Unmittelbarkeit der Empfindung - Transzendenz-Motive der Serie „Total Loss Room“ bei Fujiyo Matsuo

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Unmittelbarkeit der Empfindung Anmerkungen zu den Transzendenz-Motiven der Werkreihe „Total Loss Room“ der japanischen Malerin Fujiyo Matsuo Von Andreas Richarz Das Fenstermotiv als kunstgeschichtlicher Topos in Malerei, Fotographie, Literatur und Film ist so alt wie es diese Künste sind oder doch zumindest wie es Fenster gibt. Das Fenster steht im kunsthistorischen Kontext ähnlich wie die Tür symbolisch für einen Übergang, einen Durchgang, in philosophischer Hinsicht für eine Durchlässigkeit in Traumwelten, für eine metaphysisch-transzendierende Tiefenschicht, auch für Spiritualität. Das Fenster stellt eine Grenze, die einen Ort vor einem anderen markiert, einen Ort, der auch ein innerer sein kann, Schwelle zwischen Offenheit und Begrenztheit, Einsamkeit und Beziehungen, Unbekanntem und Bekanntem, Geborgenheit und Wildheit. Als Objekt der Sehnsucht ist das Fenster vor allem auch Symbol für die Sehnsucht nach Entgrenzung jedweder Art, nach Aufbruch in unbestimmte (und selbstbestimmte) Fernen. Die Antike und das Mittelalter und auch der Orient kannten ja bereits diesen Typus, auf den in der Skulptur und Malerei des 15. Jahrhunderts rekurriert und der in der deutschen Romantik wieder aufgenommen wurde. Den schon vom äußeren Holzrahmen eines Gemäldes her keimenden Eindruck, dass jedes gemalte Bild eigentlich ein Fenster ist, durch welches wir ein Stück Wirklichkeit sehen, verdoppelt das von außen oder innen gesehene Fenster als gemalter Binnenrahmen. In der Geschichte der Malerei waren Fensterbilder über die Jahrhunderte einer stetigen Wandlung unterworfen. Die Textur des Fensters in der Kunstgeschichte handelt also vor allem davon: Ein nicht Sichtbares, das ein Sichtbares werden könnte. Als geschlossenes Fenster ist es ein die Sicht versperrendes Artefakt, das noch das Neue, das Andere verhüllt, noch unsichtbar belässt, sei der Betrachterstandpunkt innen oder außen. Zeitlichkeit ist damit ebenso implizit enthalten wie Voyeurismus eine Rolle spielt. Ein Beispiel dafür finden wir in den Bildern “Nachtfenster” (1928) oder “Room in New York” (1932) von Edward Hopper, in denen er uns beide Male von außen in ein Feld vermeintlicher Intimität blicken lässt und uns damit in eine Malerei führt, die ein “Anhalten und Ausdehnen des Momentes“ evoziert, wie es der New Yorker Fotograf Joel Meyerowitz treffend beschreibt. Für die Fenster-Bilder Fujiyo Matsuos spielen diese anthropozentrischlebensweltlichen Sujets keine Rolle. Die genannten metaphorischen Unterscheidungen werden bei ihr nicht deutlich und die genannten Interpretationsangebote bleiben unzutreffend. Denn Fujiyo Matsuo kommt es nicht auf eine Artefakte-Malerei eines Beiläufigen an, die ihr Heil in ihrer symbolischen Aufladung sucht.


