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Rojava Reader

Soziale Bewegungen und der türkisch-kurdische Krieg Ein Gespräch mit Ismail Küpeli, Politikwissenschaftler und Kenner der Situation in Kurdistan, der Türkei und Syrien Ismail Küpeli promoviert momentan an der Ruhr-Uni Bochum zum Thema "Kurdische Aufstände in der Türkei". In der GWR Nr. 389 analysierte er "Das Erfolgsgeheimnis der AKP-Regierung in der Türkei" als "Zuckerbrot für die einen, Peitsche für die anderen". Im März 2016 interviewte GWR-Redakteur Bernd Drücke den telefonisch aus Duisburg zugeschalteten Autor für eine Radio Graswurzelrevolution-Sendung, die am 29. April ab 20:04 Uhr im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz., Livestream: www.antennemuenster.de) ausgestrahlt wird und (wg. GEMA leider ohne Musik) auch auf www.freie-radios.net/portal/content.php?id=75768 dokumentiert ist. Wir haben das Interview redaktionell überarbeitet und ergänzt. (GWR-Red.) GWR: Du hast im September 2015 in der Edition Assemblage das Buch "Kampf um Kobanê - Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens" herausgegeben.(1) Kannst Du uns dazu etwas erzählen? Ismail Küpeli: Der Sammelband ist ein Versuch, eine Überlegung, die Debatte um die Situation in Nordsyrien zu beleuchten. Dort gibt es seit ungefähr drei Jahren ein Projekt, Rojava, das ist vielleicht manchen ein Begriff. Unser Ansatzpunkt war, ausgehend von dem medialen Interesse für die Schlacht um Kobanê, da auch tiefer in die inhaltlichen Debatten einzusteigen, was dort passiert und warum das vielleicht auch für Linke in Deutschland interessant sein könnte. Wir untersuchen, ausgehend von Rojava, die Lage in der Region, in Nordsyrien und der Türkei, und schauen uns auch an, inwiefern die Konflikte dort auch eng zusammenhängen. GWR: Rojava, also die de facto autonomen kurdischen Siedlungsgebiete in Nordsyrien beziehungsweise Westkurdistan, sind sowohl dem "Islamischen Staat" (IS/Daesch) als auch dem zunehmend autokratisch auftretenden türkischen Erdogan-Regime ein Dorn im Auge. Wie würdest Du die momentane Situation und die Entwicklung beschreiben? Ismail Küpeli: Die Situation in Rojava ist so, dass im Kampf gegen den IS teilweise Erfolge zu verzeichnen sind. Das Problem ist aber nach wie vor, dass die Lage in Rojava dadurch bestimmt ist, dass die Türkei die ganze Grenze dicht macht, dass keine humanitäre Hilfe über die Grenze kommen kann. Syrien ist ein Bürgerkriegsland, und da ist Rojava als Teil Syriens nicht ausgenommen. Die Lebensverhältnisse sind schlecht und führen dazu, dass auch von dort aus Menschen fliehen müssen, auch aufgrund der türkischen Blockade und auch aufgrund der Angriffe von islamistischen und dschihadistischen Gruppen, die sich eigentlich über die ganzen Jahre hinweg durchgezogen haben. Auch schon vor dem Angriff des IS auf Kobanê gab es Angriffe von anderen Gruppen wie zum Beispiel der islamistischen al-Nusra-Front. Diese Angriffe haben nie aufgehört. GWR: In der Türkei hat es in den letzten Jahren zeitweise eine gewisse Annäherung der regierenden AKP an die Kurden gegeben hat. Als Ministerpräsident hatte Erdogan den Versuch unternommen, die über 17 Millionen Kurdinnen und Kurden in der Türkei einzubinden. Um die kurdischen WählerInnen zu gewinnen, ist er zunächst vom Kurs seiner Vorgänger abgewichen und hat öffentlich erklärt: "Die Kurden sind unsere Brüder." Dann gab es nach dem Einzug der linken, pro-kurdischen HDP 2015 ins türkische Parlament eine scheinbar abrupte Änderung seiner Politik. Unter seiner Staatspräsidentschaft betreibt er jetzt eine brutale Kriegspolitik gegen die Kurdinnen und Kurden in der Türkei, in Syrien und im Irak. Schon im April 2015 hat Erdogan die Gespräche, die der türkische Geheimdienst auf der Insel Imrali mit Abdullah Öcalan führte, abgebrochen. Der seit 1999 inhaftierte PKK-Chef befindet sich seitdem wieder in Totalisolation. Seit Juli 2015 ist der türkisch-kurdische Bürgerkrieg neu entflammt. Hunderte wurden seitdem auf beiden Seiten getötet. Wie ist es dazu gekommen? Welche Hintergründe sind dafür verantwortlich? Ismail Küpeli: Eines der großen Probleme im Friedensprozess zwischen der Türkei und der kurdischen Arbeiterpartei PKK war auch die türkische Politik gegenüber Rojava. Das wird jetzt erst langsam sichtbar, nachdem Gesprächsprotokolle erschienen sind, die darauf hinweisen, dass insbesondere die türkische Politik gegenüber Rojava, der Beschuss durch die Dschihadisten in Syrien und die Blockade der Grenze dazu geführt haben, dass die Spannungen zwischen der kurdischen Seite und der türkischen Seite wieder zugenommen haben. Bei dem Friedensprozess ging es nicht nur um die Situation in der Türkei selbst, sondern auch um die türkische Politik gegenüber den Kurdinnen und Kurden in den Grenzregionen. Und da war Rojava ein zentrales Problem. Diese Wahrnehmung, dass der Friedensprozess recht abrupt abgebrochen sei, beruht auch ein bisschen darauf, dass man sich nicht genau anschaut, was das überhaupt für ein Friedensprozess war. Es ist sicherlich richtig, dass


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