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Jahrgang 13 5,00 Euro

MAGAZIN FÜR

POLITIK UND GESUNDHEIT Ingrid Fischbach Präventionsgesetz

Thomas Rachel Gesundheitsforschung

GEMEINSAM GESTALTEN

Michaela Noll Gesellschaft im Wandel

S. 12

S. 14

S. 18


Caring and Curing Leben retten und Gesundheit verbessern – das ist unser Ziel Die Entwicklung bahnbrechender neuer Medikamente steht für Novartis an erster Stelle. Sie schaffen neue Behandlungsmöglichkeiten für bislang unerfüllte medizinische Bedürfnisse der Patienten. Patienten und ihre Bedürfnisse können jedoch sehr unterschiedlich sein. Deshalb bietet Novartis neben innovativen Medikamenten auch Möglichkeiten zur Krankheitsvorbeugung sowie Generika an und verbessert den Zugang zu medizinischer Versorgung.

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EDITORIAL

GOÄ Verhandlungen gescheitert Nun ist das passiert, was viele Ärzte befürchtet hatten. Die Verhandlungen zur Novellierung der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) sind vorerst gescheitert. Sowohl Bundesärztekammer als auch der Verband der privaten Krankenversicherer müssen sich neu aufstellen und es stellt sich die Frage, wo und wann man mit den Verhandlungen neu aufsetzt. Schon werden die ersten Stimmen laut, dass ja nicht alles so schlecht gewesen wäre und man sich im Grundsatz eigentlich einig ist. Die Fachverbände der Ärzte sehen das grundlegend anders. Man habe bereits frühzeitig gewarnt, eine Einbindung der Ärzte fand zu keiner Zeit statt und letztlich wäre man seitens der Bundesärztekammer immer wieder hingehalten worden. Fakt ist aber auch, dass es nach den ganzen Querelen innerhalb der Kassenärztlichen Bundesvereinigung nun den nächsten Tiefschlag innerhalb der Selbstverwaltungen gegeben hat. Die Politik kann, in Anbetracht der gesamten Vorgänge, eigentlich nur noch den Kopf schütteln. Die Ärzteschaft zerlegt sich selbst, ist von internen Machtkämpfen geschüttelt und vergisst dabei ihre eigentliche Aufgabe, nämlich die Vertretung ihrer Mitglieder. Angesichts dieser gesamten Vorgänge ist die Politik nun aufgerufen eine grundlegende Reformierung der ärztlichen Selbstverwaltung vorzunehmen. Hier reicht es bei weitem nicht mehr an einzelnen kleinen Schrauben zu drehen. Es müssen auf Sicht hin wegweisende Veränderungen vor-

genommen werden. Selbst die eigenen Verbände fordern nun von Bundesminister Gröhe die Einsetzung eines Staatskommissars in der KBV. Damit würde das Problem aber wieder nur auf die Politik abgeladen, ein Umstand, den weder die ärztliche Selbstverwaltung noch die Politik angestrebt haben. Was muss jetzt passieren? Auch diese Frage ist sicherlich in erster Linie nur durch die Politik zu beantworten. Im Fall der Gebührenordnung für Ärzte sollte die PKV kein zentrales Verhandlungsmandat erhalten, Anhörung und Mitwirkung ja, aber nicht in der bisherigen federführenden Rolle. Bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hilft wahrscheinlich nur noch eine enge und lückenlose Kontrolle durch das Bundesministerium für Gesundheit. Das heisst, alle Entscheidungen dieses Gremiums sollten unter einem Genehmigungsvorbehalt durch das BMG liegen. Das wird sicherlich nicht dem Sinn und Zweck einer Selbstverwaltung gerecht, leider wäre es zur Zeit aber ein notwendiges Instrument.

INHALT 4

Der „Social Impact“ Eine neue Studie untersucht Hintergründe und Ergebnisse medizinischer Innovationen

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Video-Sprechstunde Unsere beiden Autoren Günter van Aalst und Klaus Strömer berichten von einem Pilotprojekt zur Video-Sprechstunde in der zweiten Erprobungsphase

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Landtagswahl in M-V Im September finden in MecklenburgVorpommern Landtagswahlen statt. Die beiden Spitzenleute der Union, Lorenz Caffier und Vincent Kokert ziehen Bilanz ihrer Arbeit 10 Deutsche Arztnetze Unser Autor Christian Flügel-Bleienheuft berichtet über die Arbeit der „Agentur deutscher Arztnetze e.V.“ als Promotor kooperativer Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen 12 Präventionsgesetz im Praxistest Zehn Jahre wurde diskutiert, nun muss sich das neue Präventionsgesetz in der Praxis bewähren. Die Gesundheitspolitikerin Ingrid Fischbach, MdB, zieht eine vorläufige Bilanz 14 Gesundheitsforschung top Von großen Fortschritten in der Gesundheitsforschung weiß unser Autor Thomas Rachel, MdB, zu berichten. Ziel ist ein leistungsfähiges, digital vernetztes Gesundheitssystem 16 NRW fällt weiter zurück Unser Autor, der CDU-Landtagsabgeordnete Matthias Kerkhoff, beklagt das stagnierende Wirtschaftswachstum in Nordrhein-Westfalen und fordert eine schnelle Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik 18 Gesellschaft im Wandel Michaela Noll, CDU-MdB aus NRW, spricht sich für Integrationsvereinbarungen aus, auch um Parallelgesellschaften und –justiz zu verhindern. Es könne nur eine Gesellschaft geben 20 Erbschaftsteuergesetz Viel Zeit bleibt nicht mehr: Das Bundesverfassungsgericht hat eine Frist für die Reform des Erbschaftsteuergesetzes gesetzt. Nach Juli 2016 wird das Gericht Normen setzen, wenn es der Bundestag bis dahin nicht schafft

Frank Rudolph, 1. Stellv. Vorsitzender GPA NRW

22 Kolumne Gottfried Ludewig schreibt zum Präventionsstärkungsgesetz 22 Impressum

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SOCIAL IMPACT

WifOR-Studie

„Der ‚Social Impact‘ medizinischer Innovationen“ – Hintergründe, Studiendesign und Ergebnisse Von Dennis A. Ostwald / Jan Gerlach / Malina Müller

WifOR führte im Auftrag von Novartis eine Studie durch, die positive Wirkungen, die ein neues Medikament in der deutschen Gesellschaft hinterlässt, quantitativ erfasst. Dieser ‘Social Impact‘ einer Therapie wurde exemplarisch für das im Indikationsbereich Herzinsuffizienz Ende des Jahres 2015 EU-weit zugelassene Medikament Entresto® berechnet. Die in einer klinischen Studie festgestellten Vorteile gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie – geringeres Risiko zu versterben und weniger Hospitalisierungen – dienen als Basis der Ermittlung des Social Impacts. Hintergrund Chronische Erkrankungen wie Herzinsuffizienz gewinnen in Deutschland zunehmend an Bedeutung. Sie verursachen Kosten durch die Versorgung der Erkrankten und sind für erhebliche volkswirtschaftliche Ausfälle infolge von Arbeitsunfähigkeit, vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben oder Produktivitätsverlusten verantwortlich. Eine bessere medizinische Versorgung könnte dem entgegenwirken und somit die gesellschaftliche Wohlfahrt positiv beeinflussen. Die Berücksichtigung volkswirtschaftlicher Dimensionen ist bei der Nutzenbewertung innovativer Medikamente jedoch nicht vorgesehen. Sie findet allerdings zunehmend Eingang im politischen Diskurs. So wurde auf der Wirtschaftsministerkonferenz 2015 das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) aufgefordert, eine Stellungnahme dahingehend einzuholen „ob und […] wie die Bundesregierung beabsichtigt, mit Blick auf den volkswirtschaftlichen Nutzen bei der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel in stärkerem Maße als bisher positive Auswirkungen auch auf andere Katego-

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rien der sozialen Sicherungssysteme zu berücksichtigen“. WifOR liefert mit der vorliegenden Studie einen Ansatzpunkt für solch eine volkswirtschaftliche Betrachtungsweise.

Studiendesign zum Social Impact Die Studie stellt verschiedene volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Wirkungsketten heraus und knüpft dabei methodisch an frühere Arbeiten für das BMWi an. Neben den Auswirkungen auf die erwerbsfähige Bevölkerung (marktliche Tätigkeiten) wird auch der Effekt auf Personen bemessen, die nicht-marktlichen Tätigkeiten, wie Haushaltsproduktion und Ehrenamt, nachgehen. So wird dem Kritikpunkt Rechnung getragen, dass diese Tätigkeiten grundsätzlich – und insbesondere in Wachstumsindikatoren wie dem Bruttoinlandsprodukt – nicht berücksichtigt werden und somit ein wichtiger Wohlstandsindikator vernachlässigt wird. Die Monetarisierung dieser Tätigkeiten ermöglicht es, sie als gesellschaftlichen Wert zu quantifizieren.

Grundlegende Annahme der Modellierungen ist, dass eine medizinische Innovation die Krankheitslast der Betroffenen reduziert und einen eindeutigen gesundheitlichen Nutzen stiftet. Dieser gesundheitliche Mehrwert – zunächst nur berücksichtigt als Lebensverlängerung oder horizontale Verschiebung der Nutzenfunktion – führt dazu, dass Betroffene stärker am Arbeits- und Sozialleben teilhaben können. Dies führt einerseits zur Vermeidung von Produktivitätsverlusten und Wohlstandsgewinnen sowie andererseits zu damit einhergehenden institutionellen Effekten, welche als Teil des vermiedenen Produktivitätsverlustes entstehen.

