bortfeldt Jennifer Elsner Jan Gohlke Anne Hofmann Michael Rosenlehner Juliana Wiest

PETER

FOTO © lacravate.com

Das Interview mit Peter (17) führten wir in einem Restaurant in Berlin. Er lebt mit seiner Mutter und ihrem Freund zusammen und absolvierte im letzten Jahr die Mittlere Reife. Seit ca. 10 Monaten befindet er sich in der Ausbildung zum Koch und verdient ca. 400 € im Monat. Davon gehen Fixkosten für Handy, Fahrkarte und Kostgeld ab. w

[ F R E I Z E I T ] Bis vor kurzem war er, wie Daniel und Bella, als „Teamer“ in der Kirchengemeinde tätig, musste dies aber wegen Zeitmangels aufgeben. Seit seiner Kindheit ist er im Kegelverein. Dieser Sport wird auch von seiner Mutter und seiner Oma betrieben. Vor circa drei Monaten meldete sich Peter in einer Tanzschule an. [ S T I L ] Peter beschreibt seinen Kleidungsstil als „nicht so flippig“. Mit seiner Mutter geht er bei H&M und C&A einkaufen, denn dort gibt es, was ihm gefällt. Er sagt: „Marken sind das Geld nicht wert“ und orientiert sich modisch an seiner Mutter und an Freunden, bei denen er auch gerne mal Sachen ausleiht. Sein Stil erschien uns pragmatisch und klassisch. Wenn sich die Gelegenheit bietet, zieht er gerne einen Anzug oder ein Hemd an, so zum Beispiel für den Abschlussball vom Tanzkurs. Nach seinem Schülerpraktikum stand für ihn fest, dass er Koch bzw. Küchenchef werden möchte. Mit Beginn seiner Ausbildung hat

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PETER

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sich einiges in seinem Leben geändert. Peter berichtet uns von seinem überdurchschnittlichen Engagement in der Küche und von unzähligen, freiwilligen Überstunden. „Es ist hart, aber es macht Spaß.“ Selber sagt er zu seiner Tätigkeit: „Ich kann die Gäste zufrieden stellen – das ist mir wichtig. Wenn die Gäste nicht glücklich sind, geht‘s mir auch scheiße.“ Er berichtet gerne über seine Arbeit und hebt sein Können hervor. Meist auch über das der anderen Mitarbeiter. „Bei manchen Kollegen denkt man sich nur: ‚Geh nach Hause‘.“ [ M A T E R I E L L E S ] Materiell orientiert sich Peter an seinem Chef. Als wir ihn nach seinem Handy fragen, erzählt er uns, dass er sich bald ein neues kaufen wird. Dieses muss besonders flach sein, damit es in die Oberarmtasche des Kochhemdes passt. Sein „Chef hat da auch immer sein Handy drin.“ Er erzählt uns, wie wichtig es sei, als Chef immer erreichbar zu sein. Ein besonders flaches Handy verbindet Peter deswegen mit Erfolg und Macht. Durch die Anschaffung eines solchen fühlt er sich der Chefrolle näher. Wir fragen Peter, was er sich kaufen würde, wenn er 100.000 € zur Verfügung hätte. Daraufhin beschreibt er ein spezielles „Poliermesser“, das sein Chef hat. Es zeichnet sich durch besondere Herstellung, Form und Langlebigkeit aus und ist sehr teuer. [ W E R T E ] Peter sagt selbst: „Mein Vorbild ist mein Chef.“ Er beschreibt das Verhältnis zu seinem Chef als freundschaftlich und locker: „Er ist nicht mein Chef, er ist mein Kumpel.“ Diese besondere Beziehung ist für Peter ein Privileg. Er genießt die Anerkennung für seinen außergewöhnlich hohen Einsatz. Dass Peter selbst gerne eine Führungsrolle übernimmt, lässt sich unter anderem in seinem Umgang mit seinen Mitmenschen erkennen. Er ahmt das Verhalten seines Chefs nach. Unwissen und Unfähigkeit anderer nutzt er gern zum eigenen Vorteil, um seine Position deutlich zu machen und sich abzuheben. Ein Beispiel dafür gibt er, als er über einen Praktikanten redet, den er betreuen sollte: „Der Praktikant war dem allen nicht gewachsen.“ Peter selbst „fand es richtig gut“ eine Stufe höher zu stehen. Er formuliert sein berufliches Ziel ganz

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GRUPPE 01 – Insa Bortfeldt Jennifer Elsner Jan Gohlke Anne Hofmann Michael Rosenlehner Juliana Wiest

PETER

klar – Küchenchef. Dafür spricht auch, dass er sich im Anzug sehr wohl fühlt. Als er sich im Anzug mit weißem Hemd und roter Krawatte beschreibt, lächelt er und wirkt stolz. Der Anzug ist ein klassisches Symbol für beruflichen Erfolg und die rote Krawatte unterstreicht Peters Streben nach Dominanz. Das Kochen scheint nicht nur seine Passion zu sein, sondern auch ein Weg, Anerkennung und Respekt von seinen Mitmenschen zu erlangen. Dies zeigt sich in der Beziehung zum Freund seiner Mutter. Peter sagt, das Verhältnis sei früher sehr schlecht gewesen. Er erzählt weiter, dass sich das gebessert hat und beschreibt eine Szene, in der sie zu Hause kochen. Hier gelingt es Peter, sich gegenüber dem Freund der Mutter durchzusetzen, welcher die Überlegenheit Peters bei dem Thema „Kochen“ respektiert. Man spürt, wie sehr er diesen Respekt genießt. Peter hat sehr genaue Vorstellungen davon, was man tut und was nicht und äußert diese vollkommen unbefangen: „Man haut nicht dem Nächstbesten auf die Fresse.“, „Mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass ich keine Menschen ausraube.“, „Man hilft alten Menschen.“ Dann formuliert er, wie sehr er es hasse, wenn Menschen nicht nach seinen moralischen Werten handeln, zum Beispiel in der Straßenbahn für schwangere Frauen nicht aufstehen. Er steigert sich in seinen Beschreibungen in echte Wut hinein. Das Wohlergehen Schwächerer liegt ihm am Herzen, und er fühlt sich dafür verantwortlich. Wenn man sich vor Augen führt, wie sich Peters Rolle durch seine Ausbildung verändert hat, ist sein hoher Einsatz nachvollziehbar. Doch sicherlich ist sein Handeln auch auf erlernte moralische Werte zurückzuführen. Peter hat Tugenden wie Fleiß und Disziplin verinnerlicht. Er erhofft sich von diesem Handeln, seine beruflichen Ziele zu erreichen. Inwiefern bestimmt das moralische Handeln der Befragten den Erwerb von Designobjekten und in welchem Bezug steht dies zum Gemeinwohl? [ F A Z I T ] In der Analyse fiel auf, dass die Jugendlichen an die Werte ihrer Eltern gebunden sind, jedoch auch eigene Moralvorstellungen entwickelt haben. Während Daniel auf Qualität setzt und der Oberfläche weniger Achtung schenkt, legt Bella

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großen Wert auf die Gestaltung des Objektes und die damit verbundene Anerkennung. Peter hingegen wählt die Produkte nach funktionalen Maßstäben aus. Die Marke selbst ist nicht entscheidend. Im Umgang mit den Produkten zeigt sich dennoch ein abweichendes Verhalten. Daniel teilt gerne, Peter verwöhnt andere, und Bella berät ihre Freunde. Der engagierte Daniel verbirgt die Lust am Kauf eines Designobjektes hinter seinem Pragmatismus. Während Bella ein neues Objekt genussvoll in Szene setzt, ist die soziale Verträglichkeit zweitrangig. Bei Peter spielt die Gestaltung der Dinge eine untergeordnete Rolle, wichtiger ist der tatsächliche Umgang miteinander. Alle drei Befragten sind sich der Wirkung von Marken und den damit verbundenen bzw. versprochenen Qualitäten, sowie deren Werte bewusst. Sie unterscheiden sich jedoch in ihren Wünschen. Die Tätigkeit des „Teamers“ ist allen drei gemein, hier können sie dem Gemeinwohl Gutes tun.

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FOTOS Jennifer Elsner


PETER

»Man haut nicht dem Nächstbesten auf die Fresse…«


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GRUPPE 02 – Theresa Bergens Christian Brück Jovita Sinskaite Nicola Sudowe

BEOBACHTUNGEN


2 Nick & Felix –

EINE BEOBACHTUNG UND ANALYSE von Theresa Bergens, Christian Brück, Jovita Sinskaite, Nicola Sudowe


BEOBACHTUNGEN

FOTO Julian Budke (flickr.com)


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Nick ist ein 16-jähriger Junge, der seine ersten Lebensjahre im Ausland verbracht hat. Nach dieser Zeit lebte er zunächst in einem Kinderheim in Deutschland. Zur Zeit lebt er bei seinem Vater, dessen Lebensgefährtin und deren gemeinsamen Sohn in Berlin. Er hat eine ältere Schwester, welche nicht mehr zuhause wohnt. Das Interview mit Nick fand in der Wohnung des Vaters statt. Durchgeführt wurde es von zwei Mitgliedern unserer Gruppe. Nick nahm begeistert an unserem Projekt teil und war spontan bereit, uns ausführlich alle Fragen zu beantworten. w

[ F A M I L I E ] Die Familiensituation von Nick schien von Anfang des Interviews an ein wichtiger Punkt zu sein. Einschneidende Erlebnisse waren zum einen sein Umzug allein nach Deutschland, zum anderen die Zeit, die er im Heim verbracht hat. Auch deshalb ist das Verhältnis zu seiner Familie wohl distanziert: „Ich habe ein eigenes Zimmer, da kann man sich mal zurückziehen, hab auch einen eigenen Schlüssel.“ Auch der Vater ist für ihn keine Bezugsperson. Auf die Frage, ob Nick mit ihm Freizeit verbringt, antwortet er: „Nicht so viel.“ Als einzige gemeinsame Aktivität mit seinem Vater nennt Nick die Geschäftsauslieferungen, bei denen er ab und zu helfen muss. Auf die Frage, ob ihm das Spaß macht, fügt er hinzu: „Das ist dann manchmal streitbar“. Eigentlich versucht er aber, „den Stress raus zu halten.“ Man erkennt eine Strategie zur Konfliktvermeidung: Es gibt zwar manchmal Diskussionen in Bezug auf Nicks Wünsche, hauptsächlich arrangiert er sich aber mit den väterlichen Vorgaben. Auch weil das sonst unangenehme Konsequenzen für ihn haben kann: „Die Strafen, die ich bekomme, sind Internetverbot. Ich habe hier ja nichts anderes zu tun.“ [ F R E U N D E ] Weil Nick zuhause keine Bezugspersonen auffindet, versucht er, diese in familienexternen Gruppen zu finden. Freunde geben ihm Halt, bestimmen seinen Geschmack und bieten Raum zur persönlichen Entfaltung. Da ist zum einen sein Kirchenkreis. Jeden Montag und Samstag geht Nick zu Jugendtreffen, wo gemeinsam Sport gemacht wird, Musik gehört oder ähnliches. Der Glaube und die Kirchengemein-

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GRUPPE 02 – Theresa Bergens Christian Brück Jovita Sinskaite Nicola Sudowe

NICK

schaft sind Nick sehr wichtig und geben ihm Halt: „man sollte jeden Tag beten, von morgens bis abends.“ Zum anderen gibt es seine Schulfreunde und die Cosplay-Gruppen (Abkürzung von Costume-Play). Wie schon erwähnt, ist das Internet für Nick sehr wichtig. Über Skype verabredet er sich für die Cosplay-Rollenspiele, zu denen er mit seiner Schwester und deren Freunden geht. Dabei treffen sich die Jugendlichen verkleidet wie Animefiguren und fotografieren sich gegenseitig. Auf die Frage, ob er sich auch allein verkleiden würde, sagt er verlegen: „Das ist dann ein bisschen komisch“. Sonst schaut er ab und zu fern oder spielt Gitarre. Gitarrespielen scheint aber nicht seine Leidenschaft zu sein. Er hat das Instrument vor drei Jahren bekommen, begnügt sich aber nach wie vor mit nur drei Saiten. Generell ist Nick eher ein passiver Typ. Auch wenn er sich auf den ersten Blick in verschiedenen Gruppen bewegt, in denen er unterschiedlichen Neigungen nachgeht, fällt auf, dass er sich keine dieser Gruppen selbst gesucht hat. Wichtig für ihn ist, einer Gruppe zugehörig zu sein und angenommen zu werden; die spezifischen Merkmale sind austauschbar. Beleg dafür ist beispielsweise, dass allein ein Umzug in einen anderen Stadtteil dazu führte, dass die alten Freundschaften einschliefen. Auch in Bezug auf seine Freunde fällt Nicks Konfliktvermeidungsstrategie auf. Auf die Frage, wie er reagieren würde, wenn ein Freund seine Gitarre kaputt machte, würde er sagen, dass er es „voll schlecht“ fände, „aber was soll man da machen?“.

FOTO Nicole Sudowe

[ K O N S U M V E R H A L T E N ] Nick gibt an, sehr bewusst mit Geld umzugehen. Für wichtige Dinge spart er, z.B. für die Spielekonsole NintendoDS, aber auch für Kleidung, die ihm der Vater nicht bezahlen will. Doch den Hauptteil des Taschengeldes - 10 Euro pro Woche - gibt er fürs Weggehen mit Freunden aus, weshalb sowohl sein finanzielles Bewusstsein als auch der NintendoDS wohl eher eine Wunschvorstellung ist. [ M A R K E N B E W U S S T S E I N ] Der eigene Stil ist Nick und seinen Freunden enorm wichtig. Es gibt aber einen Rahmen, innerhalb dessen die Differenzierung stattfindet. „Viele aus meinem Kreis haben Converse und Vans oder so etwas...“ Nach dem Motto:

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NICK

Eigene Identität ja, aber immer in Übereinstimmung mit der Gruppe. Marken wie Picaldi - und auch ihre Träger - fallen seiner Meinung nach durch. Alle in Nicks Freundeskreis haben ihren eigenen, klar definierten Stil. Den gilt es zu wahren und zu perfektionieren. Wie in den Cosplays geht es auch hier um Rollensuche. Dabei ist das äußere Erscheinungsbild identitätsstiftend. So sind Schuhe für Nick ein deutliches Erkennungsmerkmal des jeweiligen Trägers: „Also wenn ich da mit meinen Globe-Schuhen ankommen würde, [...] dann würde J. sagen: „Nick, ich wusste, dass du da warst.“ Seine Mutter hat seine Skater-Schuhe von Globe aus den USA mitgebracht, dementsprechend gilt die Marke nun als Nicks Erkennungszeichen. Marken sind nicht unerlässlich, geben aber die Sicherheit einer sozialen Akzeptanz und stärken das Selbstbewusstsein. Laut Nick fühlt man sich „einfach besser“ und „spezieller“, wenn man eine Marke trägt. [ F A Z I T ] Identität, die in einen konformen Rahmen passen muss, jedoch keine exakte Kopie sein darf. Während des Interviews beeindruckte Nick uns, indem er sehr beherrscht und selbstkontrolliert auftrat. Momente, in denen Spontanität und Enthusiasmus diese Kontrolle durchbrechen, sind an seiner Körpersprache abzulesen. Nick hat eine deutliche Anpassungsstrategie entwickelt, wobei er versucht, seine Position in seinem Freundeskreis abzusichern. Diese Position wird definiert durch einen persönlichen Stil. Zu seiner Strategie gehört eine gewisse Zurückhaltung. Nick nutzt Produkte und manchmal auch deren Marken als Mittel, um seine soziale Position zu stabilisieren. [ W E R T E ] Stabilität, Konformität, Harmonie, Gruppenzugehörigkeit, Zurückhaltung. Motto: Eigene Identität ja, aber nur in Übereinstimmung mit der Gruppe

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FOTO © Globe Ltd.