Doch wenn Hopper sagt: “Der Kern, um den der Künstler sein Werk errichtet, ist er selbst; es ist das zentrale Ich, die Persönlichkeit oder wie man es auch nennen will.“, so spricht er einen basalen Punkt an, der auch und insbesondere für die Malerei von Fujiyo Matsuo gilt: Ihre Fenster-Bilder bilden vor allem denjenigen Bezug zu ihrer eigenen Transzendierung als Künstlerin in und durch ihr Sujet. Und indem Sie eben nicht die Quelle sucht, welche zu den romantischen SehnsuchtsFensterbildern eines “Balkonzimmer” von Adolph Menzel (1845) oder der “Frau am Fenster” von Caspar David Friedrich (1822) führt, erfindet sie sich einen singulären Platz jenseits jener gegenständlichen Tradition, wenngleich noch einmal betont sei, dass die genannten Beispiele für großartige Versuche einer Verbindung immaterieller Phänomene mit positivistischer Wirklichkeitsdarstellung stehen, die unzweifelhaft auch eine mehr oder weniger unbewusste Ausgangsbasis für die Malerei Fujiyo Matsuos bilden. Fujiyo Matsuos Fenster-Quellen aber übersteigen diese Versuche, sie brechen mit einer romantischen und auch realistischen Malerei, sie lösen jenes “Anhalten und Ausdehnen eines Augenblicks“ in ein tieferes Erleben von Ewigkeit auf. Und dennoch stehen ihre Bilder in unserer postmortalen Postmoderne zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Gefolgschaft, die auch die religiöse Vorstellung vom Fenster als einer Metapher für die Schau in ein Jenseits seit der Deckenmalerei des Barock genreübergreifend immer wieder aktualisiert hat. Wir sagten es bereits: Jedes Bild ist ja im Grund ein Fenster, das sich zur Welt eines “Sichtbaren“ öffnet, auch wenn darin ein Irreales umfasst wird. Öffnung zum Draußen und zum Drinnen sein zu können, diese Ambivalenz und Dialektik des Fenster-Bildes hat auch der Surrealismus gleichsam programmatisch und gleichnishaft durchgespielt. Doch insofern ihre Fenster als ungegenständlich zu begreifen sind, korrespondieren sie bei Weitem mehr mit der post-painterly-abstraction des Pioniers Mark Rothko (den sie selber als einen der wichtigsten Einflüsse nennt), als mit den Meistern des 19. Jahrhunderts oder den Surrealisten. Fujiyo Matsuos Fenster-Bilder bilden weder Alltagsfenster unseres Zeitalters ab wie wir sie kennen und täglich öffnen oder schließen, noch spiegeln sie ein irgend geartetes physisch Figuratives wider. Sie sind eben keine naturalistisch-realistisch gemalten Fenster-Blick-Porträts, wie solche, die uns mitunter im Werk des großen amerikanischen Realisten Andrew Wyeth begegnen, mit dem Fujiyo Matsuo übrigens (und nicht zufällig) gemein hat, dass sie - wie er - meisterhaft die Dry-Brush-Technik zum Einsatz bringt. Licht und Schatten bei Fujiyo Matsuo Wir sagten Mark Rothko und in der Tat weist Matsuo darauf hin, dass sie vom Werk Mark Rothkos mehr als nur beeinflusst ist. Es ist eine Art empfundener Verwandtschaft, die sie immer wieder zu der Formensprache und dem Gestus der organisierten Farbräume des Amerikaners führt. Anders als bei den in ihrem Pinselduktus dynamisch agierenden Vertretern eines impulsiven, abstrakten Expressionismus und ähnlich demjenigen Rothkos, ist der Strich bei Matsuo - was die


Schichtung der Farben betrifft - von einer unübersehbaren Vorausschau geprägt. Ihre Bildsprache korrespondiert in den Bildern der „Total Loss Room“- Reihe deutlich mit jener Ausprägung des amerikanischen Nachkriegs-Expressionismus, in welcher die chromatische Farbfeldmalerei ihre meditativ und ruhig anmutende Wirkung entfaltet. “Dieses widersprüchliche Amalgam aus Selbstbezug und Expression“ (Michael Makropoulos), welches lange auch für die Zelebrierung einer organisierten Uneindeutigkeit des actiongeladenen abstrakten Expressionismus stand, wird im Fall der Fenster-Bilder Fujiyo Matsuos mit einem Nachdruck zur Deutbarkeit versehen. Die Deutbarkeit beruht auf der Spiegelung ihrer inneren Transzendierung auf ihre Leinwände. Es lässt sich durchaus konstatieren, dass die Erschaffung eigener bildimmanenter Kunstwirklichkeiten das herausstechende Merkmal ihrer „Total-Loss-Room“ - Reihe ist. Und so wie Rothko von einigen Interpreten eine Caspar David Friedrich verwandte Reflexion über Grenzen und Unendlichkeit zugeschrieben wird, so finden wir auch im Werk Matsuos einige Anhaltspunkte insbesondere in ihrem Umgang mit dem Licht, die für eine innere Auseinandersetzung mit tranzdentental-metaphysischen Themen stehen. Das Phänomen des „inneren Lichts“ als großes dialogisches Potential auch der Malerei Matsuos wird von ihr durch die Hervorbringung von Tiefenlicht durch Schichtung erreicht. Die Ästhetik der Unschärfe als Medium transzendenter Unmittelbarkeit und die Bewusstmachung der Grenzen des Erkennens überhaupt Vordergründig korrespondieren Matsuos unfokussierte Fenster-Bilder mit jenem Trend hipper Bildgestaltung, auf der wenig zu erkennen ist. Unschärfe als Stilmittel einer postmodernen Ikonographie diverser Lebensstile: Seit einiger Zeit prägen vielfältige Möglichkeiten der Bildmanipulation, ein Pluralismus der Ästhetiken und inflationäre Bildermengen unsere Sehgewohnheiten. Unschärfetechniken stehen dabei häufig für Sensation, Drama und Katastrophe. Aber Matsuo geht es auch hier um mehr: Welche Fenster sehen in der sogenannten Wirklichkeit schon so aus, wie die von ihr gemalten? Die Unschärfe ihrer Bilder unterstützt einen eigenen speziellen, symbolhaften Charakter ihrer Malerei, eine Aura des Wunderbaren und des Traums. Das Unfokussierte ihrer Fenster-Sujets verstärkt noch den Eindruck, dass wir es mit dem Abgebildeten nicht wirklich mit einer Entsprechung auf einer materiellen Ebene der Welt zu tun haben. Wie in der romantischen Landschaftsmalerei, auf deren Leinwänden Zeit, Raum und Materie verschmelzen sollten, handelt es sich bei Matsuos Entscheidung, ihre Fenster-Bilder in eine konsequente Unschärfe zu tauchen, in einen Raum aus lichtem Nebel, um den Versuch einer visuellen Entsprechung für eine Transzendenzerfahrung, die dem Betrachter in einer unmittelbar visuellen Translation dargereicht wird. Matsuos unscharfe Fenster-Bilder verweisen damit „auf eine Tradition antimodernistischer Affekte in der Moderne, die sich den Phänomenen der realen Lebenswelt längst nicht immer zu stellen gedachte.“ (Wolfgang Ullrich) Wenn wir mit Wolfgang Ullrich konstatieren wollen, dass es in der Geschichte der Unschärfe als Stilmittel eine doppelte Valenz ihrer Einsatzmöglichkeiten gibt, zum