Zentrale Ergebnisse Durch den Einsatz dieser neuen medikamentösen Therapie im Bereich Herzinsuffizienz in Deutschland könnten bis zum Jahr 2030 ca. 110.000 zusätzliche Lebensjahre gewonnen werden Basierend auf der Zulassungsstudie konnte ermittelt werden, dass bei einem 64-jährigen Patienten eine Lebensver-

Der Social Impact von Entresto®im Indikationsbereich Herzinsuffizienz bis zum Jahr 2030 Der Social Impact von Entresto®im Indikationsbereich Herzinsuffizienz bis zum Jahr 2030


SOCIAL IMPACT längerung von ca. 1,2 Jahren erzielt werden kann. Darauf aufbauend wurde mit einem Populationsmodell berechnet, dass dies bis zum Jahr 2030 zu insgesamt 109.658 zusätzlichen Lebensjahren in der erkrankten Population führen könnte. Durch die gewonnenen Lebensjahre können Wertschöpfungsverluste in Höhe von 607 Millionen Euro in der erwerbstätigen Bevölkerung verhindert werden Diese gesundheitlichen Effekte stellten die Basis für die Ermittlung der volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Effekte dar. Der vermiedene direkte Wertschöpfungsverlust aufgrund längerer Erwerbstätigkeit kann dabei bis zum Jahr 2030 auf etwa 257 Millionen Euro beziffert werden. Werden auch die nachgelagerten indirekten und induzierten Effekte in Höhe von ca. 350 Millionen Euro berücksichtigt, könnte sich der Gesamteffekt vermiedener Wertschöpfungsverluste insgesamt auf etwa 607 Millionen Euro aufsummieren. Zudem kann durch zusätzliche nichtmarktliche Produktivität ein Gesamteffekt von ca. 1,5 Milliarden Euro erzielt werden Eine längere Lebenszeit führt neben längerer Erwerbstätigkeit auch dazu, dass Patienten nicht-marktliche Tätigkeiten wie Haushaltsproduktion – Kochen, Putzen, etc. – und Ehrenamt länger ausüben können. Die monetäre Bewertung dieser Tätigkeiten mit vergleichbaren marktlichen Tätigkeiten zeigt, dass bis zum Jahr 2030 eine „fiktive“ Wertschöpfung in Höhe von etwa 735 Millionen Euro generiert werden könnte. Werden auch die indirekten und induzierten Effekte berücksichtigt könnten zusätzliche Wertschöpfungseffekte in Höhe von ca. 803 Millionen Euro entstehen. Im Rahmen der positiven Wertschöpfungs-

effekte könnten auch institutionelle Mehreinnahmen von knapp 370 Mio. Euro geschaffen werden Neben den sozioökonomischen Wirkmechanismen wurde auch ermittelt, welche institutionellen Effekte sich aus dem Social Impact ergeben. Denn zusätzliche Erwerbstätigkeit beeinflusst auch die Höhe der staatlichen Einnahmen aus der Einkommenssteuer sowie die Gesamthöhe der Beiträge zur Sozialversicherung. Die Berechnung dieser institutionellen Effekte der marktlichen und nicht-marktlichen Tätigkeiten – unter Berücksichtigung direkter, indirekter und induzierter Effekte – ergibt, dass sich die Gesamtsumme zusätzlicher Einkommenssteuereinnahmen auf 88 Millionen Euro belaufen könnte. Aus Sicht der Sozialversicherung könnten sich die zusätzlichen Einnahmen sogar auf bis zu 282 Millionen Euro bis zum Jahr 2030 aufsummieren.

hoben. Denn erst durch deren Inklusion bei der Bemessung der Wertschöpfung wird eine umfassende gesellschaftliche Perspektive erzielt. Unsere Analysen der gesundheitlichen, sozioökonomischen und institutionellen Wirkungsmechanismen stellen einen ersten Schritt in Richtung einer gesellschaftlichen Bewertung von innovativen medizinischen Technologien dar. Dabei lässt sich festhalten, dass mit dem Studiendesign eine erweiterte Basis geschaffen wurde, um den Wert und Nutzen von innovativen medizinischen Technologien untersuchen zu können.

DENNIS OSTWALD

Entresto® hinterlässt bis zum Jahr 2030 folglich einen Social Impact im Gegenwert von 2,1 Milliarden Euro Werden alle sozioökonomischen Wirkungen aufsummiert, kann Entresto® bis zum Jahr 2030 einen Social Impact in Höhe von ca. 2,1 Milliarden Euro generieren.

Ausblick Die Ausführungen zeigen, dass der Nutzen medizinischer Innovationen für die Volkswirtschaft und Gesellschaft sehr vielfältig sein kann. Methodik und Ergebnisse wurden in zahlreichen Interviews mit Experten aus Wissenschaft, Politik und Kostenträgern vorgestellt und diskutiert. Hierbei wurde von den Experten insbesondere die Berücksichtigung nicht-marktlicher Tätigkeiten hervorge-

Dr. Dennis A. Ostwald studierte Wirtschafsingenieurwesen an der Technischen Universität Darmstadt und promovierte am Lehrstuhl für Finanz- und Wirtschaftspolitik von Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup zum Thema „Wachstums- und Beschäftigungseffekte der Gesundheitswirtschaft“. Seit dem Jahr 2011 hat er einen Lehrauftrag für Internationales Management an der Steinbeis-Hochschule Berlin

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VIDEOSPRECHSTUNDE

Video- Sprechstunde: Arztvisite im Wohnzimmer Dank der modernen Technik, müssen große Entfernungen einer optimalen medizinischen Versorgung nicht mehr im Wege stehen

Seit September 2015 erprobt die Techniker Krankenkasse (TK) gemeinsam mit dem Bundesverband Deutscher Dermatologen (BVDD) und dem Lübecker Start-up Unternehmen Patientus das Pilotprojekt „Online-Video-Sprechstunde“ im Praxisalltag. Nachdem das System bereits alle notwendigen technischen Tests und den Pre-Test mit sieben ausgewählten Arztpraxen bestanden hat, startet jetzt die zweite Erprobungsphase. Abends, viertel nach sieben in einem Wohnzimmer in Köln: Im virtuellen Wartezimmer von Patient Michael Brandstetter zählt ein Countdown von zehn auf null herunter. Auf dem Bildschirm erscheint sein Hautarzt Dr. med. Klaus Strömer aus Mönchengladbach, um mit ihm über seinem Behandlungsverlauf zu sprechen. Eine Szene, die demnächst in Deutschland nicht nur bei Hautärzten zum Alltag gehören wird. Das TK-Projekt „Online-Video-Sprechstunde“ soll die Tür zur Telemedizin im ambulanten ärztlichen Bereich öffnen.

Gesellschaft muss sich neuen Möglichkeiten öffnen

Dank der modernen Technik, müssen große Entfernungen einer optimalen medizinischen Versorgung nicht mehr im Wege stehen. Um im Rahmen einer Verlaufskontrolle festzustellen, ob die Hautschwellung dank der verordneten Salbe zurückgegangen ist oder ob die OP-Wunde richtig heilt, kann ein persönli-

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cher Arztbesuch überflüssig werden. „Dieses Angebot ist ein neues Element, das den Medizinbetrieb ins 21. Jahrhundert befördert. Noch ist das Pionierarbeit, denn nicht nur Patienten sondern vor allem die Ärzteschaft müssen vom Nutzen der digitalen Möglichkeiten überzeugt werden“, sagt Dr. Strömer, der auch Präsident des BVDD ist.

Patienten fühlen sich gut betreut

Wer das Angebot nutzen kann, entscheiden die Projektärzte. Sie beurteilen, welche ihrer Patienten in Frage kommen. Mit Ihnen bespricht der Arzt die Funktion der Videosprechstunde. Teilnehmen können nur Patienten, die sich schon in Behandlung befinden. Michael Brandstetter ist sehr zufrieden mit dieser neuen Form der Behandlung: „Für neue technische Möglichkeiten bin ich immer offen. Die Nachsorge per Video-Sprechstunde erspart mir Zeit und Geld. Hinzu kommt, dass mir Wartezimmer gar nicht liegen – sie sind immer mit Krankheit verbunden.“ Außerdem gehe er kein Risiko ein. Sollte etwas auffällig sein, würde ihn sein Arzt bitten, persönlich in die Praxis zu kommen.

Ärzte und Patienten profitieren gleichermaßen

Mit der Online-Sprechstunde wird es für Mediziner einfacher, einen Patienten zu betreuen, nachdem Diagnose und Therapie einmal persönlich in der Arztpraxis besprochen wurden. „Für die Nachkontrolle reicht oft

ein kurzer Blick – dafür muss sich künftig kein Patient mehr auf den Weg in die Praxis machen“, sagt Günter van Aalst, Leiter der TK-Landesvertretung in Nordrhein-Westfalen. „Für Ärzte bedeutet dies den Einstieg in eine neue Form vergüteter Arbeit. Und für Patienten bietet die Online-Video-Sprechstunde perspektivisch ein medizinisches Angebot auch dort, wo keine Strukturen vorhanden sind – zum Beispiel in ländlichen Gebieten.“ Die teilnehmenden Ärzte rechnen ihr Honorar für die Videosprechstunde direkt mit der TK ab.

