VON WILDEN MANNEN, MÄCHTIGEN FEEN UND FIESEN ZWERGEN

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VON WILDEN MANNEN, MÄCHTIGEN FEEN UND FIESEN ZWERGEN Ein vergnüglicher Streifzug durch die Bündner Sagenwelt in Bild und Wort

Textredaktion: Andrin Schütz | Künstlerische Umsetzung: Patrick Devonas | Herausgeber: culturAlpina


Inhalt


Vorwort Mit auf den Weg I

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Saftige Wiesen, junge Burschen und mächtige Feen: Eisige Zeiten für fruchtbare Alpen

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Madrisa 22 Canzun da Sontga Margriata 26 Il glatscher dil Vorab 32 En Gschichti us em Doggiloch 36

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III

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Bäume, Bauch und Kohlen: Von wilden Mannen, freigiebigen Frauen und faulen Förstern

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Ds Wildmännli und dr Geissler Das Wildmännli von Conters Der Geissler Die wilden Frauen von Cavardiras Zweierlei Arbeiter

44 48 52 56 60

Zum Teufel: Von Spiegel, Stein und Zwerg

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Dr Tschaggajöri Dr Tüfelstein Das Zwerglein verrät seinen Namen

66 70 74

Wasser, Wein und Tod: Von Heiligen und Hexen

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Ein Trunk Wasser Der schwarze Mann auf der Wingertmauer Al Sass della Madonna Die Karfreitagshexe Die weisse Frau vom Canovasee

80 84 88 92 96

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Dr Häxatanz im Riedloch La detga dil Crap Fraissen Wenn man Hexen verwünscht Der Ritt auf dem Fuchs D Bäbihäx Die Wetterhexen Il totenvolgg

V

100 108 112 116 120 124 128

Gehöriges Jägerlatein und andere Schmunzeleien: Von Schnaps und Blumenkohl, Wurst und Schweinsöhrchen 133 Dus buttatschs cun egls 134 Die tanzenden Schweine 138 Die zwei Hexen 142 Katzen 146 Jägerlatein 150 Tuä nid nu Milch trichä 154 Einen Schädel im Beinhaus geholt 158 Las striemblas da saung vid il Crap da Flem 162

Quellennachweis 166 Biografie Patrick Devonas 170 Biografie Andrin Schütz 172 Dank 174 Impressum 176

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Vorwort


Verschwiegene Wälder, bevölkert von wilden Mannen und Frauen, nebelverhangene Gipfel, saftige Weiden und eisige Gletscher: Die alpine Natur bietet so manches Phänomen, das die Fantasie der Menschen, welche die Täler Graubündens, des Südtirols und des Montafon seit Jahrhunderten bewohnen, bis heute zu beflügeln vermag. Und so ist es kaum verwunderlich, dass im Laufe der vielen Jahre alpiner Zivilisation und Kultivierung des alpinen Raumes unzählige Geschichten und Legenden entstanden sind, die sich mit dem ebenso harten wie erquicklichen Leben, den typischen Charakteren und der nach wie vor ungebändigten Natur in den hiesigen Gefilden auseinandersetzen. All jene Geschichten – die Sagen, Legenden und Anekdoten, welche ebenso charakteristisch sind wie die Landschaft und die Menschen, die sie hervorgebracht haben, drohen in unseren Tagen immer mehr in Vergessenheit zu geraten und aus dem erzählerischen und dem kulturellen Alltag zu verschwinden. Das ist mehr als bedauerlich. Denn verschwinden unsere Geschichten, geht auch ein Teil unserer Geschichte und damit ein Teil unserer kulturellen, regionalen und lokalen Identitäten unter. Der Erhalt und die Weitervermittlung des erzählerischen Kulturgutes des Alpenraumes – vor allem auch an die jüngeren Generationen – ist ein wesentliches Anliegen des überregionalen Verbandes culturAlpina.org, des Projektes Alpensagen.ch und somit auch des vorliegenden Bandes. Das Buch wiederum ist keinesfalls als Werk mit wissenschaftlichem Anspruch zu verstehen, sondern vielmehr als freimütiger Streifzug durch die Bündner Sagenwelt zu lesen und zu sehen. Dieser ist im Rahmen des Ausstellungsprojektes «Alpensagen.ch» entstanden, das 2018 vom Bündner Maler Patrick Devonas und dem Publizisten Andrin Schütz initiiert wurde. Das Büchlein bildet somit den vorläufigen Abschluss des zweijährigen Ausstellungsreigens in Klosters, Disentis, Laax, der Lenzerheide, Chur und der Bündner Herrschaft, der von zahlreichen Workshops für Kinder und Jugendliche sowie diversen Lesungen, Anlässen und Erzählabenden rund um das alpine Kulturgut begleitet wurde.