FELIX

»Es nehmen viele diese Dosen, Deo, das sind immer so Wolken. Parfüm mag ich mehr.«


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Felix ist ein 13-jähriger Junge, der wöchentlich abwechselnd bei seinem Vater oder seiner Mutter in Berlin wohnt. Er hat sowohl einen jüngeren als auch einen älteren Bruder (11 und 15 Jahre). Das Interview mit Felix fand in der Wohnung seiner Mutter statt. Durchgeführt wurde es von zwei Gruppenmitgliedern. Felix war uns gegenüber sehr aufgeschlossen und beantwortete gerne unsere Fragen. w

[ F A M I L I E ] Vor etwa einem Jahr haben sich die Eltern von Felix getrennt. Seitdem pendelt er wöchentlich zwischen den Elternteilen. Es gibt einen deutlichen Unterschied in Bezug auf die Wohnsituation von Vater und Mutter. Während die Wohnung des Vaters „eher unordentlich“ ist und sich alle Brüder ein Zimmer teilen müssen, ist die Wohnung der Mutter sehr ordentlich, und Felix hat ein eigenes Zimmer. Dieses war eine Belohnung der Mutter für das Helfen bei dem Umzug (Möbel packen und Schränke aufbauen). Das eigene Zimmer ist ein Grund dafür, dass er sich bei der Mutter wohler fühlt: „Hier habe ich ein eigenes Zimmer, meine Brüder müssen sich eins teilen.“ Auf die Frage, ob ihm das wichtig ist, antwortet er: “Ja, eigentlich schon, ich freu mich recht doll da drüber.“ Ein weiterer Grund ist, dass es laut Felix beim Vater strengere Regeln gibt. Die Trennung der Eltern scheint ein einschneidendes Erlebnis für ihn gewesen zu sein, sie bestimmt sein Verhalten und seinen Wertekanon. In der Familie ahmt er eine erwachsene männliche Rolle nach, wobei er sich sehr an seinem Vater orientiert. Das fällt sowohl bei der Frisur, der Sprechweise als auch bei der Markenwahl auf. Durch diese Adaption versucht er, sich die verlorene familiäre Stabilität symbolisch aufrecht zu erhalten. [ F R E U N D E ] Felix spricht nur von einem festen Freund, der ihm wichtig ist, dem gegenüber er eine Vorbildfunktion einnimmt: „Sag ich´s mal so, er macht mir ein paar Sachen nach.“ Bezugsgruppen in der Schule und auch in der Freizeit scheinen Felix wenig zu beeinflussen, da er einen eigenständigen Geschmack hat, der sich eher am Elternhaus orientiert:

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GRUPPE 02 – Theresa Bergens Christian Brück Jovita Sinskaite Nicola Sudowe

FELIX

„Manche in meiner Klasse tragen Lederjacken, ich finde die ok so, muss aber nicht sein (...) eher Pullover die etwas mehr aushalten.“ Seine Hobbies hat er selbst gewählt, diese sind u.a. Jonglieren, Fahrrad fahren, Inline-Skate fahren, Siedler spielen und an der Eisenbahn bauen, wie es auch sein Vater gerne tut. [ K O N S U M V E R H A L T E N ] Felix Konsumverhalten scheint rational, bedacht, erwachsen. Lieber spart er oder gibt das Geld für nützliche Waren mit Qualität aus. Geschenke aus dem Familienkreis werden gerne angenommen. Kino- oder Diskobesuche spielen für ihn eine eher untergeordnete Rolle. Dazu hat er sich kaum geäußert. Fernsehen, sagt er, schaut er wenig, und wenn, dann nur Nachrichten, vorzugsweise „Berichte über Landwirtschaft und Krieg“. Seine Zukunftsplanungen sind sehr konkret: Er strebt einen mittleren Schulabschluss (MSA) an, welcher ihm eine „simple“ handwerkliche Ausbildung ermöglicht. [ M A R K E N B E W U S S T S E I N ] Die Qualität des Produktes steht bei Felix im Vordergrund. Er greift auf Marken zurück, die ihm vertraut sind, bzw. von den Eltern genutzt werden. Das wird deutlich, wenn er Begründungen für die Wahl eines Produktes nennt. Auswahlkriterien wie die „Qualität der Textilien“ sind altersunüblich und belegen die Vermutung, dass er erwachsene Redeweisen imitiert. So antwortet Felix auf die Frage nach der bevorzugten Schuhmarke: „Adidas und Puma, aber eher Adidas. Ich mag die Firma irgendwie. Nike mag ich eher nicht so, das Material der Schuhe und so weiter.“ Die Brüder tragen „auch Adidas.“ Zum Thema Parfum erläutert Felix: „Es nehmen viele diese Dosen, Deo, das sind immer so Wolken. Parfüm mag ich mehr.“ (Seine Wahl: Adidas!) Bei Fragen zu Getränkemarken erwähnt er die Marke Vittel. Dieses Wasser wird in der Familie getrunken. Felix schildert ausführlich die Unterschiede zwischen zwei Handymarken (Sony Ericsson & Nokia). Er präferiert die Marke Sony Ericsson, weil diese Geräte eine bessere Menüführung als Nokia haben. Der Vergleich bezieht sich allerdings nur auf ein altes Modell von Nokia, welches sein Vater vor kurzem durch ein Sony Ericsson ersetzt hat.

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FELIX

[ F A Z I T ] Anders als Jugendliche in seinem Alter bricht er nicht mit den elterlichen Vorgaben, sondern bestätigt diese, indem er sie als seine Werte übernimmt. Seine Markenwahl spiegelt das Konsumverhalten seiner Eltern wider. In Bezug auf Gleichaltrige hat Felix ein sehr erwachsenes und eigenständiges Selbstbild und scheint gegenüber deren stilistischen Einflüssen resistent zu sein. Das erwachsene Gebaren wird nur in den Momenten durchbrochen, in denen er vom Jonglieren oder von seiner Diskokugel erzählt. Dort scheint eine kindlichverträumte Seite durch, die er allerdings nur in seinen eigenen vier Wänden auslebt. Er legt viel Wert auf Harmonie in der Familie, so dass die Marken auch zum Symbol der Familienzugehörigkeit werden. [ W E R T E ] Stabilität, Verlässlichkeit, Vernunft, Einfachheit Motto: Anerkennung durch Reife

FOTO Nicole Sudowe

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BEOBACHTUNGEN


3 Martin & Sandra –

EINE BEOBACHTUNG UND ANALYSE von Caroline Müller, Tobias Morawski, Christiane Schmidt, Christoph Sandau, Mareike Walter, Anna Reinhardt


GRUPPE 03 – Tobias Morawski Caroline Müller Anna Reinhardt Christoph Sandau Christiane Schmidt Mareike Walter

MARTIN

Martin ist 16 Jahre alt und lebt in Berlin. Dort wohnt er in einer Patchworkfamilie mit seiner Mutter, ihrer Partnerin und deren Sohn zusammen. Bevor Martin mit 11 Jahren nach Berlin gezogen ist, hat er in einem kleinen Dorf gewohnt. In Berlin fährt er Fahrrad und tanzt Jumpstyle – am liebsten zu Technomusik. Er besucht eine Gesamtschule in Berlin.

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[ S E L B S T E I N S C H Ä T Z U N G ] Martin versucht, sich nicht von gesellschaftlichen Normen abzugrenzen, und bezeichnet sich selber als durchschnittlich und normal. Er bemüht sich um ein seriöses und ordentliches Auftreten. „Jeden Tag habe ich meine Hausaufgaben gemacht und bin gleich raus zu den anderen Fußball spielen gegangen.“ [ I D E N T I F I K A T I O N ] Für ihn sind seine Familie und ein fester Freundeskreis wichtig. Martin identifiziert sich mit seiner Familie und legt Wert auf ein harmonisches Verhältnis. Auch in politischen Diskussionen ist er mit seiner Familie konform. „wir finden das (den Afghanistankrieg) sinnlos…“. Er orientiert sich bei dem, womit er sich beschäftigt, stark an seinem Freundeskreis. „Da frag ich meine Freunde, was (zum Thema Jumpstyle) ich lesen kann, damit es okay ist…“. Für Menschen, die nicht an ihren Zielen arbeiten, sich gehen lassen und viel feiern, hat er wenig Verständnis. Auch extreme Gruppen lehnt er ab. „Mit Punks oder Nazis kann ich nichts anfangen…“ [ H A N D L U N G S M U S T E R ] Martin ist sehr zielstrebig und muss genau wissen, was er tut, wobei er sich immer an den Interessen seines Umfeldes orientiert. In seiner Kindheit war ihm

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MARTIN

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Fußball wichtig, in Berlin, geprägt von seinen Freunden, sind es eher Computer und Jumpstyle. Wegen Mobbingerfahrungen versucht er, sich in dieser sicheren Interessensgruppe zu bewegen. „Die anderen grenzen mich aus und erzählen Lügen über mich.“ Da Martin nicht viel Geld zur Verfügung hat, versucht er, sehr ökonomisch zu leben, aber das Beste daraus zu machen. Wenn ihn etwas interessiert, bringt er sich das selbst bei. [ W E R T E ] Für Martin ist es wichtig, später ein besseres Einkommen zu haben als seiner Familie derzeit zur Verfügung steht und ein strukturiertes Leben zu führen. „Es muss schon eine Ordnung drinne sein!“. Durch sauberes und ordentliches Auftreten versucht er, Respekt von anderen zu bekommen und in der Gesellschaft anerkannt zu sein. [ M A R K E N B E W U S S T S E I N ] In Martins Leben spielen Marken eine untergeordnete Rolle. Bevor er nach Berlin gekommen ist, war es nur wichtig, etwas zum Anziehen zu haben. „Im Dorf wird nicht so sehr auf Mode und Kleidung geachtet, Hauptsache man hat etwas zum Anziehen – hier (Berlin) wird sehr doll darauf geachtet.“ Nach dem Umzug nach Berlin hat Martin sich modisch an seinen neuen Freunden orientiert und dabei mit der Zeit seinen eigenen Stil gefunden. Obwohl er bewusst keine Marken trägt, will er mit seiner Kleidung Seriosität und Anstand zeigen, ohne dabei verkrampft zu wirken. Die Kleidungsstücke sollten zueinander passen. „Ich mag nicht so ganz das Steife…also, dass der Knopf ganz oben zu ist, ich mach dann schon drei, vier Knöpfe auf, aber es darf nicht zu lässig sein – man will ja auch Anstand zeigen.“ [ F A Z I T ] Martin ordnet sich in seinem Auftreten und Handeln bewusst gesellschaftlichen Strukturen und Werten unter. Er strebt nach Akzeptanz und Sicherheit im Freundes- und Familienkreis. Konflikte versucht er zu meiden. In seiner Kleidung spiegelt sich seine Haltung wieder. Gängige Dresscodes akzeptiert und nutzt er, um gesellschaftlich Anerkennung zu finden. Er hat sich allerdings ein Umfeld gesucht, in dem keine großen Markenzwänge bestehen.

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MARTIN

»Ich mag nicht so ganz das Steife…also, dass der Knopf ganz oben zu ist, ich mach dann schon drei, vier Knöpfe auf, aber es darf nicht zu lässig sein – man will ja auch Anstand zeigen.«



GRUPPE 03 – Tobias Morawski Caroline Müller Anna Reinhardt Christoph Sandau Christiane Schmidt Mareike Walter

SANDRA

Sandra ist 18 Jahre alt. Seitdem ihre Eltern getrennt leben, wohnt sie mit ihrer Mutter zusammen. Mit ihr fühlt sie sich sehr verbunden. In ihrer Kindheit hat sie einige Klassenstufen im Heimatland ihrer Mutter in Osteuropa absolviert. Sandra bricht nach der 11. Klasse auf dem Gymnasium die Schule ab, um ihrem Traum von einer Lehre als Köchin nachzugehen. Viel unterwegs sein, Menschen kennenlernen und Kultur im weitesten Sinne sind einige ihrer vielen Hobbys. Es geht ihr darum, nicht in der breiten Masse zu schwimmen, sondern so individuell wie möglich durchs Leben zu gehen und dabei das zu finden, was sie begeistert. Finanzielle Sorgen hat sie keine. w

[ S E L B S T E I N S C H Ä T Z U N G ] Über sich selbst spricht Sandra gerne. Sie definiert sich als individuell, esoterisch, offen, direkt und auch egoistisch. „Ich bin sehr egoistisch. Ich verletzte oft Menschen, die ich sehr liebe.“ Einer einzelnen Gruppe fühlt sich Sandra nicht angehörig, sondern lebt ihre unterschiedlichen Neigungen in verschiedenen Gruppen aus. „Ich war noch nie in einer Gruppe… mich haben Gruppen abgestoßen, weil ich gesehen habe…, man versucht sich den anderen anzupassen. Ich möchte mich nicht anpassen! Bei jedem Menschen verhält man sich unterschiedlich. Mit manchen kann man über Philosophie reden, mit manchen über ‚Ich habe Probleme mit meinem Freund‘.“ Die Suche nach innerer Größe und einer starken Persönlichkeit treibt sie an, und sie möchte sich dabei keinen gesellschaftlichen Konventionen unterwerfen. [ I D E N T I F I K A T I O N ] Vorbilder für Sandra sind Menschen, welche Stärke ausstrahlen und außergewöhnlich sind. „Ich wünschte, alle Menschen würden so rumlaufen (wie Johnny Depp als Hutmacher in Alice in Wonderland), so richtig ausgeflippt und jeder würde einfach seiner Kreativität freien Lauf lassen.“ Im Interview fällt auf, dass sie viele Lebensweisheiten und Erfahrungen anderer wiedergibt. Obwohl sie sich als tolerant einschätzt, lehnt sie Menschen ab, die sich am Mainstream orientieren und nicht über den eigenen Tellerrand schauen

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SANDRA

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können. Die Anhänger von Technomusik empfindet sie als solche. „Das, was man so im Fernsehen sieht, wo die kleinen Dorfleute dann irgendwie so tanzen. Das ist für mich keine Musik. Ich liebe Jazz, Rock’n’roll, wo man die Seele und die Geschichte hinter der Musik sieht. Das sind nicht die Menschen, mit denen ich mich umgeben würde, da habe ich auch keinen Anhaltspunkt, worüber ich mich mit denen unterhalten soll…Ich mag es nicht, wenn alle das Gleiche tragen.“ [ H A N D L U N G S M U S T E R ] Sandra hört auf ihre Intuition. Sie vermeidet Alltagsroutine, will alles ausprobieren, sich nicht festlegen und immer in Bewegung bleiben. Mit starren Systemen kann sie sich nicht identifizieren, so hat sie seit Jahren ein Problem mit dem deutschen Schulsystem und wird nach Abschluss der elften Klasse die Schule abbrechen. Um ihren Horizont zu erweitern, sucht sie ständig neue, außergewöhnliche Bekanntschaften. „Du hörst nur noch auf dein eigenes Bauchgefühl, du hörst auf deine Intuition,…ich zieh das an, worauf ich Lust habe, ich mach das, worauf ich Lust habe. Tief in seinem Inneren, so ein Kern der bleibt immer gleich…aber keine Veränderung bedeutet Stillstand, und Stillstand ist Tod…man sollte versuchen, sich ständig zu verändern, aber nicht aus Prinzip…und schauen, was einen glücklich macht.“ [ W E R T E ] Sandra sind Liebe, Freundschaft, Familie, Empathie, Frieden, Offenheit, Individualität und Intuition wichtig. „Ich finde Familie heutzutage enorm wichtig.“ „Man sollte, während man tut, worauf man Lust hat, gleichzeitig aufpassen, dass man niemanden verletzt und niemanden in seiner eigenen Freiheit einschränkt.“ – „Ich möchte mich nicht anpassen.“ [ M A R K E N B E W U S S T S E I N ] Sandra liebt Mode, aber sie hat keinen einheitlichen Stil. Je nach Stimmung mischt sie verschiedene Stile, um ihre Gefühle auszudrücken oder zu kaschieren. „Ich liebe Mode, also nicht Mode im Sinne, was modern ist, sondern ich liebe einfach bunte Sachen, ich mixe vom Punkbereich, Biedermeier und Hippie. Ich versuche die ganzen Stil-