Die Daten sind sicher

Ziel der Projektpartner ist es, dass die Videosprechstunde fester Bestandteil der ambulanten fachärztlichen Versorgung wird und somit der Zugang der Versicherten zu den ärztlichen Leistungen vereinfacht wird. Natürlich müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ein wichtiger Punkt dabei ist die Datensicherheit. Um diese zu gewährleisten, erhält jeder Patient einem individuellen Termin-Tan. „Zum vereinbarten Online-Termin loggt sich der Patient mit seinem Laptop oder PC über die Webseite www.patientus.de/login mit seiner sechsstelligen TAN ein und gelangt in das virtuelle Wartezimmer“, erklärt van Aalst. „Auf der anderen Seite sitzt der Arzt an seinem Bildschirm und ruft nacheinander die Patienten in seine virtuelle Praxis. Damit niemand überrascht wird, zeigt ein Zähler die letzten zehn Sekunden an, bevor es losgeht.“ Nach dem Gespräch trennt der Patient die Verbindung, und der Arzt wendet sich dem nächsten Patienten zu. Persönliche Daten werden nicht gespeichert. Ärzte und Patienten benötigen keine zusätzliche Hard- oder Software. Ein PC oder Laptop mit Internetverbindung und einer handelsüblichen Webcam genügt.

Umfrage: Menschen stehen Digitalisierung offen gegenüber

Eine Forsa-Umfrage unter den TK-Versicherten belegt, dass Menschen aller Altersgruppen der Digitalisierung im Gesundheitswesen offen gegenüber stehen. Schon heute möchten Patienten gern online Termine vereinbaren, Messwerte elektronisch an die Arztpraxis übermitteln oder Rezepte online erhalten. Drei Viertel der Befragten – auch die 60- bis 70-Jährigen – suchen nach Gesundheitsinformationen vorwiegend oder ausschließlich im Internet. Und mehr als jeder Zweite (52 Prozent) gibt an, dass er mit seinem Arzt via


VIDEOSPRECHSTUNDE Internet in Kontakt treten möchte oder dies bereits so handhabt.

Gesetzliche Regelungen zur Videosprechstunde

Neben der telekonsiliarischen Befundbeurteilung von Röntgenaufnahmen wird die Online-Videosprechstunde ab Juli 2017 als weitere, ausdrücklich im „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen“ (E-Health-Gesetz) genannte telemedizinische Leistung, in die vertragsärztliche Versorgung aufgenommen werden. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war zunächst nur von „Befundbeurteilungen von Röntgenaufnahmen“ die Rede. Die Leistung „Videosprechstunde“ kam erst ganz am Ende des Gesetzgebungsverfahrens dazu. Zur Begründung heißt es auszugsweise: „Mit dieser Regelung wird zu der bereits im Gesetzentwurf enthaltenen Regelung zu konsiliarischen Befundbeurteilungen von Röntgenaufnahmen zusätzlich vorgegeben, dass zukünftig auch Online-Videosprechstunden in Echtzeit als telemedizinische Leistung in die vertragsärztliche Versorgung eingeführt werden. Dies ermöglicht eine telemedizinisch gestützte Betreuung von Bestandspatientinnen und -patienten, mit der die ansonsten wiederholte persönliche Vorstellung in der Arztpraxis vor Ort ersetzt werden kann, zum Beispiel bei bestehender Therapie und deren Weiterführung oder bei Verlaufskontrollen. Untersuchungen, die die direkte Anwesenheit der Patientin bzw. des Patienten vor Ort er-

medizinische Versorgung zu erweitern und zu optimieren.

fordern, wie beispielsweise körperliche Untersuchungen finden nach wie vor beim Arzt in der Praxis statt. [ ] Die Patientin oder der Patient entscheidet, ob sie oder er von diesem Angebot Gebrauch macht, es besteht eine uneingeschränkte Wahlmöglichkeit, die Praxis aufzusuchen und einen Termin beim Arzt vor Ort wahrzunehmen“.

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens birgt aus Sicht der TK große Chancen, die

Günter van Aalst: „In fünf bis zehn Jahren sind Online-Video-Sprechstunden wahrscheinlich gerade in Flächenländern weit verbreitet, um die medizinische Versorgung zukunftssicher zu gestalten.“ Auch die regelmäßige Übermittlung von Vitaldaten, zum Beispiel bei einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, wird dann aus Sicht der TK die Regel sein.

GÜNTER VAN AALST

KLAUS STRÖMER

Günter van Aalst, geboren 1952, leitet seit 1991 die Landesvertretung der Techniker Krankenkasse (TK) in NordrheinWestfalen. Van Aalst ist Vorstandsmitglied des Netzwerks der Gesundheitswirtschaft an der Ruhr (MedECON Ruhr e. V.). Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin (DGTelemed) hat van Aalst zum Sprecher des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen der DGTelemed berufen

Dr. med. Klaus Strömer, geboren 1961, ist seit 1992 Facharzt für Dermatologie in Mönchengladbach. Seine Facharztausbildung absolvierte er in Düsseldorf, München und der Schweiz. Im Rahmen eines berufsbegleitenden Studiums machte er im Jahr 2000 seinen Abschluss als Diplomierter Gesundheitsökonom. Seit 2013 ist Dr. Strömer Präsident des Berufsverbands Deutscher Dermatologen

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LANDTAGSWAHL im Vergleich der Bundesländer. Darauf, dass der Solidarpakt 2019 ausläuft und der Länderfinanzausgleich neu verhandelt wird, sind wir gut vorbereitet.

Gute Wirtschaftliche Entwicklung hält an

Lorenz Caffier übergibt ein neues Fahrzeug an die Freiwillige Feuerwehr in der Gemeinde Bernitt

Mecklenburg-Vorpommern – Ein Land zieht an! In Mecklenburg-Vorpommern wird am 4. September ein neuer Landtag gewählt. Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen und darüber zu reden, was wir in den vergangenen Jahren erreicht haben. Seit 2006 trägt die CDU wieder Regierungsverantwortung in unserem wunderschönen Bundesland. Seitdem hat sich Mecklenburg-Vorpommern gut entwickelt. Wir haben die niedrigsten Arbeitslosenzahlen seit der Deutschen Einheit und auch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze hat sich erhöht. Der erste Arbeitsmarkt wird durch eine kluge Wirtschaftspolitik gefördert. Viele neue Unternehmen haben sich bei uns angesiedelt. Wir haben einen ausgeglichenen Haushalt und bauen kontinuierlich Schulden ab. Solide Finanzen und Investitionen in die Zukunft Seit 2006 hat das Land keine neuen

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Schulden gemacht. Gleichzeitig konnte etwa eine Dreiviertelmilliarde Euro Schulden getilgt werden. Allein 2014 konnte das Land 100 Millionen Euro Schulden abbauen. Die 2011 in der Landesverfassung verankerte Schuldenbremse ist 2015 durch ein Landesgesetz ausgestaltet worden. In Zukunft wird die Aufnahme von Schulden nur noch in Ausnahmefällen möglich sein. Die Investitionstätigkeit bleibt auch im Doppelhaushalt 2016/17 ein Schwerpunkt. Für das Haushaltsjahr 2016 sind Ausgaben von rund 1,22 Mrd. Euro und damit etwa 128 Mio. Euro mehr als noch 2015 geplant. Damit entspricht das Investitionsniveau mehr als dem Doppelten vergleichbarer westlicher Flächenländer. Das Breitbandprogramm des Bundes können wir dank der guten Haushaltslage mit einem dreistelligen Millionenbetrag gegenfinanzieren. Wir haben die drittniedrigste Pro-Kopf-Verschuldung

Der Arbeitsmarkt entwickelt sich weiter positiv. Wir haben die geringsten Arbeitslosenzahlen seit der Deutschen Einheit. Im April 2016 waren 84.200 Menschen arbeitslos gemeldet, was einer Quote von 10,2 Prozent entspricht. Nur zur Erinnerung: Der damalige Arbeitsminister und heutige Spitzenkandidat der Linken, Helmut Holter, hat uns 2006 einen arbeitsmarktpolitischen Scherbenhaufen hinterlassen. In Mecklenburg-Vorpommern waren damals 167.000 Menschen arbeitslos und die Arbeitslosenquote lag bei 19 Prozent. Die Arbeitslosigkeit hat sich seitdem halbiert. Und auch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze ist seit 2006 um 50.000 gestiegen. Unser Schwerpunkt liegt weiterhin auf dem ersten Arbeitsmarkt und der Ansiedlung neuer Unternehmen. Zahlreiche Unternehmen haben sich in den letzten Jahren in unserem Bundesland neu angesiedelt bzw. ihre Flächen erweitert. Nestlé in Schwerin und Liebherr in Rostock sind nur zwei von vielen Beispielen. Wir unterstützen Unternehmensgründungen und wollen „Made in MV“ zum Aushängeschild machen. Dazu muss Gründern der Zugang zum Kapitalmarkt erleichtert werden.

Polizei und Kommunen können sich auf uns verlassen Die Innere Sicherheit ist ein Kernthema der CDU in Mecklenburg-Vorpommern. Wir stehen fest an der Seite der Polizeibeamten in unserem Bundesland. Einen weiteren Abbau von Stellen bei der Landespolizei haben wir erfolgreich verhindert. Dank der CDU wurden 147 neue Stellen geschaffen. Wir setzen uns auch dafür ein, dass unsere Polizei gut ausgerüstet ist. Die Forderung der Grünen nach einer Abschaffung oder Reduzierung von Polizeiausrüstungen, wie Maschinenpistolen und Hubschraubern, lehnen wir


LANDTAGSWAHL durch die Kassenärztliche Vereinigung Mecklenburg-Vorpommerns eine Stiftungsprofessur für den Lehrstuhl Allgemeinmedizin eingerichtet. 2011 zog die Universität Greifswald nach und errichtete einen Lehrstuhl Allgemeinmedizin. Der Lehrstuhl wird seitdem von Fachärzten für Allgemeinmedizin geleitet. Wir setzen aber auch auf Stipendienprogramme für Medizinstudenten, die sich verpflichten bei uns im Land zu bleiben.