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Besonderes Gewicht erhalten auf den nachfolgenden Seiten die grossartigen Malereien des Bündner Künstlers Patrick Devonas, der die Bündner Sagenwelt mit viel Sensibilität, enormem technischen Können, tiefem Ernst und zuweilen auch mit künstlerischem Schalk und Humor auf eine neue Weise sichtbar und zugänglich gemacht hat. Weiter wurde der Versuch unternommen, einige der in zahlreichen Dialekten überlieferten und deswegen teilweise schwer lesbaren Texte aus diversen Quellen durch Transkription für eine breitere Bevölkerungsschicht zugänglicher zu machen. In diesem Sinne sind auch die Transkriptionen als schwebende «Versuche» am lebendigen Material zu lesen, bestehendes Erzählgut in eine kommende Generation zu transportieren. Als Quellen und Grundlagen dienten unter anderen das monumentale Werk «Mythologische Landeskunde von Graubünden» von Arnold Büchli, erschienen im Desertina Verlag, «Die verzauberten Täler» von Christian Caminada, ebenso erschienen im Desertina Verlag sowie Texte aus dem «Goldbrünneli» von Jakob Vetsch. Andrin Schütz, Chur, im Februar 2020

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Mit auf den Weg


Kräuter, Würste, Blumenkohl und Wein: Eine kleine Einführung in die alpine Sagenwelt «Wilde Mannen, mächtige Feen und fiese Zwerge». So der Titel des vorliegenden Bandes. Die Rede ist auch von einem «vergnüglichen Streifzug durch die alpine Sagenwelt». Amüsant, hie und da heiter und unterhaltsam soll unsere Geschichten-Wanderung in der Tat sein. Und natürlich werden, wie eingangs versprochen, jene wilden Mannen, die mächtigen Feen, aber auch der Teufel, wilde Frauen, Heilige, Trunkenbolde sowie Vielfrasse, Hexen und viele der geheimnisvollen Gestalten mehr zu Wort kommen, welche unsere faszinierenden Talschaften bevölkern. Bei allem Vergnügen aber, das wir dem Leser wünschen, sei auch der Ernst der Sache nicht vergessen.

Die Aktualität von Geschichte und Geschichten – Sagen als gesellschaftskritisches Instrument Unsere alten Geschichten, die über die Jahrhunderte hinweg mit ebenso viel Ernst wie auch Schalk an langen Abenden und zu später Stunde erzählt wurden und noch immer erzählt werden, sind keinesfalls nur «Anekdoten». Vielmehr sind und waren sie seit jeher ein kritischer Spiegel der Gesellschaft, der menschlichen Natur und des Verhältnisses, welches der Mensch zur Natur pflegt. In diesem Sinne sind sie als Archetypen des lokalen und regionalen Kollektivs zu werten, welche den Menschen und seine Einbindung in einen grösseren gesellschaftlichen, historischen und naturgegebenen Kontext ebenso lebendig wie präzise auszuloten vermögen. Sagen sind somit unter anderem im Grunde genommen als ein beständig von Neuem modernes und vom Zeitgeist unabhängiges kulturkritisches Instrument zu verstehen. Zumal: Mit der Gesellschaft, ihrer Lebensweise und der fortschreitenden Technisierung und Digitalisierung mag sich zwar die Art und Weise der Erzählung ändern, die inhaltlichen und narrativen Kerngehalte bleiben in grossen Teilen – wie auch die Menschen selbst – stets dieselben. Es ist also kaum verwunderlich, befassen sich die althergebrachten Geschichten unter anderem mit Themen wie sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Ausgrenzung, moralischen sowie kirchlichen Strukturen, zwischenmenschlichem Umgang, dem Klima und der Verletzlichkeit der Natur. Das letzte, gerade in unseren Tagen wieder so aktuelle Thema ist denn auch der erste Schritt auf unserem Weg durch die Welt der alpinen und insbesondere der Bündner Sagen.

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Eisige Zeiten für fruchtbare Alpen: Die Verödungssagen Im ersten Teil unseres «Streifzuges» beschäftigen wir uns mit dem Typus der sogenannten Verödungssagen. Es sind dies Erzählungen, welche uns in wirkungsmächtigen Metaphern von der Verletzlichkeit der Natur und den Folgen menschlicher Einund Übergriffe berichten. In Analogie zu anderen Kulturkreisen sehen wir uns hier mit in Menschengestalt auftretenden Naturgöttinnen konfrontiert. Den Anfang macht die zarte Kräuterfee Madrisa aus dem Prättigau, gefolgt von der Sontga Margriata aus der Surselva. Ist die schöne Madrisa noch klar in der heidnischen Kultur verortet, zeigt die Sontga Margriata, wie der Name schon erahnen lässt, bereits christliche Züge. Die beiden Sagengestalten sind in diesem Sinne auch typisch für die häufige und historisch gewachsene Verflechtung von heidnischem und christlichem Kulturgut in unseren Breiten. In Thematik und Motivik ähnlich präsentiert sich auch die Geschichte über die Entstehung des Vorabgletschers. Allen drei Geschichten ist gemein, dass eine ungewollte Annäherung an die weibliche Sagengestalt – und damit ein Übergriff auf die Repräsentantin der Natur – eine unumkehrbare Verödung der fruchtbaren Alpen mit sich bringt. Derselben Thematik folgt in anderer Motivik die Sage vom «Doggiloch», in welcher der Typus des «wilden Mannes» zur Sprache kommt, der in Graubünden, aber auch beispielsweise im benachbarten Montafon als ebenso mächtiger wie kluger Beschützer der Natur fungiert und den Menschen für seine Handlungen wider die Natur fürchterlich bestraft. Exemplarisch für die Aktualität der Sage an sich mag hier wie andernorts die Tatsache sein, dass der aufgrund der Erzählung entstandene Flurname noch heute gebräuchlich ist.