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SANDRA

»Ich war noch nie in einer Gruppe…,man versucht, sich den anderen anzupassen…, ich möchte mich nicht anpassen!«


SANDRA

richtungen, was mich am meisten interessiert zu mixen. Man kann mich in keine Schublade stecken.“ Wichtig dabei ist ihr, sich stark zu fühlen und aufzufallen. „Ich fühl mich irgendwie schwach ohne Schminke, und ich fühl mich nicht gerne schwach…, durch die Schminke habe ich keine Angst, dem anderen in die Augen zuschauen, da komm ich mir nicht blass vor wie eine kleine graue Maus.“ Als Vorbilder für ihren Stil nennt sie ihre Mutter und die Natur. „Die Natur ist mein Vorbild.“ Bei anderen achtet sie zwar auf Kleidung, findet aber einen interessanten Charakter und innere Werte wichtiger. Sie lässt sich nicht von den konventionellen Schemata verunsichern, sondern versucht, sich ihr eigenes Bild zu machen. [ F A Z I T ] Sandra versucht zwar, sich Markenzwängen komplett zu verweigern und nicht den gesellschaftlich genormten Kleidungsschemata zu unterwerfen, kann sich aber bei der Beurteilung anderer Menschen einer Kategorisierung nicht komplett entziehen. Ihre Kleidung soll ihre Suche nach Identität und ihr Individualitätsstreben unterstreichen und stärken. Sie will sich nicht festlegen und auch nicht einordnen lassen. Sandra strahlt etwas Unsicherheit und Wurzellosigkeit aus. [ S C H L U S S ] In beiden Beispielen spielt das Markenbewusstsein eine untergeordnete Rolle für die Identitätsfindung der Jugendlichen. Wichtigere Faktoren sind Freundschaften, Familie und zukünftige Lebensziele. Während Sandra nach Spontaneität und Selbstverwirklichung strebt, sind Martins Ziele Integration, Anerkennung und Erfolg. Sandra ist noch auf der Suche. Dadurch ist sie etwas offener für Neues, Martin hingegen wirkt schon gefestigt in seiner Person und in seinen Ansichten. Sandra nutzt Mode gezielt, um das eigene Empfinden sichtbar zu machen, sie ist dabei aber nicht an bestimmte Marken gebunden. Sie versucht, sich von gesellschaftlichen Trends, was die Bewertung einer Person anhand der gekauften Attribute anbelangt, frei zu machen.

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FOTOS Anna Reinhardt


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144 GRUPPE 04 – Jennifer Bender André Boitard Sebastian Bockrandt Johan Sträter Patrick Wolter

BEOBACHTUNGEN


4 Kevin & Marc –

EINE BEOBACHTUNG UND ANALYSE von Jennifer Bender, André Boitard, Patrick Wolter, Johan Sträter und Sebastian Bockrandt


KEVIN

»Erst Hausaufgaben, alles fertig machen… bisschen Computerzeit, zwei, drei Stündchen hat Mama genehmigt…«


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Kevin, 15 Jahre, ist Einzelkind und wohnt mit seinen Eltern in einer wohl situierten Einfamilienhaussiedlung am Rande von Berlin. Der Vater ist Jurist und hat eine leitende Position in der Politik. Die Mutter betreut eine Wohnerziehungsgruppe. Den Status der Familie schätzen wir auf Grund der finanziellen Möglichkeiten und des akademischen Bildungsgrades als hoch ein – gut bürgerlich mit Tendenzen zum Niveaumilieu (G. Schulze). Kevin besucht eine Gesamtschule in Potsdam. In der Freizeit spielt er unter anderem in einem Badmintonverein. w

[ F E U E R U N T E R M H I N T E R N ] Kevin wirkt für sein Alter verhältnismäßig brav und zufrieden mit der Welt. Es besteht keine erkennbare Auflehnung gegenüber dem Elternhaus – die Familie lebt in einem guten Einverständnis miteinander. Er geht jedoch ungern mit seiner Mutter einkaufen, „… nur wenn ich muss!“. Der Vater ist sein großes Vorbild. Er möchte ihm mit Leistungen imponieren, was auch seine Erfolgsorientierung erklärt. Auf die Frage, mit wem er Radtouren machen würde, antwortete er: „Mit meinem Vater … 'n bisschen Feuer unterm Hintern machen!“. Statussymbole, wie sein Traumauto, der Audi TT in weiß mit Automatik, oder hochwertige Sportausrüstung, vorzugsweise von Nike, reizen ihn. [ E R S T D I E A R B E I T D A N N D A S V E R G N Ü G E N ] Kevins Ziel ist es, durch Fleiß und Wissen den von den Eltern gelebten Status zu halten. Er legt Wert auf gute Leistungen in der Schule und zeigt diszipliniertes Verhalten. Auf die Frage, ob er nach der Schule Fernsehen schaut, antwortet er: „…erst Hausaufgaben, alles fertig machen…bisschen Computerzeit, zwei, drei Stündchen hat Mama genehmigt, wenn ich alles fertig habe“. Einen eigenen Fernseher hat er nicht. Kevins Wortwahl und Ausdrucksweise ist gewählt. Die zweite Fremdsprache Latein weist auf sein Streben nach etablierter Bildung hin. Er betrachtet ungebildete, überhebliche Menschen als „Prolls“. Die denken, sie wären die Besten, dabei sind sie eher im unteren Drittel!“. Im Umgang mit Geld zeigt sich Kevin sehr diszipliniert. Das Ersparte wird in hochwertiges Sportequipment investiert. Er belohnt sich für seine Diszi-

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GRUPPE 04 – Jennifer Bender André Boitard Sebastian Bockrandt Johan Sträter Patrick Wolter

KEVIN

plin mit der Erfüllung von Wünschen und kleinen Freiheiten. Maßhalten ist Kevin dabei wichtig: Er geht zum Beispiel nicht zu oft bei Subway essen, sondern „höchstens 2 bis 3 mal im Monat“ – kauft dann aber ein richtiges Menü. Seine durchaus vielfältigen sportlichen Aktivitäten sieht er als Ausgleich zur Schule, schöpft daraus Kraft und Freude. Zudem gewinnt er hier seine Freunde. Im Sport verfügt er über einen ausgeprägten Ehrgeiz bezüglich Leistung und Erfolg, was sich auch in der Wahl von hochwertigem, passendem Equipment widerspiegelt. [ A L I E N V S . L O R I O T ] Der Großteil der Sportarten, die Kevin ausübt (Fußball, Tennis, Squash, Rennradfahren) wird von Männern dominiert. Einige sportliche Aktivitäten betreibt er mit dem Vater und benutzt sie, um sich an und mit ihm zu messen: „dem Papa mal zeigen, wo’s langgeht!“. Mit dem Vater schaut er auch Schockerfilme wie Alien vs. Predator und Actionfilme à la Kampf der Titanen – „So richtig schön mit Action, 3D.“ Bei gemeinsamen Filmabenden mit der Mutter werden eher „nicht so schlimme“ Filme wie Schöne Bescherung und Loriot geschaut. Seine Lieblingsschauspielerin ist Angelina Jolie. Die Genres Horror und Action werden auch bei der Buchauswahl bevorzugt. [ K E V I N U N D D I E F R A U E N ] Freundin?: „Nee, keine Lust!“. Eine übertriebene Art der Zurschaustellung weiblicher Merkmale stößt bei Kevin auf starke Ablehnung. „Super-Aufgetakelte (Frauen, Mädchen), mit tonnenweise Schminke!“ findet er nicht anziehend. Er macht sich sogar lustig über dieses Verhalten und urteilt damit scharf. Hingegen imponieren ihm die Frauen vom Fußballverein Turbine Potsdam: „Die haben’s drauf! Da können sich die Herren mal ‘ne Scheibe abschneiden!“ [ H A N D L U N G S S T R A T E G I E N ] Kevin orientiert sich stark an den Eltern, welche beide sozial und politisch engagiert sind. Dies führt zu einer liberalen Einstellung, in der es keine “Besten“ gibt. Eine Alleinstellung empfindet er als unangemessen und unsozial. Trotzdem genießt er es, hochwertige und damit teurere Produkte zu konsumieren. Aber dies immer im Hinblick

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KEVIN

darauf, es sich zu verdienen, sei es durch Sparen und Verzicht, wie auch durch Erbringung einer ehrlichen, eigenständigen Leistung. Auffällig ist sein Hang zum individuell passenden, funktionalen Produkt. So antwortet er auf die Frage, welchen Badmintonschläger er bevorzugt: „… der muss richtig gut in der Hand liegen.“ Auch bei der Auswahl eines Rennrades hat er keinen Markenwunsch, sondern er würde sich im Laden beraten lassen und ausprobieren, welches ihm am besten passt, womit er gut fahren kann. Die Fastfood-Kette Subways stellt speziell nach Kundenwunsch belegte Baguettes her. Kevin bevorzugt es, hier zu essen und nicht bei McDonalds. Ein weiteres Indiz für die Bevorzugung von ausgewählten, hochwertigen Zutaten (Material) und dem Wunsch individueller Behandlung. Dieser Wille, individuelle Ansprüche geltend zu machen, zeigt sich auch in der Computerwahl: „Ein DELL, den man sich schön zusammenstellen kann.“ Wir schließen daraus auf eine humanistische Einstellung, gekoppelt mit dem Wissen um Individualität und Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen.

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ILLUSTRATIONEN André Boitard


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Marc, 15 Jahre, strebt den mittleren Schulabschluss an und macht zur Zeit ein Praktikum in einem Jugendfreizeitheim in Berlin-Kreuzberg. Er wohnt bei seinen Eltern in einer 3-Zimmer-Wohnung im Berliner Stadtteil Wedding. Mit seinem vier Jahre älteren Bruder muss er sich ein Zimmer teilen. Der Vater ist Maler, die Mutter arbeitet als Köchin in einer Schulküche. Er hat viele Freunde mit Migrationshintergrund. Er lebt gerne in Deutschland, ist noch nie gereist, möchte aber mal nach Detroit (USA). Wenn er Geld braucht, bekommt er es, jedoch kein festes Taschengeld. Kleidung kauft er mit seiner Mutter. Bevorzugte Labels sind: Dickies, Nike und Puma.

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[ D E R T A N Z E N D E P O L I Z I S T ] Schulische Bildung hat bei Marc nicht oberste Priorität. Aufgrund seiner Verwurzelung im Kiez und der entsprechenden Sozialisation vermuten wir, dass das Lernen auf der Straße Vorrang hat. „Ich bin Breakdancer!“ Er trainiert täglich, hat Auftritte auf kleineren Veranstaltungen und Stadtteilfesten. Berufswunsch: „Tanzlehrer, und wenn ich dies nich schaffen würde, würd’ ich Polizist versuchen.“ Sein Ziel ist es, glücklich zum Erfolg zu gelangen. Er ist aber nicht überzeugt bzw. selbstbewusst genug, um sich ohne Alternative sicher zu fühlen. Die konträre Berufsalternative deuten wir als Realismus bzw. Desillusionierung. Nur durch intensives Training sind Leistungen möglich, die ihm zu Anerkennung und Respekt verhelfen. Auch sein alternativer Berufswunsch weist auf eine Wertschätzung von Kontrolle und Disziplin hin. In Gestik und Mimik wirkt er sehr kontrolliert und gehemmt, fast schon zurückhaltend, auch bei Themen, die ihm wichtig sind. [ R E S P E K T ] Eine geschenkte Geldsumme würde er als erstes in „Klamotten oder Schuhe oder so!“ investieren. Diese bezieht er in der Regel in der Minicity, einer Adresse für kredibile und urbane Streetwear. „Ich lege Wert drauf, dass ich in den Klamotten gut tanzen kann.“ In dieser Hinsicht ist er scheinbar Pragmatiker. Auf die Frage, ob es ihm wichtig ist, wie die Klamotten aussehen, antwortet er mit „Ja!“. Auf die Frage, ob man HipHop-Style auch bei Kik kaufen kann, antwortet er: “Is doch egal!“. Nervös spielt er dabei mit den Fingern und belegt damit seine

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GRUPPE 04 – Jennifer Bender André Boitard Sebastian Bockrandt Johan Sträter Patrick Wolter

MARC

Unsicherheit. Wir vermuten, dass er sagt, was vermeintlich gehört werden will. Er will nicht als oberflächlich gelten. Marcs Traumauto ist der Ford Mustang GT500, das durch Design und brachiale Leistung zur Unterstützung seiner Position innerhalb seiner Szene beiträgt. Damit würde er als erstes mit seiner Freundin an die Ostsee fahren oder in der City rumcruisen. Durch seinen Berufswunsch und seine Identifikation mit der B-Boy- und Hip-Hop-Kultur ist klar, dass er nicht nach Keuschheit strebt. Es ist ihm wichtig, Leistung und Erfolge zu erbringen, das Ansehen und den Respekt seiner Mitmenschen oder Breakdance-Crew zu erfahren. Zitat eines Dialogs mit seinem besten Freund: „Später werd’ ich besser als du mit Tanzen oder so!“. [ K E I N J U N G E S C H M I N K T S I C H ] Am deutlichsten werden Vorstellungen von einem männlichen Ideal, als wir ihm ein Bild von einem Emo-Jungen zeigen. Seine Reaktion: „Kein Junge schminkt sich!“. Ein klares Statement bezüglich heterosexueller Männlichkeit, die er eindeutig lebt und anstrebt. Seine latent homophobe Reaktion ist nachvollziehbar, denn in einer maskulinen, sexistischen Subkultur muss er seine Männlichkeit besonders unter Beweis stellen. Dies kann er durch Style und die Beherrschung des akrobatischen Breakdance unterstützen. Demgegenüber steht seine Aussage: „Ich würde die Straßenseite wechseln, wenn mir Neonazis entgegen kommen.“ Er geht einer evtl. körperlich-aggressiven Auseinandersetzung aus dem Weg, ein eindeutiges nicht konfrontatives Verhalten. [ B E G R E N Z T E P H A N T A S I E ] Marc scheint phantasievoll zu sein. Er entwickelt Choreografien, was nicht nur Kreativität im Umgang mit Dramaturgie und Bewegungsabfolgen voraussetzt, sondern auch ein Gespür für die entsprechende musikalische Auswahl. Mit seiner Reaktion auf Bilder von Hippies und Punks „Die rauchen Gras und die trinken den ganzen Tag Alkohol.“ trifft er eine klare Abgrenzung von all zu freier, hedonistischer Lebensgestaltung.

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MARC

[ H A N D L U N G S S T R A T E G I E N ] Marcs Eltern müssen sehr hart für einen vergleichbar kleinen Verdienst arbeiten. Daher ist das Tragen von teuren Markenprodukten für Marc nicht selbstverständlich. Seine Szene verlangt aber einen entsprechenden Dresscode. Marc akzeptiert das hochwertige, anerkannte Markenprodukt als Status- und Machtsymbol, auch wenn er weiß, dass das eigene Handeln nicht den Einkommensverhältnissen entspricht. Offensichtlich nutzt er die Produkte, um finanzielle Defizite zu verschleiern und einen höheren Status vorzutäuschen, auch auf Kosten der Eltern. Er möchte am Leben mit coolen, angesagten Produkten teilhaben – er möchte Spaß haben. Da reicht dann auch keine alte Playstation 2, sondern es muss die 400-€-Playstation 3 sein – für ein Spielzeug ein unbezahlbar hoher Preis für die Eltern. Marc hat aber keine Wahl, wenn er nicht als Verlierer da stehen möchte. Er beteuert zwar auch, Kik-Klamotten können cool sein, aber selbst trägt er diese nicht. Er nutzt bewusst das Markenimage, um sein Selbstwertgefühl und Ansehen zu steigern.