Vincent Kokert macht sich im Kreiskrankenhaus Demmin ein Bild über die medizinische Versorgung im ländlichen Raum

ab. Auch eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte im Einsatz wird es mit uns nicht geben. Die finanzielle Ausstattung der kommunalen Ebene bewegt uns als die Kommunalpartei in Mecklenburg-Vorpommern sehr. Insgesamt wurden seit 2011 430 Mio. Euro zusätzlicher Mittel für die Kommunen beschlossen. Das Geld kann zur Haushaltskonsolidierung und für Investitionen eingesetzt werden. Gemeinden, Städte und Kreise profitieren damit von der guten finanziellen Situation des Landes. Aufgrund der angespannten Haushaltslage vieler Kommunen wurde ein Gutachten zur grundlegenden Überarbeitung des Finanzausgleichsgesetzes auf den Weg gebracht. Die ersten Ergebnisse werden für den Herbst 2016 erwartet.

Medizinische Versorgung im ganzen Land sichern Der demographische Wandel erreicht Mecklenburg-Vorpommern früher als alle anderen Bundesländer. Unsere Bevölkerung setzt sich bald aus wesentlich mehr älteren und weniger jüngeren Menschen zusammen. Das Ziel der CDU bleibt, die Qualität der Gesundheitsversorgung im ganzen Land auf einem hohen Niveau sicherzustellen. Keine Region darf dabei abgehängt werden. Wir wollen, dass alle 37 Krankenhausstandorte im Land erhalten bleiben. Die medizinische Versorgung darf sich nicht alleine an wirtschaftlichen Zwängen orientieren.

Krankenhäuser haben auch eine wichtige soziale Funktion. Aufgrund der demographischen Entwicklung wird nicht mehr in jedem Krankenhaus auch jede Spezialisierung vorgehalten werden können. Wir brauchen deshalb verstärkt regionale Kooperationen. Die Kooperation zwischen der Ludwigsluster Klinik und den HELIOS Kliniken in Schwerin im Bereich der Kardiologie ist dafür ein gutes Beispiel.

Landärzten eine Perspektive geben Neben einer guten stationären Versorgung brauchen wir eine flächendeckende ambulante Versorgung. Hier gibt es bereits erste positive Entwicklungen. 2009 wurde an der Universität Rostock

Ein Arzt in einer ländlichen Region in Schleswig-Holstein verdient immer noch mehr als sein Kollege in MecklenburgVorpommern. Das ist ein Zustand, den wir uns künftig nicht mehr werden erlauben können. Aber nicht nur der finanzielle Rahmen spielt für die Entscheidung eine Rolle, sich im ländlichen Raum niederzulassen. Damit die Ärzte nach ihrem Studium in Mecklenburg-Vorpommern verbleiben, muss die Attraktivität des Standortes z. B. durch entsprechende Freizeitangebote und den Ausbau des Nahverkehrs vorangetrieben werden. Eine Entlastung der Arbeitstätigkeit der Ärzte durch Praxisassistenten ist ebenfalls eine gute Möglichkeit, um mehr Landärzte zu gewinnen. Auch die Möglichkeiten, für den Partner einen Job zu finden, spielt bei der Entscheidung zur Niederlassung auf dem Land eine Rolle. Die Betreuungsangebote und Schulen für die Kinder sind da ebenfalls wichtige Entscheidungspunkte.

LORENZ CAFFIER, MDL

VINCENT KOKERT, MDL

Lorenz Caffier, MdL, Landesvorsitzender der CDU Mecklenburg-Vorpommern und Innenminister des Landes MecklenburgVorpommern

Vincent Kokert, MdL, Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion Mecklenburg-Vorpommern und Generalsekretär der CDU Mecklenburg-Vorpommern

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ARZTNETZE

Die Agentur deutscher Arztnetze e.V. Von Christian Flügel-Bleienheuft

Die 2011 in Berlin gegründete Agentur deutscher Arztnetze e.V. (ADA) versteht sich als Interessensvertreter der in ihr vertretenen Arztnetze und generell als Promotor der Förderung einer kooperativen Versorgungsstruktur im Gesundheitswesen. Besonders zu Beginn der ADA standen Lobbyarbeit, Know-how Bündelung und Wissenstransfer für die beteiligten Netze im Vordergrund der Aktivitäten. Arztnetze stehen erst am Anfang damit, ein akzeptierter Bestandteil der Gesundheitsversorgung zu sein. Kernaufgabe der ADA ist es, im politischen Umfeld auf die Notwendigkeit von Arztnetzen in der medizinischen Versorgung hinzuweisen.

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Arztnetze und ihre Rolle im Gesundheitswesen

Seit 1995 gibt es Arztnetze, zunächst als lose Zusammenschlüsse von Einzelpraxen in einer Region. Anliegen der teilnehmenden Ärzte war und ist die Formulierung gemeinsamer Zielvorstellungen für die Patientenversorgung. Mit zunehmendem Reifegrad verfestigten die Arztnetze ihre Organisationsstrukturen durch Einführung professioneller Managementinstrumente und verbindlicher Rechtsformen. In einem nächsten Schritt dieses Reifeprozesses wurden praxenübergreifende Behandlungspfade entwickelt und implementiert. Außerdem gehören zu diesen gemeinsamen Geschäftsprozessen IT-Vernetzungslösungen. Die Professionalität der Arztnetze definiert sich neben dem Management auch in dem Anspruch, definierte Versorgungsinhalte zu übernehmen.

Arztnetze sehen sich heute als Plattform für Versorgungsakteure, die den gemeinsamen Willen haben, Verantwortung für die regionale Gesundheitsversorgung zu übernehmen. Zu diesen Akteuren zählen neben den Ärzten vor allem auch Apotheken, Pflegedienste, Hospize, Krankenhäuser und Einrichtungen aus kommunaler Ebene. Vonseiten des Gesetzgebers wird in § 87 b Abs. 4 des SGB V (Einführung mit dem Versorgungsstärkungsgesetz) eine Standardisierung der Arztnetze gefordert. Die Umsetzung mittels einer Rahmenvorgabe und Akkreditierung obliegt der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und den Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder (KV). Jeder niedergelassene Kassenarzt ist automatisch Mitglied der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) seines Bundeslandes. Die


ARZTNETZE KBV vertritt die Interessen der ca. 165.000 ambulant tätigen Vertragsärzte und Psychotherapeuten gegenüber Politik und Öffentlichkeit. Außerdem tragen KBV und KVen dafür Sorge, dass jeder gesetzlich Versicherte eine ausreichende, notwendige, wirtschaftliche und dem wissenschaftlichen Stand entsprechende ambulante Versorgung erhält. Die Rahmenvorgabe der KBV legt Kriterien und Qualitätsanforderungen für die Anerkennung besonders förderungswürdiger Arztnetze fest. Es geht hier insbesondere um die interdisziplinäre, kooperative, wohnortnahe ambulante medizinische Versorgung unter dem Aspekt der Patientenzentrierung. Mit einer Akkreditierung weist ein Arztnetz einen definierten Organisations- und Managementstandard nach. Neben der Grundvoraussetzung, organisatorisch gut aufgestellt zu sein, braucht es vor allem auch Handlungsvisionen dahingehend, wie genau eine verbesserte und patientenorientierte Versorgung durch Kooperation der Akteure umgesetzt werden kann wie zum Beispiel in der Betreuung von Pflegeheimpatienten oder dem Einsatz telemedizinischer Verfahren.

zu haben, zum Beispiel medizinisches Personal für das Netz anzustellen oder ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) aufzubauen. Bisher sind diese Möglichkeiten im medizinischen Bereich nur Ärzten vorbehalten, aber nicht der Institution Arztnetz. Ein MVZ könnte zum Beispiel in einer strukturschwachen Region die medizinische Versorgung sichern. Eine derartige Aufgabe ist für ein Arztnetz mit seiner Bündelung an medizinischer Kompetenz und Versorgungswillen bestens geeignet. Auch die Vergütungssystematik des Kassenarztrechtes ist eher auf Einzelpraxen denn auf kooperative Formen abgestimmt. Die Vergütung von Praxisnetzverträgen ist bisher nur über Selektivverträge mit Krankenkassen möglich. Wenn politisch intendiert ist, dass Arztnetze zur Versorgungslandschaft genauso dazu gehören wie ambulante Praxen und Krankenhäuser, dann müssen die Vergütungssysteme weiter entwickelt werden. So sieht die ADA ihre Aufgabe darin, diese genannten Felder entsprechend zu adressieren. Auch fordert die Agentur nachdrücklich ein, dass die nach § 87 b des SGB V anerkannten Netze die gesetzlich vorgesehene Förderung erhalten.

Agentur deutscher Arztnetze e.V. – ADA-

Die politischen Grundpositionen der ADA und die in ihr organisierten Arztnetze, werden bottom up entwickelt und konsentiert. Alle Positionen betreffen Aspekte der regionalen Versorgungssteuerung durch die Arztnetze, patientenorientierte Kooperationen der Haus- und Fachärzte und die Verbindung von medical- und social care. Hierfür braucht es ein über das rein medizinisch-ärztlich hinausgehende Versorgungsverständnis. Hier finden auch soziodemografische Faktoren und die Wahrnehmung der Lebensumstände in der Bevölkerung Berücksichtigung. Damit erweitert sich der Aktionsradius der Arztnetze hin zu Kooperationen auf kommunaler Ebene.