einen nämlich die Bewegungsunschärfe als Ausdruck der Wiedergabe eines besonders authentischen Abbildes, einer pulsierenden lebendigen Gegenwart, zum anderen Unschärfe als ein ästhetisches Prinzip, welches unserer hektischen, unsere Sinne überfordernden Lebenswelt zu entfliehen hilft, dann kann, was Fujiyo Matsuos Einsatz der Unschärfe betrifft, nur ein Schluss zugelassen werden: Unschärfe, Licht, Schatten und grundsätzliches Motivthema verweben sich bei ihr zu einer Reformulierung des Idyllischen, wie wir sie kaum noch in einer allenthalben häufig für tot erklärten Malerei unserer Tage aufzufinden hoffen durften. Matsuos Malerei macht solcherart den Eigensinn und Eigenwert der Bilder gegenüber der abgebildeten Realität neu sichtbar. Hierzu ist ihr also die Unschärfe ein adäquates ästhetisches Mittel zur Überwindung von Materialität. Der Subtext der Werkreihe „Total-Loss-Room„ Der sich wiederholende Titel “Total Loss Room“ für ihre Fenster-Bilder bezeichnet keine reelle Entsprechung eines Abgebildeten. Wir sehen auf ihnen nicht nichts, genauso wenig sehen wir Räume. Sowohl der Begriff der Leere als auch derjenige des Raums intendieren noch einmal das Transzendierungs-Programm der Malerin Fujiyo Matsuo. Darüber hinaus: Auch wenn es zunächst scheint, als beschwörten Matsuos Fenster-Bilder lediglich die prägende Kraft der geometrischen Form, wenn sie das Kreuz im Fenster aufbaut zu einem den Blick lenkenden Mittelpunkt, der das Bild in mindestens vier, oftmals in weitaus mehr Sektoren aufteilt, folgen sie prinzipiell einem inneren, ja einem religiösen Blick auf Existenz. Das die Leinwand in vier Räume unterteilende Kreuz in der Mitte des Bildes verstärkt diesen Eindruck einer spirituellen Bild-Philosophie, die der christlichen Ikonographie das Angebot einer Erweiterung ihrer Zeichen und Symbole macht. Dies ist nicht die Leere dunkler Materie, sondern diejenige einer friedvollen und zu ihrer Ruhe gekommenen Seele. Die Totalität der Leere steht somit als Transzendenz-Motiv für vollkommenes Gelingen einer Nähe zu einem Höheren, sei sie in den Meditations-Übungen des Buddhismus oder der Unterhaltung mit dem Höchsten im Gebet (oder eben der Malerei) zum Gelingen gebracht. “Total Loss Room“ beschreibt zuletzt alles andere als einen furchterregend leeren Raum: Im Gegenteil wird hier eine Fülle der Empfindung evoziert, die einem absolut freudvollen Existenzbewusstsein das Wort redet. Die Bedingungen zur Betrachtung dieser Art von Kunst lauten: Meditative Kraft und mentale Leere jenseits schneller Interpretations-Reflexe; eine nicht-intentionale Betrachtungsweise, welche einen echten schöpferischen Beitrag zu leisten imstande sich zeigt. Die Bilder Fujiyo Matsuos mit dem Namen “Total Loss Room“, deren Ergebnisse in der großen Tradition der Meditationstafeln stehen, sind als Ausdruck und Mittel spiritueller Entwicklung in einem dialogischen Feld zwischen Gemälde und Betrachter angesiedelt. Nur ein Rezeptions-Kern, der diese Form von Deutung im Blick hat, wird dieser Malerei gerecht.

© by Andreas Richarz (M.A.) for phenomenon_corporation / 07-2014


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