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144 GRUPPE 05 – Gülay Civelek Haik Dettmann Matthias Dittrich Marco Rahn Sebastian Spiewok Julian Wermann

BEOBACHTUNGEN


5 Rüdiger, Robert & Renate –

EINE BEOBACHTUNG UND ANALYSE von Gülay Civelek, Haik Dettmann, Matthias Dittrich, Marco Rahn, Sebastian Spiewok und Julian Wermann


RÜDIGER

»Rüdiger will nicht, dass man sein Markenbewusstsein als Arroganz deutet.«


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Rüdiger ist 17 Jahre alt, Schüler. Er hat zwei Geschwister und türkische Wurzeln. Seine Freizeit verbringt er mit Freunden, Familie und Sport. Nach dem Sinus-Milieu-Modell zählt er zu den Hedonisten.

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[ H A S S L I E B E G E G E N Ü B E R R E I C H E N ] Rüdiger betont des Öfteren, dass er nicht allzusehr auf Marken achte. Jedoch stellten wir fest, dass sein Bewusstsein für Marken deutlicher ausgeprägt ist, als er uns glauben machen will. „Wir spielen dann Playsation 3 “, also keine x-beliebige Konsole. Gespielt wird dann das Fußballspiel FIFA. Seinem Freizeitsport, Basketball, geht er am liebsten in Sportschuhen der Firma Nike nach, „wegen der Qualität“. Die Straßenschuhe dieser Marke gefallen ihm allerdings nicht. Auch hier setzt er aus qualitativen Gründen auf ein Markenprodukt und zwar Schuhe der Firma Converse. Generell kauft er gerne preisgünstig ein. Die Läden, in denen er sich nach Kleidung umsieht, tragen Namen wie Jack and Jones oder Zara. Dort sucht er öfters nach T-Shirts in der Preisklasse bis 10 Euro. Die Firma Jack and Jones zählt er zu seinen Lieblingsmarken. Ihm gefällt der Stil. Rüdiger möchte unbedingt ein iPhone von Apple haben. Bislang geht das jedoch nicht, da seine Eltern seinen Vertrag bezahlen und er daher „an o2 gebunden“ ist. Sein jetziges Smartphone, ein LG KP500, hat ihn sehr enttäuscht, da es bereits kaputt ist. Der Touchscreen des besagten Gerätes hat versagt. Ein Grund mehr für ihn auf Qualitätsprodukte zurück zu greifen. Zu Apple sagt er: „Ich mag Apple sehr, ich will ein MacBook haben“. Ein Highlight des Interviews ergab sich in Folge unseres Hinweises auf seine Uhr. Er trägt eine breite, glänzende Uhr der Marke Cerruti, genauer: Cerruti 1881 Genova Multifunktionsuhr. Diese Uhr ist so auffallend groß, dass er sie nur schwer unter seinem Ärmel verstecken kann. Vielleicht will er das auch nicht unbedingt. Auf die Frage, ob die Mädchen auf diese Uhr anspringen würden, bemerkt er etwas resignierend: „Irgendwie klappt‘s nicht“, so, als hätte er doch das Gegenteil erwartet. Demnach ist Rüdiger über den Statuswert dieser Uhr genau informiert. Protzen ist allerdings seiner Moralvorstellung nach eher nicht zulässig. Dennoch gefällt es ihm so sehr, dass er sich beim Abwägen gerne mal gegen die Moral stellt.

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GRUPPE 05 – Gülay Civelek Haik Dettmann Matthias Dittrich Marco Rahn Sebastian Spiewok Julian Wermann

RÜDIGER

Es macht den Anschein, als ob Rüdiger mit Markenvielfalt brillieren will. Er scheint überzeugt von der Qualität, die die genannten Produkte dem Verbraucher versprechen. Marken scheinen eine deutliche Aufwertung seines Selbstbildnisses zu bewirken. Er hält sich dabei stets den ikonischen Wert des Gegenstandes vor Augen. Ist das Objekt protzig, prollig, pompös oder gar dekadent? Das sind negative Wertvorstellungen für ihn. Dennoch bedient er sich gelegentlich dieser zeichenhaften Marken und wertet somit sein Auftreten nach außen auf. Zur gleichen Zeit hegt er einen Groll gegenüber reichen Menschen. „Ich kann ihre arrogante Art nicht leiden“, teilte er uns mit, „die denken, die wären was Besseres“. Ein heftiges Gestikulieren mit den Händen des sonst so ruhigen Jungen unterstreicht, wie ernst ihm diese Botschaft ist. Rüdiger will nicht, dass man sein Markenbewusstsein als Arroganz deutet. Daher dosiert er, was er nach außen hin zeigt, um so stets im Einklang mit seiner Moralvorstellung zu sein.

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ROBERT

»Er sucht nach Gelegenheiten, um sich mit Trophäen zu schmücken.«


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Robert ist 15 Jahre alt, Schüler, hat einen Bruder und ist ebenfalls das Kind türkischer Eltern. Im Sinus-Milieu-Modell ist Robert etwa bei den Konsum-Materialisten zu finden, mit Tendenzen zu den Hedonisten. Robert verbringt seine Freizeit mit seinen Freunden. Sein Freundeskreis ist eine relativ große Gruppe von Jugendlichen mit Migrations-Hintergrund. w

[ S C H L A U E R A L S D A S S Y S T E M ] Wenn Robert nicht gerade mit seiner Clique draußen unterwegs ist, dann sitzt er gerne vor dem PC und surft im Internet. Er nutzt den MSN-Messenger, um mit Mädchen zu flirten. Auch das Soziale Netzwerk Facebook ist ihm ganz wichtig. Dort lädt Robert täglich Bilder hoch und pflegt seine Kontakte. Zu diesem Zweck ist es ihm wichtig, dass sein Handy eine Digitalkamera mit mindestens 5 Megapixeln hat. Zum Zeitpunkt des Interviews besaß er das KC 550 von LG. Als wir uns ein paar Wochen später noch einmal begegnen, ist er zu einem Nokia Mobiltelefon gewechselt, zugunsten einer besseren Linse. Seine Musik hört Robert mit einem iPod nano. Den habe er über „Connections“ günstiger bekommen. Über die gleichen Bekanntschaften ist sein Vater wohl auch zu einem iPhone gekommen, das er allerdings nicht benutzt. Auf die Frage hin, warum Robert nicht dann das iPhone von seinem Vater nutzt, entgegnete er, dass ihm die Kamera zu schwach sei. Ebenfalls sei er kein großer Freund von Touchscreen-Handys. Offensichtlich hat Robert gern eine Vielzahl von Markengeräten bei sich, ein typisches Merkmal des Sinus-Milieus, zu dem er zählt. Seinen Kleidungsstil prägt ein unauffälliger gerader Schnitt. Er trägt Schuhe von Reebok, Nike oder auch Adidas. Gerne kauft er bei Shooters ein. Hier gibt es gefälschte Markenprodukte. Die Fälschungen betreffen jedoch nicht die Imitation der Marke, sondern das Nachmachen des Schnittes der Kleidung. Auch im Ausland kommen Robert und seine Freunde zu gefälschten Markenprodukten. So berichtete er uns von imitierten Puma-Socken, und einem gefaketen HugoBoss-Gürtel. Im Freundeskreis gehen die Jugendlichen offen mit ihren gefälschten Produkten um. Nach außen hin jedoch deklarieren sie die Echtheit ihrer Bekleidung. Auch „Nachkaufen“ ist legitim. Robert berichtete uns von einem Pullo-

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GRUPPE 05 – Gülay Civelek Haik Dettmann Matthias Dittrich Marco Rahn Sebastian Spiewok Julian Wermann

ROBERT

ver, den er bei Jack and Jones gekauft hatte. Diesen fand einer seiner Freunde so toll und zugleich so günstig, dass er nicht zögerte, ihn gleich nachzukaufen. Mit Bewunderung berichtet uns Robert von einem Freund, dessen Familie einen Maybach fährt, obwohl sie von Hartz IV lebt. Er konnte sich und uns nicht erklären, wie die Familie seines Kollegen zu dieser Trophäe gekommen ist. Jedoch konnte er sich das Grinsen beim Berichten über diesen besonderen Freund nicht ganz verkneifen. Offensichtlich hegt Robert eine gewisse Bewunderung für eine derartige Cleverness. Das moralische und ökonomische System der Gesellschaft zu überlisten und sich ein Gut zu leisten, was sonst nur den Reichen vorbehalten ist, birgt eine Schläue, die Roberts Bewunderung findet. Im Nachhinein betrachtet spiegelt das Roberts Konsumverhalten wieder. Er sucht nach Gelegenheiten, um sich mit „Trophäen“ zu schmücken. Quantität ist dabei offenbar ausschlaggebend. Möglichst viele Marken auf möglichst günstigem Wege zu bekommen, fasziniert ihn. Aber nicht alle Mittel sind ihm dabei recht. Robert kann differenziert zwischen moralisch „gut“ und „böse“ unterscheiden. Er ist nach muslimischem Glauben erzogen worden. Moralisch verwerfliche Sitten wie beispielsweise Diebstahl oder das Trinken von Alkohol lehnt er vehement ab. Umso begeisterter ist er von den Grauzonen, die die Gesellschaft offen gelassen hat. In ihnen bewegt sich Robert gern clever, um in einer Gesellschaft mitzuhalten, die sich selbst einem Konsumzwang unterwirft. Robert will eben schlauer sein als das System.

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RENATE

»Es muss auffällig unauffällig sein.«


GRUPPE 05 – Gülay Civelek Haik Dettmann Matthias Dittrich Marco Rahn Sebastian Spiewok Julian Wermann

RENATE

Renate ist 17 Jahre alt und Auszubildende. Eingeordnet im Sinus-Milieu-Modell würde man sie zu den Experimentalisten zählen. Die Wahrung ihrer Individualität steht für sie an oberster Stelle. Renate hat zwei Geschwister und ist das Kind türkischer Eltern. Ihr Freundeskreis unterteilt sich in zwei Kulturen. Die eine besteht aus deutschen Jugendlichen, die andere aus türkischen Jugendlichen.

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[ K L E I D U N G A L S S P I E G E L D E S C H A R A K T E R S ] Renate genießt, in Relation zu ihren türkischen Wurzeln, viele Freiheiten, wie beispielsweise lange Ausgehzeiten oder Toleranz von Alkohol- und Nikotinkonsum. Für das Ausleben dieser Freiheiten erntet Renate starke Kritik aus ihrem türkischen Freundeskreis. Sie persönlich findet diese Kritik teilweise ungerecht, hat aber auch Verständnis für die Missgunst ihrer Freunde, da diese es nicht anders kennen. Wir kamen im Interview mit Renate sehr schnell auf das Thema „Shoppen“ zu sprechen. Kleidung zu kaufen, zählt sie zu ihren liebsten Aktivitäten. Ihr Kriterium für die Wahl eines passenden Kleidungsstückes: „Es muss auffällig unauffällig sein.“ Alles ist recht, solange es nur nicht zu sehr oder gar negativ auffällt. Die Kleidung muss zu dem passen, der sie trägt. Danach sucht sie sich ihre Kleidung aus. Zu den Positivbeispielen aus der Welt der „Stars“ benennt sie uns die vier Darstellerinnen aus dem Film „Sex and the City“. Diese sind, ihrer Meinung nach, unverwechselbar individuell gekleidet, das fasziniert sie sehr. Als Negativbeispiele verweist sie auf grelle, knallige Neonfarben oder „Bling-Bling“, also glitzernde Kleidung, sowie Accessoires. Derartiges Auffallen ist für Renate moralisch verwerflich, da es Unehrlichkeit und Verblendung verkörpert. Die Popsängerin Lady Gaga steht auf der Negativrangliste ganz oben. Mit einem derart außergewöhnlichen und aufwändigen Erscheinungsbild verbindet Renate eine Maske, hinter der sich die Sängerin vor ihrem wahren „Ich“ verstecken will. Renate versteht nicht, wieso sich Menschen derart kostümieren. Ebenfalls negativ findet sie Personen, die mit den identischen Kleidungsstücken nebeneinander her laufen. „Was denken sie sich dabei?“ fragt sie sich dann immer. Es ist schon einmal vorgekommen, dass

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RENATE

Renate zufällig eine Freundin auf der Straße getroffen hat, die die gleiche Jacke trug wie sie. Beide haben sofort ihre Jacken ausgezogen. Eine derartige Verletzung der Einzigartigkeit ist moralisch nicht vertretbar. Dafür wird dann auch mal Frieren in Kauf genommen. Renate gibt ihr Geld mit Bedacht aus. Schuhe sucht sie sich primär nach Bequemlichkeitsmerkmalen aus. In Fragen technischer Accessoires ist sie nicht besonders Marken-fixiert. Ihr jetziger Mp3-Player ist beispielsweise lauter als der Vorherige. Sie findet die iPods der Marke Apple zwar schön und gut, sieht aber keine Rechtfertigung für deren Preise. Bekäme sie 200 € geschenkt, um sich einen solchen iPod zu kaufen, so würde sie sich eher einen Mp3-Player für 20 € kaufen und mit dem restlichen Geld den Inhalt ihres Kleiderschrankes erweitern. Um mit ihren türkischen Freunden zusammen zu sein, treffen sie sich meist bei jemandem zu Hause. Dort sitzen sie dann um den Tisch versammelt und essen und trinken, lästern über die neusten Fashion-Fehlgriffe, welche ihnen die Tage über begegnet sind. Lästern ist ein Ausdruck der fachlichen Kompetenz in der Gruppe. Das Aussehen spielt in ihrem türkischen Freundeskreis eine enorm wichtige Rolle. Es würde Renate persönlich nie einfallen, ungeschminkt bei ihrer Clique einzutreffen. Weitaus wichtiger ist ihr aber Ehrlichkeit. Dennoch geht sie nicht blauäugig mit dieser Wertvorstellung um. Sie kann die Menschen in ihrer Umgebung gut einschätzen. Nur zwei Menschen in ihrer Umgebung zählt sie zu den Personen, denen sie vollständiges Vertrauen schenkt. Die eine ist eine Freundin, die andere ein Mitglied aus der Familie. Für Renate spiegelt offensichtlich das äußere Erscheinungsbild den Charakter einer Person wider. Verbirgt jemand seine Person durch auffälliges Make-up oder aufwändige Kleidung, so ist ihr das unangenehm. Sie verlang Klarheit in Kleidung und Charakter. Gut ist, wer offen zeigt, wie er ist, schlecht ist, wer etwas zu verstecken hat.