Die Agentur deutscher Arztnetze e.V. wurde 2011 in Berlin gegründet. Mittlerweile gehören ihr 24 Netze an. Die ADA ist einerseits die „politische“ Vertretung der Vernetzungsidee einer auf Kooperation organisierten medizinischen Versorgung. Auch leistet sie für die ihr angeschlossenen Netze Unterstützung auf dem Wege der weiteren netzindividuellen Professionalisierung und Lobbyarbeit. An der Institutionalisierung der Arztnetze, über die aus § 87 b des SGB V resultierende Rahmenvorgabe, war die ADA maßgeblich durch konstruktive Diskussion beteiligt. Weiterhin adressiert und informiert die ADA über die noch hemmenden Faktoren, die eine kooperative Berufsausübung in Arztnetzen derzeit unmöglich machen. So ist eine effektive Arbeit der Arztnetze derzeit noch aufgrund ungeklärter haftungsrechtlicher und steuerrechtlicher Fragen erschwert.. So fordert die ADA , dass Arztnetze den sogenannten „Leistungserbringerstatus“ erhalten, um so die Möglichkeit

Die ADA vertritt diese Grundpositionen in der Politik, um die Akzeptanz und das Verständnis für die Arztnetze zu stärken und um Einzelaspekte aus der Netzarbeit in übergeordnete Handlungskonzepte zu überführen Aktuell haben Arztnetze der ADA Versorgungsprojekte entwickelt, mit denen sie

sich unter dem Dach der ADA um den Innovationsfonds bewerben. Über die Kooperation der Netze ist ein Ausrollen dieser Projekte in der Fläche möglich.

In Kooperation mit der KBV

Die einzelnen Arztnetze mit ihren unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkten brauchen diese Bündelung ihrer Themen zu übergeordneten Handlungskonzepten, um sie adäquat an die Politik adressieren zu können. Bei allen Überlegungen sieht die ADA sich pro aktiv in Kooperation mit der KBV, um in Anbetracht der Versorgungsherausforderungen miteinander die Erfüllung des Sicherstellungsauftrages zu gewährleisten. Die demografische Entwicklung und die sich dadurch abzeichnende Zunahme von chronischen Erkrankungen erfordert Kooperation. Über die ärztliche Vertretung hinaus, sieht sich die ADA zudem als Plattform für alle an der Entwicklung und Verbesserung der Gesundheitsversorgung interessierten Professionen und politischen Vertreter, indem sie durch entsprechende Veranstaltungen dem miteinander Denken und Entwickeln Raum gibt.

CHRISTIAN FLÜGEL-BLEIENHEUFT

Dr. med. Christian Flügel-Bleienheuft ist seit 1989 als Facharzt für Innere Medizin in Köln-Rodenkirchen niedergelassen. Seine Facharztausbildung absolvierte er an der Medizinischen Klinik Köln Merheim. Er ist Absolvent der healthcare Akademie Düsseldorf im Managementkurs „Management für neue Versorgungs-und Kooperationsformen im Gesundheitswesen.“ Seit 2007 leitet er als Vorstandsvorsitzender das Gesundheitsnetz Köln Süd e.V., ein Ärztenetz mit 83 Ärztinnen und Ärzten und weiteren medizinischen Dienstleistern. Seit 2015 ist er Vorstandsmitglied der Agentur deutscher Arztnetze in Berlin

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Foto: Martin Büdenbender/ pixelio.de

PRÄVENTIONSGESETZ und Prävention als gemeinsame Aufgabe aller Sozialversicherungsträger unterstützt werden und die Zusammenarbeit mit den maßgeblichen Akteuren auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sowie der privaten Krankenversicherung verbessert wird. Gesundheit stärken, Krankheiten vermeiden Gesundheitsförderung und Prävention sind als Aufgaben finanziell und strukturell so gestaltet worden, dass sie chronische, lebensstilbedingte Krankheiten reduzieren, die Gesundheit stärken und dadurch zu mehr gesunden Lebensjahren beitragen, insbesondere auch für die Menschen, die sozial benachteiligt sind.

Das Präventionsgesetz und seine Umsetzung in die Praxis Gesundheit stärken und Krankheiten vermeiden - das ist die Kernidee der Prävention

Von Ingrid Fischbach, MdB Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit

Die unionsgeführte Bundesregierung räumt den Themen Gesundheitsförderung und Prävention einen sehr hohen Stellenwert ein. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz - PrävG) vom 17. Juli 2015. Dieses Datum markiert das vorläufige Ende einer mehr als zehn Jahre dauernden fachpolitischen Diskussion um die Stärkung der gesundheitlichen Prävention durch ein Bundesgesetz. Seit 2002 unternehmen die jeweiligen Regierungskoalitionen den Versuch, Gesundheitsförderung und Prävention mit Hilfe eines Präventionsgesetzes

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zu stärken. Dass es nun im vierten Anlauf gelungen ist, die parlamentarischen Hürden zu nehmen, liegt auch daran, dass das Präventionsgesetz die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der Träger und Akteure im föderalen Gesundheitssystem und im gegliederten System der sozialen Sicherung respektiert und mit ihm keine Aufgaben zu Gunsten oder zu Lasten anderer Träger verschoben wurden. Wenn der Bund Gesundheitsförderung und Prävention mit Hilfe von Recht gestalten möchte, kann er hierfür auf seine Kompetenz für die Regelung der Sozialversicherung zurückgreifen. Trotz dieser auf die Sozialversicherung begrenzten Gesetzgebungskompetenz des Bundes ist es gelungen, die strukturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Gesundheitsförderung

Um dieses Ziel zu erreichen, setzt das Gesetz auf Interventionen in den Lebenswelten. Überall dort, wo Menschen leben, lernen und arbeiten wird Einfluss auf die Gesundheit genommen. Deshalb müssen präventive Aktivitäten im Lebensalltag der Menschen stattfinden und sie möglichst ein Leben lang begleiten. Das Präventionsgesetz stärkt deshalb die Gesundheitsförderung und Prävention in Kitas, Schulen, Städten und Gemeinden ebenso wie in Betrieben und Pflegeeinrichtungen. Dieser Ansatz wurde mit dem Präventionsgesetz erstmals als eigene Vorschrift definiert. Sie macht deutlich, dass es nicht nur um Sozialleistungen geht, die für den Einzelnen in die Lebenswelt gebracht werden, sondern um eine gesundheitsförderliche Entwicklung der Lebenswelten selbst. Auch wenn es oft naheliegend ist, an einzelnen Risikofaktoren, zum Beispiel dem Bluthochdruck oder dem Übergewicht, anzusetzen, so hängt die Nachhaltigkeit von Präventionserfolgen vielfach von umfassenden Veränderungen des Verhaltens und der Verhältnisse ab, die sich wiederum auf das gesundheitsbezogene Verhalten des Einzelnen auswirken. So wird es leichter, sich mehr zu bewegen, wenn das Wohnumfeld bewegungsfreundlich


PRÄVENTIONSGESETZ gestaltet ist – das Das Präventionsgesetz stärkt des- auf individuelle erreichen wir nur halb die Gesundheitsförderung Belastungen und in gemeinschaft- und Prävention in Kitas, Schulen, Risikofaktoren das Entstelichen AktivitäStädten und Gemeinden ebenso für ten auf kommunahen von Krankler Ebene. Es wird wie in Betrieben und Pflegeeinrich- heiten zu legen. leichter, dem Stress tungen. Dieser Ansatz wurde mit Mit dem Prävenbei der Arbeit et- dem Präventionsgesetz erstmals tionsgesetz wird was entgegenzu- als eigene Vorschrift definiert. auch ein wichtiger Schritt getan, setzen, wenn sich der Arbeitgeber der Stressbelastung um die Impfbereitschaft in der Bevölbewusst ist und das Thema gemeinkerung zu steigern. Mit einem gansam mit den Beschäftigten und andezen Bündel von Ansätzen wird statt ren Akteuren, wie den Betriebsärzten, einer Impfpflicht dabei weiterhin auf angeht und spezifische Maßnahmen Aufklärung, Information und münentwickelt. dige Bürgerinnen und Bürger gesetzt.

Lebenswelten prägen uns Lebenswelten wie die Gemeinde, der Betrieb oder die Schule prägen unser Gesundheitsverhalten. Sie müssen mitverändert werden, wenn sich das Gesundheitsverhalten dauerhaft verändern soll – dies geht am besten mit den Menschen, die dort leben und arbeiten und mit denen, die dort Verantwortung tragen. Denn gerade dort, wo Menschen in ihren Lebenszusammenhängen direkt erreicht werden sollen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass verlässliche und nachhaltige Strukturen aufgebaut werden. Hierzu sieht das Präventionsgesetz eine Zusammenarbeit der Sozialversicherungsträger, von Bund und Ländern und weiterer relevanter Akteure vor. Erstmals wird es in Deutschland eine an gemeinsamen Zielen ausgerichtete gemeinsame nationale Präventionsstrategie und ein konzertiertes Vorgehen geben, an deren Abstimmung alle Verantwortlichen der Gesundheitsförderung und der Prävention sowie die Vertreter der Patientenorganisationen beteiligt sind. Dadurch werden Ressourcen gebündelt und Aktivitäten in die und in den Lebenswelten gesteuert. Der Gesetzgeber setzt auch auf die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger für ihre Gesundheit. So ist vorgesehen, die Gesundheitsuntersuchungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene fortzuentwickeln und dabei künftig ein stärkeres Augenmerk

Es geht dem Gesetzgeber aber nicht vorrangig um ein Mehr an Präventionsangeboten. Noch wichtiger sind eine zielgerichtete und effektive Koordinierung der Maßnahmen und ein abgestimmtes Zusammenwirken der Verantwortlichen.