Von wilden Mannen, faulen Förstern und freigiebigen Frauen Ein häufiger Typus der Sagengestalt im alpinen Raum sind die wilden Leute. Es sind dies Männer und Frauen, die gemeinhin als oft zwergenhafte menschenähnliche Naturwesen in Erscheinung treten. Sind sie auf der einen Seite scheu und führen ein ungestörtes Leben im Verborgenen, suchen sie zuweilen auch den Kontakt zum Menschen. Ist man ihnen freundlich gesinnt, tun sie Gutes, zeigen sich freigiebig und unterstützen die Talbewohner in der Alpwirtschaft. Missachtet man sie und die ihnen

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zugehörige Natur aber, rächen sie sich auf die eine oder andere Weise am Menschen. Typische Attribute im Speziellen der männlichen Vertreter der Spezies «Wildmännli» (im Rahmen der vielen kursierenden Schreibweisen wird hier diese gewählt) sind Schalk und List. Diese Eigenschaften zeigen sich unter anderem in den Erzählungen «zweierlei Arbeiter» sowie «Ds Wildmännli und der Geissler». Dass sie mit den Menschen nicht nur List, Humor und Rachegelüste gemein haben, sondern ihnen vielmehr auch Eigenschaften wie Hilfsbedürftigkeit und Eitelkeit zu eigen sind, manifestiert sich wiederum in den Erzählungen «Die wilden Frauen von Cavardiras» und «Das Wildmännli von Conters».

Zum Teufel: Spiegel, Stein und Zwerg Wer kennt es nicht, das Rumpelstilzchen: Es treibt auch in unseren Tälern sein Unwesen. Und wo fiese Zwerge verkehren, da ist oft auch der Teufel, der unablässig versucht, sich die Seelen der Menschen durch einen arglistigen Trick zu erkaufen, nicht weit. Aber manchmal genügt ja schon die Begebenheit des unschuldigen Kinderwunsches, sein eigenes Ebenbild im Spiegel zu erhaschen, dass der fürchterliche Seelenräuber auf den Plan gerufen wird.

Von Heiligen und Hexen Etwas komplexer wiederum gestaltet sich dieses Kapitel: Wir begegnen einerseits den ausgelassenen Hexentänzen, die zu nachtschlafender Stunde in finsteren und winterlichen Prättigauer Wäldern vonstatten gehen und jenen jungen Burschen, die sich in ihrem Übermut von unbekannten Schönheiten verführen lassen, zum Ungemach gereichen. Andererseits sehen wir uns mit dem gewichtigen Topos der Hexenverfolgung konfrontiert, die auch vor dem Kanton Graubünden keineswegs haltgemacht hat. Hier werden etwa die Tragik des plötzlichen Kindstodes, die Verurteilung alternativer Lebensweisen und Verleumdung zum tragenden Thema. Aber auch der oben erwähnte Übergang von Heidentum zu Christentum zeigt an dieser Stelle seine

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weiteren Ausprägungen: So begegnet einer gütigen Churerin an einem Sonntagvormittag der Herrgott persönlich, während die heilige Mutter Gottes im Bergell in der Zeit der Reformation mit Hexentattributen ausgestattet wird. Die Wetterhexen wiederum spinnen den alten Nornen gleich ihre Fäden, eine mächtige Glocke rettet das Dorf Laax und das geheimnisvolle Totenvolk zieht als schlechtes Omen durch die Surselva, die Bündner Herrschaft, das Prättigau und das Engadin.

Gehöriges Jägerlatein und andere Schmunzeleien Nachdem wir uns in einigen vorangehenden Kapiteln der ernsten Seite der Sagenwelt zugewandt haben, wenden wir uns zum Schluss dem entspannten Vergnügen zu: Wir erfahren, warum ein Fuhrmann plötzlich einen Kürbiskopf trägt, wie es dazu kommt, dass Schweine tanzen, und was es mit jenem Blumenkohl und der Jagd auf sich hatte. Mehr sei hier allerdings nicht verraten, und es bleibt zu wünschen, dass die Sagen, Legenden und Geschichten des alpinen Raumes auf die eine oder andere Weise auch bei nachfolgenden Generationen Gehör finden mögen. Apropos Ohren … aber mehr dazu auf den letzten Seiten dieser Publikation!

Andrin Schütz, Februar, 2020

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