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BEOBACHTUNGEN


6 Anja & Cara –

EINE BEOBACHTUNG UND ANALYSE von Diana Bremer, Annika Riethmüller, Julia Stiebe, Pauline Tonhauser und Lisa Wischmann



ANJA

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Auf der großen Wohnzimmercouch sitzt uns Anja gegenüber. Ihr schulterlanges, dunkelblondes Haar trägt sie offen und ihre Körperhaltung signalisiert Selbstbewusstsein. Während sie spricht, verhält sie sich ruhig, gelassen und souverän. Sie ist 14 Jahre alt und in Berlin bei ihren Eltern und ihrem Bruder aufgewachsen. Anja besucht ein Gymnasium und tanzt seit 11 Jahren Ballett. Sie ist Nichtraucherin, trägt keinen Schmuck und schminkt sich dezent. Als Hobbies nennt sie Filme und Musik, hierbei insbesondere die Beatles und Cobra Starship. w

[ F R E U N D E ] Anja erzählt uns, dass sie einer festen Clique von Jungen und Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren angehört. Alle kommen aus der unmittelbaren Umgebung. Sie gehen gemeinsam in einen Park und treffen sich am Wochenende. Ihre Freunde beschreibt Anja als „ziemlich musikalisch“. Sie spricht von Klavierspielern, Sängern und Gitarristen. Anja präsentiert sich hier als Mitglied einer besonderen und kreativen Gruppe. Absonderung durch eine spezifische Fertigkeit oder Begabung hat für sie einen hohen Wert. Anja differenziert sich durch ihre jahrelange Ballettpraxis, die Tugenden wie Disziplin, Fleiß, Zielstrebigkeit und Ausdauer impliziert. [ I N D I E - T A N T E N ] Wir interessieren uns für Gruppen, von denen Anja sich abgrenzt. So kommt es zu ihrer Schilderung der sogenannten „Indietanten“. Es handelt sich um eine Mädchengruppe aus ihrer Parallelklasse, die ihre Kleidung vom Trödelmarkt bezieht und einen großen Anspruch an Individualität hat. Anja beschreibt einen Konflikt, bei dem es um die Selbstdarstellung durch Produkte geht: „Die sind der Meinung, dass sie besonders individuell sind. Und dass man nicht zu H&M gehen dürfte, weil das ja total der Mainstream ist.“ Als wir nachfragen, wie sich diese Individualität äußert, nennt sie ein Mädchen, das ihre Uhr am Bein trägt. Dieser „HippieBohème-Stil“ sei geprägt von „Oma-Einflüssen“ und „Hauptsa-

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GRUPPE 06 – Diana Bremer Annika Riethmüller Julia Stiebe Pauline Tonhauser Lisa Wischmann

ANJA

che nicht normal“. Derartiges Auftreten macht sie zu Widersachern. Wir spüren zum ersten Mal eine Erregung in Anjas Rede und Mimik; sie imitiert die Beschriebenen herablassend und zitiert sie im Konjunktiv. [ M A R K E N ] „Also wir sind nicht markenfixiert. Wir kaufen das, was uns gefällt. Und das muss nicht ‘ne Marke haben.“ Während des Gespräches weist sie wiederholt darauf hin, dass ihr Marken, Stil und Äußerlichkeiten nicht viel bedeuten. „Das kann zur Not auch von Kik sein“, bemerkt sie gleichgültig und vermittelt ihre Unbefangenheit gegenüber No-Name-Produkten und deren Herstellungsmethoden. Dass Anja doch auf Marken Wert legt, stellt sich später heraus. Es äußert sich in dem Wunsch nach einer Adidas-Jacke, die ihre Mutter aufgrund des hohen Preises nicht kaufen möchte. Ihr Begehren nach diesem Produkt ist so stark, dass Anja Plagiate als Substitute wählt: „Also wir waren mal in der Türkei und haben uns halt die meisten Sachen gefälscht gekauft. Das war mir dann auch schnurz.“ Sie lacht erlöst und gleichzeitig erkennt sie das Verbot, das sie verletzt. Wir deuten diese Reaktion als Ausbruch aus dem moralischen Gefüge, in dem sie steckt, als Beichte einer unsittlichen Handlung. Anja ist moralisch versiert, weiß um Richtig und Falsch. Kontroverse Aussagen konkretisieren den Zwiespalt zwischen Unabhängigkeit und Integration. Ihre Produktstrategie ist offensichtlich: Marken um jeden Preis. Ihr Konsumverhalten verrät, dass sie Dinge unmittelbar besitzen muss, um Zugehörigkeit zu demonstrieren. Adidas nutzt sie als Ausdrucksmittel, das nicht erklärt werden, zu dem man sich lediglich bekennen muss. Wertezuordnung definiert Anja nicht durch Schein, sondern Sein. Sie selbst kleidet sich unauffällig und empfindet Protz als unsolide. „Man sollte es auf jeden Fall nicht übertreiben. Also so, keine Ahnung, ‘n bisschen Kajal und Wimperntusche reicht, finde ich.“ Eine ostentativ reizvolle Erscheinung

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ANJA

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entspricht nicht ihrer Handlungsstrategie: „Weiße Schuhe sind billig“ urteilt sie, als wir ihr Stiefel mit hohem Absatz zeigen. „Nur Nutten tragen so etwas.“ Sie kichert beschämt. Der Kommentar scheint ihr unangenehm zu sein, zugleich jedoch auch befreiend. Sie belächelt die Individualität der anderen Seite und grenzt sich davon ab, indem sie deren Auftreten nachahmt. [ M O R A L ] Anja hat die Fähigkeit, Werte gut einzuschätzen. Die durch die Eltern auferlegte Moral hat sie stark verinnerlicht, was sich in diversen Verhaltensmustern äußert. Es wird deutlich, dass Anja stets um ein konsequentes Erscheinungsbild bemüht ist: eines, das vorgibt, sie sei mit sich im Reinen. Sie besteht darauf, Toleranz und Gleichgültigkeit gegenüber Marken auszudrücken. Selbstbewusstsein zu erlangen, ist ihr höchstes Ziel. Wir bemerken eine Diskrepanz in ihren Aussagen: „Die haben halt so’n selbstbewusstes Auftreten..., Die würden halt auch mit pinken Haaren in die Schule kommen, und das wär ihnen scheißegal, was die Anderen darüber denken, und das finde ich halt auch irgendwie erstrebenswert.“ Der wahre Wunsch auf der Suche nach Identität offenbart sich im Anschluss: „Dass man sich nicht so viele Gedanken darüber macht, was andere über einen denken. Also, ich hab schon Probleme, und ich denk immer darüber nach, was der jetzt über mich denkt.“ Dieses Geständnis verdeutlicht ihre Abhängigkeit von den Meinungen anderer und drückt ihre Unsicherheit aus.

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ANJA

»Weiße Schuhe sind billig… nur Nutten tragen so etwas.«


ILLUSTRATIONEN Lisa Wischmann


ILLUSTRATIONEN Lisa Wischmann


CARA

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Cara ist 16 Jahre alt, besucht die 10. Klasse einer Gesamtschule und will das Abitur noch erlangen: „Ich mach weiter bis zum Abitur, und dann guck ich mal weiter.“ Sie lebt schon immer in Potsdam mit ihrer Familie. Die Wohnung befindet sich in einer gediegenen sanierten Altbaugegend. Cara sitzt uns entspannt gegenüber, ihre Hände umfassen das angewinkelte Bein. Ihre Stimme ist ruhig, aber lebendig in ihrer Ausdruckskraft. Sie trägt ein legeres Superman-T-Shirt, das ihr Bruder ihr geschenkt hat, und Nike Shorts. Ihre nussbraunen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Während des Gespräches schaut sie uns offen und freundlich in die Augen. w

[ F A M I L I E ] Cara betont, dass ihre Eltern schon zwanzig Jahre verheiratet sind. Ihre zwei Brüder und sie haben jeweils eigene Zimmer. „Wir frühstücken eigentlich immer zusammen. Auch in der Woche und Abendbrot tun wir auch so zusammen. Wir verreisen auch immer zusammen. So zelten. Nach Italien oder Frankreich.“ Der Familienverband ist sehr stark. Sie wirkt sehr zufrieden, wenn sie von ihrer Familie spricht, und dabei gibt sie nicht den Anschein, dass sie das enge Familiengefüge hindern oder gar stören würde. Ihre Eltern beschreibt sie als „relativ flexibel“. Gemeinsame tägliche Rituale, Pflichten wie Aufräumen und Musikunterricht, der von den Eltern ermöglicht und gestützt wird, zeugen von einer emotionalen und finanziellen Sicherheit. [ F R E U N D E ] „Viele kenne ich einfach noch von früher von den Freunden meiner Eltern und von Veranstaltungen.“ Die unterschiedliche Herkunft ihrer Freunde hat sie gelehrt, Menschen unvoreingenommen zu begegnen. Wir haken nach, von welchen Veranstaltungen sie spreche. Sie stockt, überlegt, und ihr Blick weicht aus. „Ich habe bei der Deutsch-Olympiade mitgemacht. Da habe ich ganz viele aus Deutschland kennengelernt, mit denen ich noch im Kontakt bin.“ Es scheint ihr unangenehm, als vermeintliche Streberin von uns angesehen zu werden. Sie ist niemand, der mit dieser Auszeichnung hausieren geht. Wiederholt betont sie: „Nee also ich bin jetzt nicht

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GRUPPE 06 – Diana Bremer Annika Riethmüller Julia Stiebe Pauline Tonhauser Lisa Wischmann

CARA

schlau.“ Es ist offenbar ein Stigma, schlau und intellektuell zu sein. Jemanden, dem die Schule leicht fällt, empfindet sie in ihrer Welt als Außenseiter. Sie geht mit ihren Freunden schwimmen, joggen, shoppen – hauptsächlich am Ku‘damm in Berlin – und oft auch ins Café. Ihr Taschengeld investiert sie vornehmlich in Fahrgelder und Essen. Größere Wünsche hat sie nicht. Sie jobbt als Babysitterin und packt das selbstverdiente Geld auf ihr Konto. [ P R O L L S ] „Diese Prolls, also solche Leute, die sich besonders toll fühlen und ähm eigentlich nur naja blöd sind irgendwie... Die gehen über den Schulhof und brüllen irgendwelche Sachen rüber und fühlen sich besonders toll, ...wo man nur denkt: denkt ihr nicht nach oder so? Das nervt dann irgendwie.“ Ausdrucksstark imitiert sie den Tonfall der „Prolls“. Sie zeigt sich angewidert von den obszönen Sprüchen, dem Betatschen. Hier wird eines klar: Cara hat nicht ein bestimmtes Feindbild, das sie durch Aussehen definiert, sondern eines, das als unmoralisches, diskriminierendes Verhalten ihr und anderen gegenüber erscheint. Mangel an Selbstreflexion und das Fehlen des Intel-lekts sind inakzeptable Merkmale für sie. Dennoch ist sie zurückhaltend in ihrer Kritik und vermeidet direkte Anschuldigungen. [ M A R K E N ] Cara achtet bei Kleidung nicht zu sehr auf Markenlabels. Qualität ist ihr wichtig. „Ich würde jetzt nicht Kik oder so was tragen... Ich glaube, dass die Qualität nicht so gut ist.“ Es käme ihr nicht in den Sinn, beim Billigdiscounter Kleidung zu kaufen. Qualität ist für Cara gleichbedeutend mit einem hohen Preis. „Sachen, die man auch noch länger hat, wie z.B. ein Computer“ sind für sie eine Investition wert, „ich meine, wenn ich jetzt da ein T-Shirt sehe, das nur vier Euro kostet, solange brauche ich das jetzt eh nicht,“ wird es gekauft. [ S C H U H E ] Wir zeigen Cara Bilder von verschiedenen Schuhen, welche für uns bestimmte Typen verkörpern. Unser erstes Bild zeigt einen schwarzen Overknee-Lackstiefel. „Die sind lustig... Manchmal sieht man das ja in Filmen bei Prostituier-

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CARA

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ten.“ Ihre Wörter sind wieder sehr gewählt. Sie empfindet den Schuh nicht als verwerflich oder abstoßend. „Aber die können bestimmt gut aussehen. Wenn man die richtig anzieht.“ Dann zeigen wir das Foto eines weißen Schuhs. „In Braun oder Schwarz würde ich die, glaub‘ ich, anziehen. Aber nicht in Weiß. Also Weiß ist nicht meine Schuhfarbe… Viele Prolls tragen weiße Schuhe.“ Nur hier ordnet Cara eine bestimmte Farbe dem Kleidungscode der „Prolls“ zu. Selbst wenn der Schuh ihr von der Gestaltung gefällt, macht die Farbe Weiß ihn untragbar. Durch das inflationäre Tragen verliert die Farbe ihre Unschuld. Die Farbe ist beschmutzt. [ M O R A L ] Cara besitzt ein hohes Vertrauen in ihre Familie, Freunde und in sich. Sie ist reflektiert, bleibt bei sich selbst, nach dem Rechtsprinzip: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deiner Nächsten!“ Cara besitzt einen hohen Gerechtigkeitssinn. Sie vermittelt, dass sie sich nicht von Äußerlichkeiten verleiten lässt. Im Widerspruch dazu will sie nicht verwechselt werden, vor allem nicht mit der Gruppe der „Prolls“, von denen sie sich klar abgrenzt. Tugenden wie Bescheidenheit, Disziplin und Klugheit sind bedeutend, werden aber nicht zur Schau gestellt. Das Moralempfinden ist von dem gebildeten Milieu ihrer Eltern stark geprägt. Sie rebelliert auch nicht dagegen und nimmt es widerstandslos an. [ F A Z I T ] Sowohl Cara als auch Anja sind dem Selbstverwirklichungsmilieu zuzuordnen: „Zwei Faktoren sind für das Verständnis des Profils wichtig: erstens der hohe milieuspezifische Bildungsgrad, zweitens die Unentschlossenheit der Karriere.“ (G. Schulze, 2005 S. 320) „Es ist das mobilste Milieu, mit der ausgeprägtesten Tendenz, die eigenen vier Wände zu verlassen und auszugehen… Typisch ist ein großer Freundeskreis.“ (G. Schulze, 2005 S. 318-319) Beide stammen aus gehobenem Mittelstand, sind gebildet und gut erzogen. Musische Ausbildung spielt eine gewichtige Rolle. Werte wie Fleiß, Disziplin, Gehorsam und Ausdauer stehen im Vordergrund. Große Freundeskreise und der Zusammenhalt der

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CARA

»Viele Prolls tragen weiße Schuhe.«


CARA

Familien fördern bei beiden eine ausgeprägte Sozialkompetenz und bewusste moralische Wahrnehmung. Ein wesentlicher Unterschied liegt in der Kommunikation von ihren Tugenden. Anja trägt ihre Fähigkeiten nach außen, während Cara sich dabei zurückhält. Weiterhin unterscheiden sich die Handlungsstrategien beider Mädchen. Zur Not würde Anja beim Billigdiscounter Kik ihre Kleidung kaufen. Cara lehnt dies ab – Markenimage ist relevant. Sie schließt Plagiate für sich aus, Anja konsumiert diese vorsätzlich. Damit handelt sie gegen die gesellschaftliche Moralnorm des Eigentumsprinzips: „Du sollst nicht stehlen!“ und ist sich dessen auch bewusst.