Die Erwartungen sind hoch Einen ersten fruchtbaren Niederschlag hat das Präventionsgesetz im Oktober 2015 mit der Konstituierung der von den Spitzenorganisationen der gesetzlichen Kranken-, Unfall-, Renten- und Pflegeversicherung und der privaten Krankenversicherung getragenen Nationalen Präventionskonferenz gefunden. Vier Monate später, im Februar 2016, wurden die ersten trägerübergreifenden Bundesrahmenempfehlungen zu Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten verabschiedet, die für alle Leistungsträger und Verantwortlichen in Lebenswelten wegweisend sind. In den Ländern werden darauf aufbauend eigene Landesrahmenvereinbarungen für regional spezifischen Ziele und Maßnahmen entwickelt. Dabei ist es sehr wichtig, dass die Vereinbarungen gemeinsam mit den Akteuren vor Ort umgesetzt werden. Darin liegt noch einmal ein ganzes Stück Arbeit. Wir wissen, dass sich viele Akteure der Gesundheitsförderung und Prävention eine Kooperation auf Augenhöhe wünschen. Bei naturgemäß nicht immer deckungsgleichen Interessen

der verschiedenen Akteure braucht es Geduld, Respekt und das Wissen um die Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Partner. Und idealerweise fließen die gewonnenen praktischen Erfahrungen einer gelebten Zusammenarbeit in die Fortentwicklung der Bundesrahmenempfehlungen und Landesrahmenvereinbarungen ein. So können sie zu gesundheitlichen Verbesserungen im Lebensalltag der Menschen führen. Gelingt uns dies gemeinsam, dann können wir in Deutschland von einer gelebten Präventionsstrategie sprechen. Die Erwartungen an das Präventionsgesetz waren und sind sehr hoch. Die Architektur des Gesetzes will diese Erwartungen erfüllen. Nun ist die Umsetzung an der Reihe. Wir vertrauen darauf, dass sich alle Akteure ihrer Verantwortung und der Möglichkeiten bewusst sind, die sich ihnen mit der Gestaltung von Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland, innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens, bieten. Wir sollten diese Chance nutzen.

INGRID FISCHBACH

Ingrid Fischbach ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages und Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit

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Foto: Rolf Handke/ pixelio.de

GESUNDHEITSFORSCHUNG

Der kontinuierlich wachsende Datenschatz in Medizin und Forschung wird bislang nur unzureichend genutzt

GESUNDHEITSFORSCHUNG auf einem neuen Level Die Gesundheit der Menschen und die Entstehung von Krankheiten werden von zahlreichen Faktoren beeinflusst. Hierzu zählen auch die Lebensphase, in der sich ein Mensch befindet sowie das Geschlecht. Um die Charakteristika der verschiedenen Bevölkerungsgruppen wie Kinder, Berufstätige oder auch ältere Menschen besser zu erforschen, plant das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hierzu eine Förderinitiative.

entwickeln zu können, müssen Besonderheiten, die die Gesundheit und Entstehung von Krankheiten in bestimmten Bevölkerungsgruppen beeinflussen, intensiver untersucht werden. Für diese Untersuchungen stellt das BMBF bis ins Jahr 2021 rund 100 Millionen Euro zur Verfügung. In einem strategischen Dialog hat das BMBF unter Teilnahme von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis konkrete Aufgaben der Forschung ausgemacht. So wurde aufgezeigt, dass es für jede der Bevölkerungsgruppen eigene bedeutende Forschungsthemen gibt.

Um passende Ansätze zur Gesundheitsförderung, Prävention und Versorgung

Da laut des Robert-Koch-Instituts in Deutschland 16 % der Kinder und Ju-

Von Thomas Rachel, MdB Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung

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gendlichen an chronischen körperlichen und psychischen Erkrankungen leiden, ist es im Hinblick auf diese Bevölkerungsgruppe vordringlich, wie solche Erkrankungen besser vermieden und behandelt werden können. Bislang existierende Therapien und Medikamente sind zumeist auf Menschen mittleren Alters zugeschnitten, so dass wissenschaftlich basierte Ansätze, die speziell auf Kinder und Jugendliche zugeschnitten sind, bisher die Ausnahme bilden. Im Hinblick auf alte Menschen müssen Versorgung und Pflege auf deren Bedürfnisse ausgerichtet sein, um Menschen dieser Bevölkerungsgruppe es auch bei Krankheit zu ermöglichen, eine hohe Lebensqualität zu erzielen. Die medizinische Forschung wird mit anderen Disziplinen wie den Sozialwissenschaften zusammenarbeiten und die Gesundheitsfachberufe beteiligen, um hierfür neue Wege aufzuzeigen. Weitere


GESUNDHEITSFORSCHUNG Schwerpunkte der Förderinitiative sind die Entwicklung von Präventions- und Versorgungskonzepten, die die Unterschiede zwischen den Geschlechtern berücksichtigen, sowie gesundheitsförderliche Strukturen in der Arbeitswelt.

Stärkung der Versorgung am Lebensende In ihrer letzten Lebensphase benötigen schwerkranke Menschen die bestmögliche menschliche Zuwendung, Pflege und Betreuung. Das BMBF verbessert mit einer neuen Förderinitiative die Forschung und damit die Versorgung am Lebensende. Um die Betreuung schwerkranker Menschen in Deutschland zu stärken, wurde ein Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung verabschiedet. Viele schwerkranke Menschen verbringen ihre letzten Lebensmonate in Pflegeheimen oder Krankenhäusern. An dieser Stelle soll die Hospiz- und Palliativversorgung ausgebaut werden. Bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Leistungen der Palliativ- und Hospizversorgung erhalten Versicherte und ihre Angehörigen in Zukunft einen Anspruch auf individuelle Betreuung und Hilfestellung durch ihre Krankenkasse. Konkret wurde Folgendes beschlossen: 0 Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestellung durch die Krankenversicherung bei Hospiz- und Palliativversorgung 0 Erstattung von 95 % der zuschussfähigen Kosten bei stationären Hospizaufenthalten durch die Krankenkassen 0 Bezuschussung für ambulante Hospizdienste für Personal- und Sachkosten 0 Sterbebegleitung wird Bestandteil des Versorgungsauftrages der sozialen Pflegeversicherung; spezielles Beratungsangebot für Pflegeheimbewohner 0 Ausbau der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung in ländlichen Regionen 0 Stärkung der Palliativversorgung in Krankenhäusern (u. a. durch Förderung des Ausbaus multiprofessionel-

ler Palliativdienste) Das BMBF wird die Palliativversorgung weiter voranbringen. Hierzu werden Vorhaben der Versorgungsforschung und klinische Studien sowie Projekte zur Förderung von Nachwuchswissenschaftlern unterstützt.

Medizininformatik in der Bundesrepublik Neben der Hospiz- und Palliativversorgung und der Forschung zur Gesundheit in bestimmten Lebensphasen stärkt das BMBF auch die Medizininformatik in Deutschland. Um Wissen aus der Krankenversorgung und der medizinischen Forschung besser zusammenführen zu können, will das BMBF mit einem neuen Förderkonzept die technischen und strukturellen Voraussetzungen hierfür schaffen und stellt in den kommenden fünf Jahren 100 Mio. Euro zur Verfügung. Der kontinuierlich wachsende Datenschatz in Medizin und Forschung wird bislang nur unzureichend genutzt. Eine riesige Anzahl gesundheitsrelevanter Daten wird jeden Tag in Kliniken, Arztpraxen oder auch in der Forschung erhoben. Die neue Strategie zur Medizininformatik wird dazu beitragen, dass mit Hilfe dieser Informationen genauere Diagnosen und bessere Therapien erfolgen können.

nen Erkrankungen oder die Entwicklung einer individualisierten Krebstherapie sein. Mediziner könnten bei ihrer Diagnose durch ein computergestütztes Informationssystem, das Daten über Befunde und Therapieerfolge von Patienten mit ähnlichen Symptomen beinhaltet, unterstützt werden und so die Patientenversorgung beschleunigen und verbessern. Insbesondere an einer seltenen Erkrankung leidende Patienten müssen oftmals sehr lange warten, bis eine korrekte Diagnose gestellt oder eine optimale Therapie gefunden ist. Mit Hilfe von modernen Informationstechnologien und medizinischen Datensammlungen können heute solche ExpertenSysteme entwickelt werden. Langfristig ist die neue Strategie darauf ausgelegt ein leistungsfähigeres, digital vernetztes Gesundheitssystem zu schaffen. Die Stärkung der Medizininformatik ist Bestandteil der Digitalen Agenda der Bundesregierung. Wir alle profitieren von Innovationen der Forschung, die uns zusätzliche Lebensjahre schenken können. Um die Lebensqualität der Menschen in unserem Land zu verbessern, brauchen wir weiterhin eine starke Gesundheitsforschung.