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BEOBACHTUNGEN


7 Nele & Georg –

EINE BEOBACHTUNG UND ANALYSE von Denys Christian, Helena Dell, Elisa Ruhl und Andy Wilke


FOTO Lauren Lank


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Nele ist 15 Jahre alt und besucht die 10. Klasse eines Potsdamer Gymnasiums. Vater und Mutter sind Akademiker. Nele wohnt in gut situierten Verhältnissen gemeinsam mit ihren zwei Geschwistern (jüngerer Bruder und jüngere Schwester) im Elternhaus. In ihrer knapp bemessenen Freizeit geht sie rudern und spielt Querflöte. Im Interview zeigte sich Nele als aufgeschlossener und kommunikativer Mensch. Diese Eigenschaften ermöglichten uns einen guten Einblick in ihr Wertesystem. Im Folgenden analysieren wir Ursachen, Auswirkungen und Phänomene ihrer verinnerlichten Werte. w

[ W E R T E P R O F I L ] Im geführten Interview wird deutlich, dass Nele Disziplin und Vernunft äußerst wichtig sind. Ihre Handlungsweise wird maßgeblich durch diese beiden Werte gesteuert. An dieses Verhalten sind zudem sehr stark die Faktoren Kontrolle und Sicherheit gebunden. Nele will „normal“ sein – Integration ist ihr wichtig. Gymnasium und späteres Studium sind im Zuge einer Orientierung am Faktor Bildung selbstverständlich. Im gesamten Interview ist zu beobachten, dass Nele ihr Verhalten sehr stark reflektiert und kontrolliert. Ihr gefestigtes Wertesystem macht sich in verschiedenen Abschnitten des Interviews bemerkbar, auf das wir in der weiteren Analyse konkreter eingehen. [ U R S A C H E N D E R V E R I N N E R L I C H T E N W E R T E ] Nele hat ein gutes Verhältnis zu ihrer Familie – sowohl zu den Eltern als auch zu den Geschwistern. Vater und Mutter erfüllen Vorbildfunktion, zum Beispiel im Umgang mit Geld, Alkohol und Konsum. Die Familie verbringt viel Zeit zusammen – gemeinsame Ausflüge oder Familienessen prägen den Alltag. Durch ihre zwei jüngeren Geschwister lernt sie, Teamplayer zu sein. Durch die Erziehung werden allgemein bürgerliche Werte vermittelt: „Sei vernünftig! Sei sparsam!“ Normen der Eltern, der Freunde und der Schule werden ohne größeren Widerstand akzeptiert, dennoch ist Nele offen gegenüber neuen Einflüssen. So berichtet sie begeistert von ihrem Schüleraustausch

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GRUPPE 07 – Denys Christian Helena Dell Elisa Ruhl Andy Wilke

NELE

in die USA, welcher als Schlüsselerlebnis identifiziert werden konnte. Auf dieser Reise hat Nele viel Neues kennen gelernt und mit nach Deutschland gebracht. Neles Umfeld ist behütet. Viele ihrer Freundinnen sind jünger als sie. Ihre Clique hat hauptsächlich weibliche Mitglieder. Der Kontakt zu Jungen bleibt eine Ausnahme. Nele scheint nicht die Anführerin der Clique zu sein, obwohl es einige jüngere Cliquenmitglieder (achte und neunte Klasse) gibt. Nele will nicht hervorstechen, nicht auffallen, “normal“ sein. Unter Berücksichtigung dieses Hintergrunds kann man sie der Gruppe der „Braven“ zuordnen. Nach der Analyse des Werteprofils gehört Nele dem Integrationsmilieu (nach G. Schulze) an. [ Ä U S S E R U N G D E R W E R T E ] Neles Werte zeigen sich in diszipliniertem und vernünftigem Verhalten. Sie trinkt keinen Alkohol: „Ich hab keine Lust, die Kontrolle zu verlieren.“ Sie besucht wenig Parties - die letzte liegt Monate zurück. Nele bekommt 20 Euro Taschengeld pro Monat. Es erscheint ihr angemessen, da sie nicht selbst Kleidung und Essen kaufen muss. Grundsätzlich kommt sie mit dem ihr zur Verfügung stehenden Geld zurecht, da sie auch in ihrer Freizeit eine starke Kontrolle über ihr Budget behält. „(20 € ...) damit komme ich zurecht.“ Kontrolle zeigt sich als Wert auch in ihrer Lebensplanung – diese gestaltet sie frei von Illusionen, “Wenn man schon so ein genaues Bild hat für die Zukunft, dann wird man total schnell enttäuscht!“ Öffentliche Daten bei Facebook werden vermieden. Marken sind ihr nicht wichtig. Wenn Nele Kleidung kauft, geht sie zu H&M oder begnügt sich mit No-Name-Produkten, da sie unauffällig und günstig sind. Vornehmlich begleitet ihr Vater sie beim Einkaufen von Kleidung, was ihr Entscheidungsfreiheit ermöglicht. Neles „Luxus“ ist der wöchentliche „Kaffeeklatsch“ mit ihren Freundinnen bei Starbucks. Höhere Luxusgüter (wie Flachbildschirme) werden von ihr als übertrieben und unnötig deklassiert. Nele ist sich selbst bewusst, dass die Teenie-Zeitschriften, welche sie liest, nichts Wichtiges beinhalten; sie bezeichnet sie als “Schrott“. Sie dienen nicht zur Wissensaufnahme, sondern ausschließlich zur Unterhaltung – daher fallen sie aus ihrem Wertesystem heraus. Ihre

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NELE

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Grundinformationen bekommt sie durch Nachrichten (Tagesschau, Zeitung). Nele hat einen sehr gesunden Lebensstil, sie ernährt sich bewusst: Obst, Wasser und Vollkornbrot sind ihre Grundnahrungsmittel. Ernst und Spaß müssen stets in Balance bleiben: „Ja, aber die Pflichten sind einfach wichtig.“ Nele ist gut in ihr Umfeld integriert. Sie ist unauffällig bekleidet (Moonboots, Rock, Shirt, die Kleidung in gedeckten Farben), hat ein einfaches Mobiltelefon von Sony Ericson (Modell Walkman). Zum Musikhören nutzt sie einen iPod Nano. Sie hört gerne Radio, tauscht Musik aus – insbesondere neue Musikstücke, die sie von ihrer Amerikareise mitgebracht hat. Es werden Marken und Handlungsweisen bevorzugt, die sie aus ihrer Umgebung kennt. Zu ihren Feindbildern gehören daher vor allem Gruppierungen extremer Richtungen: Skater, „Ökos“ („die aus dem FilzLaden“), Punks und „Tussies“. [ A U S B R U C H ] “Ich hab gerne viel Freizeit“, aber „man muss seinen Pflichten nachgehen.“ Ein ständiger Konflikt zwischen Gewohntem und dem Besonderem wird in Nele ausgefochten. Manchmal bricht sie aus ihrem verinnerlichten Verhaltensmuster aus: Sie möchte besonders sein und versucht ihr Geltungsbedürfnis in der Gruppe der Jüngeren auszuleben. „Bei Musik sind die manchmal so hinterher.“ Sie trägt ein auffälliges Armband, was zu ihrer sonst so zurückhaltenden Kleidung nicht gerade passt. Es sagt: „Sei schön! Sei besonders!“ Das glänzende, schwere Schmuckstück versprüht Glamour und verstärkt den Ausbruch mittels Promizeitschrift, Kaffeehausbesuch und Fernreisen. Vor allem durch ihre in die USA fühlt sie sich besonders und lässt in diesem Zusammenhang emotionale Aussagen im Interview zu. [ M A R K E N P R O F I L ] Nele sind einige Marken bekannt. Besonders wichtig ist es jedoch für sie nicht, bestimmte Marken zu besitzen. Marken, die sich vor allem an ihrem Bedürfnis nach Integration orientieren, sind: Sony Ericsson, Schüler CC, H&M, Starbucks. Marken, die ihrem Drang nach dem Besonderen nachgehen, sind: iPod, BravoGirl, Facebook, Bionade.

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GRUPPE 07 – Denys Christian Helena Dell Elisa Ruhl Andy Wilke

NELE F O T O © Bionade

[ H A N D L U N G S S T R A T E G I E N ] Um ihr Wertesystem aufrecht zu erhalten, verfolgt Nele entsprechende Handlungsstrategien: Sie spart, sie besitzt ähnliche Produkte wie ihr Umfeld und pflegt den stetigen Kontakt zu Menschen mit ähnlichen Wertesystemen (Eltern, Mädchenclique). Zur Erfüllung jener Handlungsweisen nutzt Nele Produkte und Marken, um Zugehörigkeiten im eigenen Umfeld zu gewährleisten – Schutz vor Angreifbarkeit. Sie grenzt sich somit deutlich von ihren Feindbildern ab. Teilweise werden Produkte aber auch explizit für die Darstellung des Besonderen genutzt. Die vorliegende Analyse bestärkt, dass Nele dem Integrations-Milieu angehört. Die Etablierung in dieser Gruppe wird neben anderen Prozessen über die Wirkungsweise von Markenprodukten gewährleistet.

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FOTOS www.sxc.hu


NELE

» Wenn man schon so ein genaues Bild hat für die Zukunft, dann wird man total schnell enttäuscht!«


GEORG

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Georg ist 14 Jahre alt und Schüler an einer Begabtenschule zur Förderung von Sprachen. Er wächst in einer mittelständischen Familie auf. Die Eltern sind Akademiker und wohnen in einem Einfamilienhaus außerhalb der Stadt. Georg hat drei Geschwister, eine ältere Schwester, die bereits vor zehn Jahren das Haus verlassen hat und als Managerin im Ausland lebt, zwei ältere Brüder, die ebenfalls vor zwei Jahren das Elternhaus verlassen haben, beide studieren in entfernten Städten. Georgs Freizeitaktivitäten sind Tischtennis-, Fußball- und Schachspielen. Schach ist nicht nur ein Hobby für ihn, sondern ein Teil seines Alltags, bei dem er bereits mehrfach Preise und Auszeichnungen gewonnen hat. w

[ W E R T E P R O F I L ] Bei der Analyse wurde festgestellt, dass Georg sehr erfolgs- und leistungsorientiert ist. Es ist für ihn sehr wichtig, diszipliniert und vernünftig zu handeln. Seine Fähigkeit zu reflektieren ist stark ausgeprägt. Er ist sich seiner Handlungsweise bewusst und kann diese gut begründen. Er ist in seinem Tun sehr diszipliniert und handelt für sein Verständnis vernünftig, ebenso nach den Moralvorstellungen seiner Umwelt. Er hat ein gefestigtes Wertesystem im Bereich der bürgerlichen Werte, strebt die Integration in die Gesellschaft an und ist „halt ordentlich.“ So definiert der 14-Jährige seine Gruppenzugehörigkeit. Auf Materialismus legt er keinen gesteigerten Wert und ist sehr auf Funktionalismus und Optimierung bedacht. Seine Zukunft ist ihm sehr wichtig, eine genaue Vorstellung wurde allerdings noch nicht entwickelt. [ U R S A C H E N D E R V E R I N N E R L I C H T E N W E R T E ] Die vorher dargelegten Werte resultieren aus der konservativen Haltung der Eltern und deren sehr kontrollierter Erziehung, die keine Ausschweifungen in seiner persönlichen Entwicklung zulassen. Die Normen der Eltern und die der Schule werden komplett akzeptiert. Er bewegt sich in zwei verschiedenen Freundeskreisen: Der Schachclub, seine Schulfreunde der aktuellen Klasse und das Umfeld im Tischtennisverein, sein engster Freund von der alten Schule. Dieser beste Freund ist ein Junge

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GRUPPE 07 – Denys Christian Helena Dell Elisa Ruhl Andy Wilke

GEORG

seines Alters mit Migrationshintergrund, bei dem er seine Lust nicht beschränken muss. „Sei lustvoll! Sei spielerisch!“ Sie spielen viel Computer miteinander, albern herum – tun Dinge, die vornehmlich abgewandt von der sonst sehr vernunftorientierten Handlungsweise sind. Das Aufwachsen in einem behüteten, erfolgsorientierten Umfeld und die dadurch entstehende Zugehörigkeit im Integrations- und Niveaumilieu sowie Schlüsselerlebnisse wie das Wechseln auf eine Begabtenschule und der Sieg zum Schnellschachmeister bestätigen die Gruppenzugehörigkeit für Georg. Er sagt selbst von sich, dass er zu den Klugen, zu den Gewinnern gehört. [ Ä U S S E R U N G D E R W E R T E ] „Ich kann gar nicht schlecht werden. Das geht einfach nicht. Da pass ich ja auch selbst auf.“ Georgs Siege und Erfolge in Schule, Schach und Tischtennis erzeugen ein Wohlbefinden in der eigenen Geisteskraft. Stetige Selbstkontrolle befördern den angestrebten Erfolg. Diszipliniert macht Georg seine Hausaufgaben sofort und sorgfältig. Vernünftiges und regelmäßiges Training ist aus seiner Sicht die Grundlage für die gewünschten Erfolge auf den Schach-Turnieren am Wochenende. Auch bei eigentlich lustvollen Tätigkeiten wie Computerspielen begrenzt er sich durch Zeitkontrollen. Georg ist in der Lage, sich bei der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse Ziele und Grenze zu setzen. Sparsamkeit wurde ihm anerzogen und ins eigene Wertesystem aufgenommen. Das Taschengeld wird für die Zukunft gespart und maximal für Essen ausgegeben. Unnötige Einkäufe werden vermieden. Sinnvoll, funktional und nachhaltig müssen Investitionen sein. Sollte er einige Millionen Euro gewinnen, so würde er diese in Häuser und Grundstücke anlegen. Georg will nicht auffallen und versucht, sich zu integrieren, indem er ähnliche Produkte besitzt wie seine Mitmenschen „Wir haben alle ein SonyEricsson-Handy.“ Marken spielen im Grundsatz keine Rolle. Es gilt: Produkte müssen funktional, ordentlich und unauffällig sein – beim Interview trug er einfache Jeans und einen Fleece-Pullover. Ein deutliches Zeichen der Zugehörigkeit ist auch folgendes Zitat:

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GEORG

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„Es ist nicht passend, wenn man da so hinkommt (wie ein Penner). Man sollte sich schon ordentlich kleiden. Es ist in jedem Fall wichtig sozial integriert zu sein.“ [ A U S B R U C H ] Georg schafft sich die Möglichkeit für einen Freiraum, wo er seiner spielerischen Lust freien Lauf lassen kann, also seine persönlichen Bedürfnisse auch mal voranstellt. Persönliche Bedürfnisse, auch unvernünftige, werden mit seinem besten Freund ausgelebt. Albernheiten oder Computerspielen sind für kurze Phasen erlaubt: Georg ist sich jedoch im Klaren darüber, dass diese Aktivitäten in seinem weiteren geistigen Voranschreiten keine förderliche Rolle spielen. [ M A R K E N P R O F I L ] Georg ist nicht markenfixiert - vielmehr ist die Qualität der Dinge wichtig. Folgende Marken kann man bei ihm finden: Sony Ericsson, Logitech, ASUS, Microsoft und WarCraftIII. Markenkleidung ist uninteressant. Wichtig ist, dass er „normal, halt ordentlich“ gekleidet ist. Spezielle Marken sind ihm gänzlich unbekannt. [ H A N D L U N G S S T R A T E G I E N ] „Mir ist es sehr wichtig, was ich später mache.“ Die Konzentration auf seine Zukunft ist Hauptantrieb und Ursache für Georgs Handeln: Leistungsdruck, Selbstkontrolle, Zurückstellen eigener Bedürfnisse und stetige Selbstbestätigung werden benutzt, um die erfolgreiche Positionierung im Niveaumilieu zu verwirklichen. Ähnliche Produkte wie sein Umfeld zu besitzen heißt, Auffälligkeiten, die eventuell Schwierigkeiten auf dem Weg zum Erfolg bedeuten, zu vermeiden. Design ist aber ebenso Mittel der Zugehörigkeit.

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GEORG

»Ich kann gar nicht schlecht werden. Das geht einfach nicht.«


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BEOBACHTUNGEN


8 Laura & Christoph –

EINE BEOBACHTUNG UND ANALYSE von Alex Dollinger, Stephan Hofinger, Natalja Kornilowa, Yella Katharina Schaube, Jennifer Tix


ILLUSTRATION Natalja Kornilowa


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Laura ist 16 Jahre alt und lebt seit 9 Jahren im Heim. Ihre Eltern leben getrennt. Sie hat eine Schwester, zu der sie – wie auch zur Mutter – keinen Kontakt mehr pflegt. Ihre Mutter ist arbeitslos, ihr Vater Frührentner und Analphabet. Laura besucht ein pädagogisches Förderzentrum, um ihren Hauptschulabschluss zu erreichen und plant, im Anschluss eine Lehre zur Köchin zu beginnen. Im späteren Verlauf ihres Lebens möchte sie eine eigene Familie gründen. Besonderes Interesse hat sie am Kochen, Singen, Lesen und Malen. Sie feiert gern mit ihren Freunden und hat ein sehr enges Verhältnis zu ihrer besten Freundin. In der Gruppe hört Laura vorrangig HipHop, Techno und House. w

[ M O R A L I S C H E H A L T U N G ] Laura zeigt ein starkes Verlangen nach Konformität und steht in einem Abhängigkeitsverhältnis interpersoneller Erwartungen und Beziehungen. Ihre moralische Haltung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Gut ist es, eine gute (nette) Rolle zu spielen, sich um andere zu kümmern, sich Partnern gegenüber loyal und zuverlässig zu verhalten sowie bereit zu sein, Regeln einzuhalten und Erwartungen gerecht zu werden. [ P E R S Ö N L I C H K E I T S F I N D U N G ] Laura trat im Gespräch sehr offen, ehrlich und direkt auf. Sie hinterlässt in erster Linie einen sehr erwachsenen und verantwortungsvollen Eindruck und reagiert bei emotionalen Themen sehr souverän, antwortet kontrolliert und bedacht. Während sie früher extremen

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GRUPPE 08 – Alex Dollinger Stephan Hofinger Natalja Kornilowa Yella Schaube Jennifer Tix

LAURA

Jugendgruppierungen wie z.B. der Gothic- und Emo-Bewegung angehörte, reflektiert sie heute über diese Erfahrungen nach einer konservativen Gesellschaftsmeinung. Laura beschreibt diese Phase als Fehler und zeigt keinerlei Verständnis mehr. „Das ist eine Kultur für sich. Die sind völlig durchgeknallt.“ Laura ist nie allein zu Gruppentreffen gegangen und distanziert sich deutlich von deren Provokationsversuchen. Aufzufallen war ihr immer unangenehm. Das zur Schau stellen von Emotionen versteht sie als Zeichen der Schwäche. „Und die fangen gleich an zu heulen, Gott sei Dank bin ich nicht ganz so schlimm.“ Sie spielt eine selbstbewusste und gestärkte junge Frau, zeigt aber eher geringe Selbstachtung. Sie findet sich zu dick und bezeichnet sich selbst als „verblödet“. Deutlich wird die Scham gegenüber ihrem Bildungsstand. Sie besucht ein Förderzentrum zum Erreichen des Hauptschulabschlusses. Ihre Verlegenheit wird an der leiser werdenden Stimme sowie ihrem ausweichenden Blick deutlich. [ O B E R F L Ä C H E N ] Über die Wahl der Kleidung versucht sie, ihre Schwächen zu kaschieren. Ed Hardy spielt dabei als Marke die tragende Rolle. Mit den üppigen Darstellungen vom Tod, gepaart mit floralen Mustern, suggeriert Laura Stärke und Härte. Sie trägt die Botschaft nach außen, dass ihr das Leben längst nichts mehr anhaben kann. Obwohl sie die Einzige in ihrem Freundeskreis ist, die diese Marke trägt, spielt der Ausdruck von Individualität eine untergeordnete Rolle. Es ist kein Streben nach Dominanz erkennbar. Im Mittelpunkt steht der gemeinsame Stil mit der Bezugsadresse NewYorker, der Integrität und Gruppenbewusstsein nach außen trägt. Mit Rock und Leggings, langen Shirts für Mädchen oder Picaldi-Hosen für Jungs wird die Gruppenzugehörigkeit definiert. Während NewYorker für Leichtigkeit und Spaß bei Kindern und Jugendlichen steht, lehnt Laura das sich selbstdarstellende, zu intellektuelle Klientel von H&M ab. Dieses sucht den Ausdruck von Individualität und Selbstverwirklichung. Sie hingegen scheint in ihrer gesellschaftlichen Rolle resigniert. Auf Grund ihrer geringen ökonomischen Möglichkeiten spielen weitere Marken kaum eine Rolle. Oft greift sie bewusst auf

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LAURA

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No-Name-Produkte zurück, da diese durch das Preis-Leistungsverhältnis überzeugen und sie von der Qualität der Markenprodukte enttäuscht wurde. Nur bei der Marke der Zigarette antwortet sie klar mit „Pall Mall und JPS (John Player Special), weil die alle bei uns rauchen.“ [ Z I E L S E T Z U N G ] Sie definiert einerseits klare und sehr realistische Ziele von Schulabschluss und Berufsausbildung zur Köchin, vermag aber keine Hoffnung an eine gehobene Position mit Verantwortung verschwenden. Auch Träumereien von einer Gesangskarriere wurden verworfen. Sie akzeptiert die Orientierung der Gesellschaft an Leistung und Erfolg. Ihr oberstes Ziel ist es, im Gegensatz zu ihren Eltern ohne staatliche Unterstützung ihr eigenes Leben bestreiten zu können und eine „richtige“ Familie zu gründen. Ihr Streben nach der bürgerlichen Mitte begründet sich in ihren Familienverhältnissen die von Drogenkonsum, Analphabetismus und langer Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sind. [ Z W I S C H E N M E N S C H L I C H K E I T ] Seit 9 Jahren lebt Laura im Heim. Zu ihrer Mutter hat sie keinen und auch zu ihrem Vater besteht nur spärlicher Kontakt: zwei bis dreimal im Halbjahr. Die Verachtung gegenüber ihrer Mutter bringt Laura deutlich zum Ausdruck. „Ich hasse sie und wünsche ihr alles Schlechte dieser Welt. Ich möchte alles besser machen als meine Eltern.“ Aufgrund ihrer bindungslosen Familienverhältnisse, projiziert sie den Wunsch einer Ersatzfamilie auf ihren Freundeskreis – im Besonderen auf ihre beste Freundin. Ihr Taschengeld gibt sie zum größten Teil für ihre Freundin aus. Auch Lauras Besuche im Freizeitzentrum basieren auf dem Wunsch, ständig nah bei ihrer Freundin zu sein, die dort ihr Praktikum absolviert. Schmunzelnd stellte sie fest: „Mir fällt gerade auf, wie vernarrt ich eigentlich in sie bin.“ Die zeitliche sowie materielle Aufopferung ihr gegenüber erfüllt den Zweck einer noch stärkeren Bindung. Teilweise übernimmt sie die Mutterrolle und zeigt sich sehr solidarisch. Weitere Freunde hat sie ausschließlich über ihre beste Freundin kennen gelernt. Laura hat eine desillusionierte Vorstellung von Beziehungen.

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LAURA

Sie geht nicht davon aus, dass diese Freundschaft ewig halten kann, möchte sich den Namen ihrer Freundin dennoch tätowieren lassen – ein Andenken an die „schönste Zeit meines Lebens“. Ihr Wunsch nach Bindung, Familie, Geborgenheit und Treue zeigt deutlich die Verankerung im Harmoniemilieu (nach G. Schulze). Sie befindet sich in einem Schwebezustand zwischen Kind- und Erwachsensein. Zwischen ihrem eigenen Verantwortungsgefühl und ihrer Ernsthaftigkeit (z.B. bzgl. ihrer Berufswahl) und den „Sauforgien und Komatagen“ in ihrem Freundeskreis hin und her gerissen, kommt es zu einer Kollision der Gruppenmoral mit den eigenen gesellschaftskonformen Zielen. „Sei vernünftig! Sei spielerisch!“ Für Laura erfüllt Design nicht den Zweck einer Selbstverwirklichung, sondern besitzt Unterhaltungswert und fungiert vornehmlich als Stimmungsregulator und Mittel zur eigenen Identifikation mit einer Gruppe.

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»Ich hasse sie und wünsche ihr alles Schlechte dieser Welt.«


CHRISTOPH

»Kinder möchte ich am besten gar keine haben.«

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CHRISTOPH


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Christoph ist 14 Jahre alt und besucht die siebte Klasse einer Realschule. Die meiste Zeit verbringt er mit Freunden, Familie oder am Computer. Zu seinen Interessen gehören neben Kung-Fu, Musikhören oder Lesen auch Mathematik, das gleichsam seine schulische Stärke und womöglich eine zukünftige Profilierung darstellt. Er geht gerne bei H&M einkaufen, nutzt Unterhaltungselektronik von Samsung und träumt von teuren Sportwagen. Christoph lebt gemeinsam mit der Mutter und einer jüngeren Schwester in Berlin-Kreuzberg. Seine Eltern leben getrennt. Der Vater wohnt derzeit nicht in Berlin, stammt aber ursprünglich aus Berlin-Zehlendorf. Hier leben Christophs Oma und Tante, zu denen er regelmäßigen Kontakt pflegt, weil er hier zur Schule geht. Auf die Gründe, weshalb er nicht in Kreuzberg, sondern in Zehlendorf, also am anderen Ende der Stadt, die Schule besucht, geht Christoph nicht weiter ein. Auch sonst zeigt er sich im Verlauf des Interviews ziemlich reserviert, versucht die Fragen möglichst schnell und kurz zu beantworten. Man hat oft den Eindruck, dass er sich die Antworten kaum überlegt und wenig Lust verspürt, eine Unterhaltung zu führen. Oft verhält er sich so, als hätte er Angst, etwas Falsches zu sagen, oder zu viel zu verraten über Dinge, die ihn oder seine Umwelt betreffen. „Keine Ahnung, weiß ich nicht.“ Das Gespräch ist für ihn wohl mehr eine Pflicht, die er nun durchzustehen und zu ertragen hat. Ähnlich scheint seine Haltung auch in anderen Lebensbereichen zu sein. Er akzeptiert die Begebenheiten, wie sie gerade eben sind, ohne größere Begeisterung oder Ablehnung. „Es ist halt so, damit muss ich mich abfinden.“ Ob es nun das Verhältnis zu seiner Mutter ist oder seine Hobbies, alles ist irgendwie „Ok“. Als ob er nur darauf warten würde, sein Leben endlich selbst in die Hand nehmen zu können und nicht länger den Vorstellungen der Mutter und der Familie gefallen zu müssen. Doch wie seine persönliche Lebensplanung genau aussieht, vermag er nicht zu beschreiben. Einen Traum verrät er aber, nämlich, dass er sich irgendwann einen Lamborghini kaufen möchte. Ernst klingen diese Worte nicht, und Christoph gibt zu verstehen, dass das wirklich eher ein Wunschtraum ist, denn ein Ziel. w

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GRUPPE 08 – Alex Dollinger Stephan Hofinger Natalja Kornilowa Yella Schaube Jennifer Tix

CHRISTOPH

[ W E R T E S Y S T E M ] Als Jugendlicher hat Christoph nur wenig Möglichkeiten, sein Leben so zu bestimmen, wie er es gerne hätte. Er ist somit in ein Wertesystem eingebunden, das er zwar mitträgt, mit dem er sich aber nicht wirklich identifiziert. Seine soziale Rolle als Sohn, Schüler und Freund spielt er im Sinne der allgemeinen Erwartungen mit. Verantwortungsvoll geht er den häuslichen Pflichten nach und unterstützt seine Mutter bei ihrer Arbeit, der Zucht einer teuren Katzenart. „Ja, ich sehe auch nach den kleinen Kätzchen und pflege sie… Aber selber möchte ich keine haben!“ Den Unternehmungen mit der eigenen Familie und der Familie des Vaters entzieht er sich zwar nicht, zeigt aber auch wenig Begeisterung dafür. Die familiären Verpflichtungen sind mehr ein externer Einfluss auf ihn, denn persönliche Hingabe. Gerade die Beziehungen auf dieser Ebene scheinen ein Maß an Frustration und Ernüchterung hinterlassen zu haben, welches ihn zu dem Entschluss kommen ließ, dass er selbst später keine Familie gründen will. In der Zukunft sieht er sich am liebsten frei von Pflichten dieser Art und ungebunden. „Kinder möchte ich am Besten gar keine haben.“ Er will möglichst wenig Verantwortung übernehmen. Vielmehr strebt er die Befriedigung seiner Bedürfnisse an, zählt auf beruflichen Erfolg und die Möglichkeit, eines Tages alles hinter sich zu lassen. Eine Haltung, die deutliche Parallelen zum Unterhaltungsmilieu (nach G. Schulze) mit einem Hang zur Selbstverwirklichung zeigt. [ U M W E L T ] In seinem Freundeskreis scheint er sich sehr wohl zu fühlen. Er genießt die Freundschaft älterer Jungendlicher und fühlt sich durch die Gruppe geschützt. Im Gespräch verrät Christoph, dass er schon zu Grundschul-Zeiten viele Erfahrungen mit Gewalt in seinem Bezirk machen musste. Ansonsten recht emotionslos, wirkt der Junge bei diesem Thema sichtlich bewegt und unruhig. Er sei oft darauf angewiesen, in der Gruppe unterwegs zu sein, weil man sich als Einzelner in bestimmten Situationen nur schlecht behaupten kann. Die Gruppe dagegen suggeriert Stärke, bietet Schutz. Sie erfüllt eine gewisse Zweckmäßigkeit, hat, ähnlich der Familie, eine Aufgabe in seinem Leben. Die eine Hand wäscht die andere.

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CHRISTOPH

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Gewalt ist ein schmerzhafter, doch wichtiger Punkt in Christophs Leben. Er betreibt seit einem halben Jahr drei mal die Woche Kung-Fu. Und obwohl er das anfangs rein als sportliche Aktivität darstellt, gibt er zu, dass es hierbei auch um Demonstration von Stärke und Dominanz geht. Denn gerade außerhalb der Gruppe ist das Individuum schutzlos. Daher ist es wichtig, zeigen zu können, dass man sich nicht unterkriegen lässt. Es ist gut, stark zu sein, denn Stärke macht dich freier. Die ideologische Grundlage bieten hierfür Texte und Lebenswege von HipHop-Musikern, wie in Christophs Fall Sido. Sie singen von Coolness, Glamourgirls, protzendem Auftreten und teuren Sportwagen, suggerieren damit Unantastbarkeit und Stärke. Die Musiker sind mit ihren Aussagen sehr nah an Wunschbildern der Fans, haben selbst ähnliche Erfahrungen in ihrem Leben gemacht und finden somit Anklang bei Jugendlichen. [ G E S C H M A C K ] Durch seine Erfahrungen und Umwelt geleitet offenbart Christoph ein etabliertes Markenbewußtsein, welches er zwar selten begründen kann, das aber unterschwellig immer wieder aufkommt. So zieht er z.B. ganz klar einen Lamborghini einem Ferrari vor, gibt Adidas, welches von der Mutter bevorzugt wird, gegenüber Nike keine Chance und achtet im Bereich der Unterhaltungselektronik sowohl auf Optik als auch Zuverlässigkeit. Gerade als MacBook-Nutzer zeigt Christoph sichtlich Interesse an weiteren Apple-Produkten und macht deutlich, dass ein Windows-PC für ihn nicht in Frage käme. Hierbei betont er die zuvorkommende Bedienung von Apple und bezeugt seine Begeisterung für das schlichte Design. Er probiert selten neue Dinge aus. Und wenn eine Marke ihn überzeugt hat, dann bleibt er dabei. Design dient Christoph maßgeblich zur Selbstdarstellung. Zwar setzt er sich selten bewusst mit den Marken auseinander, dennoch sind in seinen Vorlieben klare Linien zu verzeichnen. Dabei herausragend sind Symbole der Stärke, sowieso demonstrative und durch ihre Auffälligkeit herausfordernde Objekte.