THOMAS RACHEL

Daten erheben – Patientenversorgung verbessern Die langfristig angelegte Strategie ist in mehrere zeitliche Module eingeteilt: Zunächst sollen Datenintegrationszentren an Universitätskliniken aufgebaut und vernetzt werden. In einem zweiten Schritt sollen in den Zentren die Voraussetzungen dafür geschafft werden, Forschungs- und Versorgungsdaten zu verknüpfen, wobei es unabdingbar ist, die in Deutschland geltenden DatenschutzStandards einzuhalten. Für konkrete Anwendungen werden gleichzeitig innovative IT-Lösungen entwickelt. Diese Anwendungen könnten beispielsweise die IT-basierte Unterstützung von Diagnose und Therapiewahl bei selte-

Thomas Rachel, MdB, ist seit 2005 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung

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Tristesse statt FrühlingserwachenNordrhein-Westfalen fällt weiter zurück

Der Fortschritt in Nordrhein-Westfalen ist eine Schnecke

Von Matthias Kerkhoff, MdL

Die Veröffentlichung von Daten durch das Statistische Landesamt ist normalerweise kein Vorgang, der größere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Im März 2016 war das anders. Es ging um Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung Nordrhein-Westfalens. Die lassen aufhorchen und sollten sämtliche Alarmglocken bei der Landesregierung läuten lassen. Denn Nordrhein-Westfalen, das größte Bundesland, ist im vergangenen Jahr nicht gewachsen. Wirtschaftswachstum Null und das bedeutet Platz 16 und damit den letzten Platz im Ranking der deutschen Bundesländer. Das gab es noch nie. Nicht nur wirtschaftsstarke Länder wie Baden-Württemberg und Bayern liegen vor NRW, sondern selbst strukturschwache Länder wie Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Die Wirtschaft stagniert in

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Nordrhein-Westfalen, während sie im Bundesdurchschnitt um 1,7% wächst. Dieses Nullwachstum und dieser letzte Platz reihen sich ein in eine Kette des Versagens der rot-grünen Landesregierung. Denn unser Bundesland ist viel zu oft Schlusslicht. Dies gilt für die Bildungsqualität, die schlechteste Beschäftigungsquote, wie liegen bei kommunalen Investitionen ebenso hinten wie bei der Aufklärungsquote von Straftaten. Diese Liste ließe sich genauso fortsetzen, wie die Aufzählung der Punkte, wo wir bedauerlicherweise Spitze sind, bei der Verschuldung, der Arbeitslosigkeit und der Kinderarmut. Nun mag man einwenden, was ist denn eigentlich so schlimm daran? Wachstum ist doch schließlich kein

Selbstzweck. Das stimmt. Wirtschaftswachstum ist nicht alles, aber wahr ist auch, die Herausforderungen vor denen wir stehen, sind viel einfacher anzugehen, wenn die Wirtschaft wächst. Dies gilt zum Beispiel für die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. In einem dynamischeren Umfeld gelingt dies einfacher als bei Stagnation und Stillstand. Mehr Wachstum heißt auch mehr Beschäftigung, mehr Steuereinnahmen und weniger Schulden. Aber während andere Bundesländer in die Lage versetzt werden mehr zu investieren, etwa in schnelles Internet oder Verkehrswege, verliert Nordrhein-Westfalen mehr und mehr den Anschluss, denn schon seit Jahren fehlt uns die wirtschaftliche Dynamik. Die so genannte Wachstumslücke auf andere westdeutsche Länder hat sich im Verlauf der Jahre auf

Foto: Timo Klostermeier/ pixelio.de

NRW FÄLLT ZURÜCK


NRW FÄLLT ZURÜCK 10 Prozentpunkte aufsummiert. Es ist wie bei einem Langstreckenlauf. Verliert man den schnelleren Läufer, der vor einem ist aus dem Auge, wird es umso schwerer aufzuholen und irgendwann verliert man den Mut, nochmal zu ihm aufschließen zu können. Das darf nicht passieren. Wir brauchen eine Kehrtwende in der politischen Ausrichtung und wir brauchen diese Kehrtwende schnell. Deshalb muss Schluss sein mit der wirtschaftsfeindlichen Regulierungswut. Dieses Land braucht nicht mehr, sondern weniger Bürokratie. Die Landesregierung muss deshalb unter anderem beim Landesentwicklungsplan, beim Landeswassergesetz, beim Landesnaturschutzgesetz dafür sorgen, dass die Voraussetzungen für eine positive wirtschaftliche Entwicklung stimmen. Dazu gehört unverhältnismäßig hohe Hürden bei der Flächeninanspruchnahme herauszunehmen, Dokumentationsund Berichtspflichten beim Landeswassergesetz auf das notwendige Maß zu beschränken und nicht über bundesrechtliche Vorgaben hinauszugehen und beim Landesnaturschutzgesetz auch die wirtschaftliche Entwicklung der ländlichen Räume in Nordrhein-Westfalen nicht aus dem Blick zu verlieren. Im Kern geht es doch darum, ein positives Umfeld für Investitionen am Standort Nordrhein-Westfalen zu schaffen. Wir sind Industrieland und wollen Industrieland bleiben. Die Wertschöpfungsketten, die von der Grundstoffindustrie bis hin zur komplexen Weiterverarbeitung reichen, müssen erhalten bleiben. Deshalb braucht dieser starke Standort auch starke Partner in der Politik. Die Gefahr einer schleichenden De-Industrialisierung ist nicht von der Hand zu weisen. Seit Antritt der rot-grünen Landesregierung sind fast 3.500 ha Gewerbefläche verlorengegangen. Unternehmen investieren mehr und mehr im Ausland. Unser Bundesland

steht in einem weltweiten Wettbewerb bei Investitionsentscheidungen. Es wird nur dort investiert, wo auf Sicht der nächsten Jahrzehnte die Rahmenbedingungen stimmen und ein positives Klima für wirtschaftliche Betätigung herrscht. Nordrhein-Westfalen hat dabei alle Chancen. Denn es liegt mitten in Europa. In direkter Nachbarschaft zur Benelux-Region. Wir können froh darüber sein, dass wir eine Vielzahl von großartigen Unternehmen haben. Ganz gleich, ob sie als Familienunternehmen oder als Kapitalgesellschaft organisiert sind. Die motivierten und gut ausgebildeten Belegschaften beweisen jeden Tag, dass sie sich im weltweiten Wettbewerb nicht verstecken müssen. Die Fachhochschulen und Universitäten genießen einen hervorragenden Ruf. Nordrhein-Westfalen ist ein starkes Bundesland, aber es wird unter Wert regiert. Nordrhein-Westfalen ist ein Riese in Fesseln und diese Fesseln müssen wir lösen, für mehr Wachstum, mehr Beschäftigung und mehr Chancen für jeden Einzelnen.

MATTHIAS KERKHOFF

Matthias Kerkhoff ist seit 2012 Landtagsabgeordneter für den Hochsauerlandkreis und dort auch CDU-Kreisvorsitzender. Er war Sprecher der CDU-Fraktion in der Enquete-Kommission des Landtags zur Zukunft der chemischen Industrie www.matthias-kerkhoff.de

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Gesellschaft im Wandel – Warum wir

INTEGRATIONSVEREINBARUNGEN

benötigen

Von Michaela Noll, MdB

Mehr als 1.000 000 Menschen haben Deutschland im vergangenen Jahr erreicht, die vor Krieg, Terror und Verfolgung geflüchtet sind. Wir nehmen schutzbedürftige Menschen auf, finanzieren insoweit notwendig ihren Lebensunterhalt und gewährleisten die medizinische Versorgung, Sprach-, Integrations- und Qualifizierungskurse wie auch die Bildung der Kinder. Dazu haben wir uns bei Menschen, die im Sinne der Genfer Konvention politisch Verfolgte sind, auch verpflichtet. Neben den staatlichen Institutionen haben im Besonderen die karitativen und ehrenamtlichen Institutionen sowie die beiden großen christlichen Kirchen mit Caritas und Diakonie Großartiges bei der Aufnahme, Versorgung und Integration von

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Flüchtlingen geleistet. Das ist unser Fundament, das wir weiter stärken und ausbauen wollen. Viele Flüchtlinge, die jetzt nach Deutschland kommen und anerkannt werden, wollen so schnell wie möglich wieder in ihre alte Heimat zurückkehren, sobald sich die Verhältnisse dort normalisiert haben. Dennoch werden viele andere bleiben, weil sie einen dauerhaften neuen Anfang wagen wollen. Das verändert unsere gesellschaftlichen Strukturen. Mit den anerkannten Flüchtlingen gelangen auch verschiedene kulturelle Identitäten, Bräuche und gesellschaftliche Ansichten in unser Land. Desto mehr sind wir als Gesellschaft gefordert, unsere Werte, unser Verständnis von Demokratie und unser Rechtssystem mit aller Deutlichkeit den zu uns geflüchteten Menschen näherzubringen. Jeder Mensch hat in Deutschland die Freiheit und das Recht,

seine kulturelle Identität zu pflegen. Zur Aufrechterhaltung unserer freiheitlichen Grundordnung und zur Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts erwarten wir aber auch von den Schutzbedürftigen, dass sie sich an unser Grundgesetz und unsere Gesetze halten sowie unsere Werte respektieren. Dazu zählt die Meinungs- und Religionsfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Menschenwürde und die Trennung von Staat und Religion. Dies sind Grundpfeiler unserer freiheitlich demokratischen Wertegemeinschaft, auf diesen Grundpfeilern wurzelt unsere Gesellschaft. Sie gelten für alle Menschen in unserem Land.