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ILLUSTRATION Yella Schaube



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BEOBACHTUNGEN


9 Stephan & Julian –

EINE BEOBACHTUNG UND ANALYSE von Luisa Burow, Franz Dietrich, Joschko Hammermann, Sebastian Voigt, René Wach, Björn Zühlsdorf


ILLUSTRATIONEN René Wach


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Stephen ist 17 Jahre alt und wohnt in einer gut situierten Wohngegend am Stadtrand von Berlin. Er lebt seit einigen Jahren bei seinem Ziehvater. Seine Mutter ist tot, über den leiblichen Vater hat er keine Informationen. Er kam noch zu Lebzeiten seiner Mutter auf eigenen Wunsch über das Jugendamt zu seinem Ziehvater. Momentan ist er arbeitslos. Seine Ausbildung zum Fachinformatiker wurde abgebrochen. w

[ D E R P A R T Y M A C H E R ] Stephens Kleidungsstil ist der Hip-HopKultur zuzuordnen. Er kleidet sich allerdings nicht mit den teuren Marken ein, sondern kauft „Noname“-Varianten in Läden wie zum Beispiel NewYorker. Seine Freunde tragen exakt die gleiche oder ähnliche Kleidung derselben Preisklasse, was ihn nicht stört, sondern eher bestärkt. Beispielsweise mit dem Kauf einer Lederjacke setzte Stephen sogar neue Trends innerhalb der Gruppe. Durch Nachahmungen seiner Freunde findet er Bestätigung und Sicherheit. Damit ist er „besonders“ und erfolgreich in der Gruppe, zugleich aber auch solidarisch. Hätte er das Geld für teurere Kleidung, könnte das anders sein. Zu vermuten ist, dass Stephen innerhalb der Gruppe die Markenorientierung vorgibt, den Status Quo jedoch in der preislichen Orientierung findet. Die Frage, ob er in seiner Lederjacke eine Verknüpfung zur Rock‘n-Roll-Kultur sieht, verneint er. Er verbindet sie eher mit jungen Türken. Zu denen möchte er aber nicht gehören. Offenbar fühlt er sich in der Lederjacke sicher. Sie strahlt für ihn Stärke aus, wie er sie bei den jungen Türken vermutet. Weitere kommunikativ auffällige Kleidungsmerkmale sind seine Kette, Uhr und Ringe in Silber. Stephen spielt ihre Bedeutung allerdings herab, indem er sie als Geschenk deklassiert und darauf verweist, dass seine Freunde ebenfalls solchen Schmuck tragen. Auch dieser wird sicherlich mit Status und Stärke verbunden, festigt aber gleichzeitig auch die Gruppenzugehörigkeit. Seine Rolle sieht Stephen als Anführer der Gruppe. „Der Party- und Spaßmacher, der Problemlöser und das Organisationstalent“. Für diese Position gibt es allerdings keine äußerlichen Zeichen. Er bekommt diese Eigenschaften von anderen zugeschrieben und kann sich mit ihnen identifizieren. Sie weisen auf seine kommunikativen, sozialen und kreativen Fähig-

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GRUPPE 09 – Luisa Burow Franz Dietrich Joschko Hammermann Sebastian Voigt René Wach Björn Zühlsdorf

STEPHEN

keiten hin. Und sie zeigen ebenso seine Erfolgs-, aber auch seine Lustorientierung. Während seiner Ausbildung hat Stephen die Schule einige Male zurückgestellt und die Lernzeit für Freunde geopfert, bis er wegen schlechter Noten von der Schule verwiesen wurde. Allerdings gibt es für ihn eine klare Grenze zwischen Schwänzen und Fehlen. Schwänzen hieße, man wäre fit und ginge aus Lustlosigkeit oder Trotz nicht in die Schule. Dies will er sich jedoch nicht eingestehen und sagt, durch Krankheiten oder Sonstiges verhindert gewesen zu sein. Eine sonstige Verhinderung wäre zum Beispiel das Feiern am Vortag und das daraus resultierende Fehlen wegen Übelkeit am nächsten Tag. Er ist sich sicher, dass Verständnis vorhanden sein muss, wenn er wegen körperlichem Unwohlsein fehlt. Den Fakt, dass das Feiern der Auslöser für seine Übelkeit war, blendet er völlig aus. Dieser Selbstbetrug resultiert aus seinen Ansprüchen an sich selbst: Sein größter Traum ist, später ein geregeltes und glückliches Familienleben zu führen. Er weiß, dass er dafür seine Ausbildung abschließen muss und sich solche Fahrlässigkeiten eigentlich nicht leisten darf. Einen neuen Ausbildungsplatz zu bekommen, nimmt daher einen hohen Stellenwert bei ihm ein. Trotzdem schiebt Stephen die Verantwortung für seine berufliche Zukunft weiter von sich und wartet auf Hilfe seitens des Arbeitsamtes. Körperliche Reaktionen auf diesbezügliche Fragen zeigen seine Unsicherheit. Momentane Erfolgserlebnisse erzielt er aber im Freundeskreis. Bei persönlichen Problemen seiner Freunde reagiert er sehr ernsthaft und entschlossen. Er hilft zum Beispiel bei Fragen und Angelegenheiten mit dem Jugendamt. Dabei sieht er den Kontakt mit dem Jugendamt als ein „normales“ Problem an. Er versteht sich quasi als Manager seiner Kumpel in Sachen Jugendamt. Stephen hat, wie in der Hip-Hop-Kultur üblich, ein dominant-männlich ausgerichtetes Rollenbild. Das lässt sich teilweise aus den im männlichen Freundeskreis relevanten Themen schließen. Neben Sport beschäftigen sie sich viel mit digitalen Spielen. Besonders die „Baller“-Spiele kennzeichnen das Erfolgsstreben und das technische Interesse. Wenn auch nur im Virtuellen, präsentieren sie hier Risikobereitschaft, Angriffslust und auch die Fähigkeit, einen kühlen Kopf zu bewahren. Eine große Rolle spielen auch Mädchen.

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STEPHEN

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Stephen äußert sich sporadisch zur Wichtigkeit der Kleidung von Mädchen. Sie sollte körperbetont, feminin und spielerisch, aber nicht zu auffällig sein. Hier zeigt sich eine gewisse Zurückhaltung (sexy, aber auch keusch). Starke Abgrenzung offenbart sich zum eher metrosexuellen Erscheinungsbild der Emo-Kultur. Er möchte nicht wie die „Emos“ gekleidet sein und auch keine völlig bunte Kleidung tragen. Er möchte nicht auffallen und nicht als weich erscheinen. Lieber trägt er mal einen Anzug. Mit ihm könnte das Erwachsene, Erfolgreiche und Ernstzunehmende assoziiert werden. Stephen hört ausschließlich Hip-Hop-Musik, besucht aber mit seinen Freuden keine Konzerte. Er gibt vor, einfach keinen „Bock“ zu haben. Seine unsichere Körpersprache gibt aber Anlass zu einer anderen Vermutung: Er kann sich teure Konzertbesuche nicht leisten. Doch er möchte vor der Gruppe nicht zeigen, dass er Probleme mit seinem Geldmangel hat. Vielmehr versucht er sich selbst und den anderen vorzugaukeln, dass er diese Aktivitäten nicht braucht. Diesen Selbstbetrug kann er aufrecht erhalten, weil er eine führende Rolle in der Gruppe inne hat. Er kann entscheiden, was „angesagt“ ist und wählt die Computer- und Konsolenspiele. Dass sich Freunde beim Kauf von ihm beraten lassen, bestätigt seine Position. Das gemeinsame Spielen ist bis auf den Anschaffungspreis kostengünstig. Da er in einer gut situierten Wohngegend lebt, ist anzunehmen, dass mehrere seiner Freunde Konsolen besitzen. Auf die Frage, mit welchen Konsolen sie spielen, zählt er zügig XBox, Nintendo und Sony Playstation auf. Damit zeigt er, „up to date“ zu sein. Im Mittelpunkt steht die Beziehung zu seiner Freundin. Sie nimmt eine enorm wichtige Rolle ein. Hier findet er Glück im Familiären und könnte sich eine gemeinsame Zukunft mit Kindern vorstellen. Deutlich wird aber auch der starke Einfluss seiner Freundin zum Thema Kinder und Wohnsituation. Sie äußert des Öfteren den Wunsch nach Haus und Kind. Er selbst könnte sich momentan auch noch eine eigene Wohnung vorstellen. Eine eigene und glückliche Familie ist ihm auf Grund seiner durchwachsenen Kindheit sehr wichtig. Die damit verbundene Verantwortung lässt sich jedoch noch nicht erkennen, obwohl ihm die Zusammenhänge für ein geregeltes Leben im Sozialen oder Finanziellen klar zu sein scheinen.

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CHRISTOPH

»Er möchte nicht wie die Emos gekleidet sein.«

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STEPHEN



ILLUSTRATIONEN René Wach


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Julian ist 17 Jahre alt und wohnt zusammen mit seiner Mutter in einer gut situierten Häusersiedlung am Rand von Berlin, abgeschirmt vom hektischem Großstadtrummel. Er steht kurz vor seinem Schulabschluss und wartet darauf, dass eine seiner zahlreichen Bewerbungen im Bereich Möbeltischlerei Früchte trägt. Seine Mutter ist Chemikerin. Julians Vater ist vor einigen Jahren verstorben. Das große Erbe, das der Vater hinterließ, beinhaltet neben finanziellen Mitteln auch die gleichberechtigte Teilung des Hauses zwischen Mutter und Sohn. Julian hat noch einen großen Bruder, der in Großbritannien bei einem IT- und Beratungsunternehmen arbeitet. Arbeitsbedingt ist der immer seltener zu Hause bei seiner Familie. Julian ist der Kontakt zu seinem Bruder trotz der Entfernung wichtig. Daher kommunizieren sie regelmäßig über das Internet.

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[ E I N E E I G E N E W E L T ] Julians Welt ist recht klein gehalten. Sie dreht sich um die Schule, den beruflichen Werdegang und um eine wöchentlich stattfindende Volleyballrunde. Am wichtigsten ist allerdings sein Freundeskreis, mit dem er viel Zeit verbringt. Die meiste Freizeit investiert Julian jedoch in den Bau eines Kettcars. Ein gemeinsames Projekt mit seinem Kumpel Daniel und dem bereits interviewten Stephen. Obwohl Daniel das Grundgerüst des Kettcars besorgt hat, ist Julian der Hauptgeldgeber des Projektes. Angefangen bei den Werkzeugen, die zum Bau benötigt werden, bis hin zu allen erforderlichen Einzelteilen: wenn es um die Bezahlung geht, greift Julian in die Tasche. Eingangs behauptet er, selbst Anführer des Projektes zu sein, gesteht jedoch später, dass er nur der Finanzier ist. Es steht aber auch der Bau eines zweiten und dritten Gefährts in Planung. Dann würde auch Julian ein Kettcar sein Eigen nennen können. Man merkt ihm schnell die Wichtigkeit des Kettcarprojekts an. Einerseits findet er darin Selbstverwirklichung im handwerklichen Arbeiten und andererseits festigt das Projekt seine Stellung im Freundeskreis. Ein Freundeskreis, dem er zeitgleich mit dem Versterben seines Vaters beigetreten ist. Er selbst beschreibt seine Funktion in der Gruppe als Problemlöser. Andere Rollenidentifikationen schreibt er sich selbst

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GRUPPE 09 – Luisa Burow Franz Dietrich Joschko Hammermann Sebastian Voigt René Wach Björn Zühlsdorf

JULIAN

nicht zu. Bei allabendlichen Treffen mit seinen Freunden im Park wird relaxt, und dazu werden „Mix-Bierchen“, Wodka oder auch Cocktails getrunken. Gespräche über Liebe, das Vorankommen des Kettcarprojektes und aktuelle Themen aus dem Bereich Sport werden ausgiebig diskutiert. Musikalische Untermalung kommt dabei aus der Musikanlage des Kettcars. Die Klänge wandern zwischen Hip Hop und Hardstyle Shuffle. Julians Kleidungsstil ist nicht durch Markenbewusstsein geprägt. Er überlässt die Wahl der Klamotten lieber seinem Kumpel Daniel. Ihm schenkt er Vertrauen und ist sehr überzeugt, dass dessen Geschmack den Vorstellungen der Gruppe entspricht. Julian interessiert die preisliche Spanne seiner Kleidung nicht. Seine finanziellen Mittel scheinen schier unbegrenzt. Er kauft das, was die Gruppe akzeptiert, egal, was es kostet. Julian nutzt seine finanziellen Mittel auch, um allgemeine Gruppenaktivitäten zu unterstützen. Sich selbst finanziert er nur in dem Maße, wie es auch die Gruppe könnte. Würde er sich teure Sachen kaufen, die sich die Gruppe nicht auch leisten könnte, würde er diese verprellen und seine Zugehörigkeit aufs Spiel setzen. Ein gutes Beispiel dafür ist seine Entscheidung beim Handy-Kauf. Statt eines iPhones, welches er sich ohne Weiteres leisten könnte, kauft er sich lieber ein Sony Ericsson. Das liegt im finanziellen Rahmen der Gruppe, zwar im oberen Segment, aber dennoch erschwinglich. Dass Julian das Handy spontan und ohne Vertrag gekauft hat und somit am Ende mehr Geld ausgeben musste, brauchen die anderen nicht zu wissen. Julian ist fest davon überzeugt, sich mit den finanziellen Mitteln seine Freundschaften zu den anderen nicht zu erkaufen. Er gibt zwar öfter einen aus, glaubt aber fest daran, von den anderen geliehenes Geld wiederzubekommen. Sein naiver Umgang mit Geld zeigt sich auch darin, dass er seine Freunde, sobald die Mutter ausgezogen ist, umsonst im Haus wohnen lassen möchte. Das würde ihm einen noch stärkeren Halt in der Gruppe verschaffen. Nahezu blind verfolgt er dieses romantische Bild von Gemeinschaft und übersieht völlig, dass ein Haus auch laufende Kosten hat. Dass er diesen finanziellen Mehraufwand so außer Acht lässt, zeigt, wie fixiert er auf die Zugehörigkeit in der Gruppe ist.

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JULIAN

Julians ganzes Wesen ist nicht besonders individualistisch ausgeprägt. Ihm geht es um das Gemeinwohl der Gruppe und seine gefestigte Rolle in dieser. Er will nicht zwingend hervorstechen. Akzeptanz hat die höchste Priorität. Seine feste Integration in der Gruppe ist schon Befriedigung genug. Trotz einer gesunden Einstellung zur Realität, dem beruflichen Werdegang und der Arbeit, die dahinter steckt, dieses zu erreichen, lebt er fühlbar in einer eigenen Welt. In dieser fungiert ein Reihenhaus wie ein Baumhaus, und ein Kettcar wird zu einer phantasievollen Variante eines Autos hergerichtet, dient somit als Symbol für Freiheit.

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»Er kauft das, was die Gruppe akzeptiert,egal was es kostet.«

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STEPHEN


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TITEL

Gut & Böse Moralische Dimensionen von Design bei jungen Menschen

HERAUSGEBER

Rainer Funke, Harry Hermanns, Matthias Schreckenbach

REDAKTION

Rainer Funke, Harry Hermanns, Matthias Schreckenbach, Andy Wilke

LAYOUT

Andy Wilke

DRUCK

Brandenburgische Universitätsdruckerei & Verlagsgesellschaft Potsdam mbH

SCHRIFTEN

TheSans Mono Condensed, TheSerif & Floris, Großer Dank an Luc(as) de Groot

PAPIER

Papier Union: Bilderdruck matt 300 g/m2 und 135 g/m2

ISBN

3-934329-48-9

BESTELLUNGEN

Über die Fachhochschule Potsdam, Pressestelle, Postfach 60 06 08, 14406 Potsdam; presse@fh-potsdam.de

WEB

http://design.fh-potsdam.de/forschung/publikationen.html

RECHTE

Texte und Bilder in Verantwortung der Autoren des jeweiligen Beitrags

Gut&Böse: moralische Dimensionen von Design bei jungen Menschen / Hrsg. Rainer Funke, ... - Potsdam: Brandenb. Univ.-Druckerei & Verl.-Ges., 2011. 144 S.; 62 Ill. ISBN 3-934329-48-9


IMPRESSUM


Welche Moral steckt in den Dingen des Alltags? Seit jeher nutzen Menschen die Alltagsgegenstände nicht nur zum reinen praktischen Gebrauch, sondern auch zur moralischen Selbstvergewisserung. Moralische Positionen werden so für andere Menschen erkennbar, deutbar. In welcher Weise junge Menschen aus verschiedenen Milieus ihre moralischen Grundsätze an die Gestalt von Gegenständen knüpfen, wurde im Rahmen eines Seminars an der Fachhochschule Potsdam im Sommersemester 2010 unter der Leitung des Designtheoretikers Rainer Funke sowie der Sozialwissenschaftlern Harry Hermanns und Matthias Schreckenbach untersucht. Neun studentische Teams haben insgesamt 19 Jugendliche aus Berlin und Potsdam im Alter zwischen 13 und 18 Jahren befragt, von den Befragungen Videoaufzeichnungen angefertigt und diese ausgewertet. Die Ergebnisse sind hier dokumentiert. ISB N 3-934329-48-9


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