Es kann nur eine Gesellschaft geben Unser Ziel bei der Integration der Menschen muss deutlich artikuliert werden: Parallelgesellschaften und Paralleljustiz sind Entwicklungen, die wir in Deutsch-

Foto: Dieter Schütz, pixelio.de

INTEGRATION


INTEGRATION

Die Etablierung von verbindlichen Integrationsvereinbarungen haben andere Staaten bereits vollzogen, zum Beispiel Kanada, Schweiz oder Dänemark. Das Modell aus Dänemark, das individuelle Vereinbarungen und Einführungsprogramme für Migranten vorsieht, hat sich bewährt. Als positiv hat sich dabei erwiesen, dass drei Jahre kostenlos Sprachkurse angeboten werden, Migranten innerhalb des Integrationsprogramms sich beruflich weiterentwickeln sowie Praktika absolvieren können. Auch bei uns in Deutschland können wir auf positive Integrationsvereinbarungen zurückgreifen. Schon im Jahr 2012 wurden Integrationsvereinbarungen unter der damaligen Staatsministerin Maria Böhmer in 18 Modellkommunen erfolgreich eingeführt und evaluiert. Die Vereinbarungen haben den Integrationsprozess für alle Beteiligten effizienter, verbindlicher und transparenter gemacht. Darauf sollten und müssen wir aufbauen. Bereits auf dem vergangenen CDU-Bundesparteitag in Karlsruhe hat der CDU Kreisverband Mettmann auf meine Initiative hin einen Antrag mit dem Titel „Für den Zusammenhalt in unserer Wertegemeinschaft – Deutschland braucht ein Integrationsverpflichtungsgesetz“ erarbeitet und eingebracht. Diese Ansicht teilten auch die Delegierten auf dem Bundesparteitag und haben den Antrag vollständig in den Leitantrag des Bundesvorstands, die sogenannte „Karlsruher Erklärung zu

Terror und Sicherheit, Flucht und Integration“, aufgenommen. Ein erster Schritt, dem noch weitere folgen müssen.

Schutz gegen Integration Wer bei uns Schutz sucht, muss bereit sein und sich auch dazu verpflichten, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Wir wollen gleich am Anfang aufzeigen, dass unsere Integrationsförderung Hand in Hand mit Integrationsforderung geht. Eine Integrationsvereinbarung sollte fünf zentrale Forderungen erhalten: Das Erlernen der deutschen Sprache: Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration. Wer deutsch spricht, nimmt am gesellschaftlichen Leben teil und kann sich darüber integrieren. Ich halte daher einen sehr frühen Ansatz beim Spracherwerb für unabdingbar. Bereits im 5. Lebensjahr sollten die Deutschkenntnisse der Kinder überprüft werden. Wenn nötig, wird ein Vorkurs Deutsch angeboten. Außerdem gilt: Wer lange genug Zeit hatte, Deutsch zu lernen, es aber nicht getan hat, muss künftig einen Dolmetscher anteilig bezahlen, wenn er im behördlichen Verkehr noch einen braucht. Achtung unserer Rechts- und Werteordnung: Das Grundgesetz sowie unsere Rechtsordnung sind das Fundament unserer Gesellschaft. Jeder, der bei uns lebt, muss sich daran halten und sie akzeptieren. Bei einer Missachtung sollten konkrete Sanktionen erfolgen. Außerdem muss zum frühestmöglichen Zeitpunkt verpflichtend ein „demokratischer Grundkurs“ besucht werden, der mit der Rechts- und Werteordnung vertraut macht. Wer zu diesem „demokratischen Grundkurs“ nicht erscheint, wird mit Sanktionen rechnen müssen.

Kultursensible Erziehung Leistungen: Nur wer sich eindeutig identifizieren lässt, zum Beispiel über einen Flüchtlingspass, erhält Leistungen. Einem missbräuchlich mehrfachen Leistungsbezug aufgrund Mehrfachidentitäten soll so wirksam begegnet werden. Darüber hinaus fordern wir die Umsetzung der Regelungen aus den Asylpaketen I und II auch auf Landesebene.

Nachhaltige Siedlungs- und Bewohnerstruktur: Die zentrale auf Großflächen ausgelegte Flüchtlingsunterkunft soll vermieden werden. Dadurch soll verhindert werden, dass einzelne Kommunen in ihrer Integrationsfähigkeit überfordert werden. Deshalb wird über die Vergabe von Sozialwohnungen künftig auch eine Strukturkomponente entscheiden. Danach wird neben der Dringlichkeit auch die Bewohnerstruktur im Umkreis berücksichtigt. In der Diskussion um Integrationsvereinbarungen sollte insbesondere auch die Kultursensibilität in der Pädagogik stärker in den Fokus gerückt werden. Das Anforderungsprofil an Erzieher und Lehrer ändert sich durch die höhere Anzahl von Kindern und Jugendlichen aus anderen Kulturkreisen und insbesondere aus Flüchtlingsstaaten. Die kultursensible Erziehung soll deshalb noch umfassender in die Ausbildungs- und Fortbildungsangebote für Erzieher und Lehrer aufgenommen werden. Ein Schwerpunkt-Thema sollte der Umgang und die Betreuung von traumatisierten Kindern sein. Integration ist ein Prozess von beiden Seiten, der nur gelingen kann, wenn wir die hier lebende Bevölkerung mitnehmen. Ich bin überzeugt: Wir können eine Gesellschaft schaffen, in der nicht zählt, woher einer kommt, sondern wer er ist.

MICHAELA NOLL Foto: Tom Peschel

land nicht akzeptieren. Bei uns kann es nur eine Gesellschaft geben. Daher brauchen wir einen rechtlichen Rahmen für verbindliche Eingliederungsvereinbarungen. Darin muss klar gegliedert sein, wer für die Aufgabe der Integration zuständig ist, welche finanziellen Mittel dafür bereitstehen und wer welche Sanktionen oder Auflagen bestimmen darf. Beide Seiten verpflichten sich, in diesem Prozess ihren Teil zur Integration zu leisten. Bisher ist der Weg zur Integration noch zu lang und zu steinig. Es vergeht zu viel Zeit, bis dieser Prozess überhaupt Fahrt aufnehmen kann. Das gilt insbesondere für den Zugang zu Integrationskursen, Kita, Arbeit oder Fortbildung. Das wollen und müssen wir verbessern.

Michaela Noll gehört dem Deutschen Bundestag seit 2002 an. Sie vertritt seit 2005 den Wahlkreis Mettmann I als Abgeordnete. Seit 2010 ist sie Parlamentarische Geschäftsführerin der CDU/CSU-Fraktion

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ERBSCHAFTSTEUER

Bis Juli muss die Politik die komplizierte Erbschaftsteuer reformieren. Wie sieht der Plan der Bundesregierung aus – und welche Auswirkungen hätte das für den Mittelstand?

Die Erbschaftsteuerreform Erbschaftsteuer

Das Prinzip einer Erbschaftsteuer ist leicht erklärt: Wer das Vermögen eines verstorbenen Menschen annimmt, muss darauf eine Steuer zahlen. Für Zuwendungen unter Lebenden wird dagegen eine Schenkungsteuer erhoben. Beides wird in Deutschland im Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz (ErbStG) geregelt. Für beide Steuerarten gelten fast dieselben Regelungen. Ob und in welcher Höhe eine Steuer anfällt, hängt von mehreren Faktoren ab, etwa dem Wohnsitz, dem Verwandtschaftsgrad und dem Vermögenswert. Ebenso wie Privatvermögen fallen auch Betriebsvermögen unter die Regelungen des ErbStG. Entscheidend für die Höhe der Besteuerung ist der Unternehmenswert (Verkehrswert). Dabei wird nicht zwischen Einzelunternehmen, Personen- und Kapitalgesellschaften unterschieden.

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Relevanz für den Mittelstand

Deutschland ist das Land der Familienbetriebe: Rund 27.000 Unternehmen werden hierzulande jährlich „vererbt“, also an die nächste Generation übertragen. Nach Schätzungen des IfM Bonn erfolgen mehr als 80 Prozent der Nachfolgen altersbedingt. Bei etwa der Hälfte der Übergaben handelt es sich um familieninterne und bei 29 Prozent um familienexterne Nachfolgen. Fast alle dieser Betriebe sind Mittelständler.

Was bringt die Erbschaftsteuer?

Das Bundesfinanzministerium schätzt, dass die Erbschaftsteuer dem Fiskus 2014 rund 5,3 Milliarden Euro eingebracht hat. Das entspricht einem Anteil am Steueraufkommen von 0,8 Prozent. Der Bund legt die Steuer zwar fest, die Einnahmen aber behalten die Länder.

Derzeitige Regelung

Nach einer Reform der Erbschaftsteuer und weiteren Anpassungen ab 2009 wur-

den Unternehmensnachfolgen erleichtert. So sieht ein Verschonungsabschlag vor, dass 85 Prozent des Betriebsvermögens steuerfrei bleiben, wenn das Unternehmen fünf Jahre fortgeführt wird. Damit sollen Arbeitsplätze gesichert werden. Die Voraussetzungen dafür: Die Lohnsummen dürfen innerhalb von fünf Jahren nach dem Erwerb 400 Prozent der Ausgangslohnsummen nicht unterschreiten. Zudem darf das Verwaltungsvermögen beim Betriebsübergang nicht mehr als 50 Prozent betragen. Alternativ kann sogar eine komplette Steuerbefreiung beantragt werden. Dann darf die Lohnsumme innerhalb von sieben Jahren 700 Prozent nicht unterschreiten und das Verwaltungsvermögen nicht mehr als zehn Prozent betragen. Bei Betrieben mit weniger als 21 Beschäftigten sind diese Voraussetzungen nicht erforderlich – sie sind ganz von der Erbschaftsteuer befreit.

Verfassungsgerichtsurteil

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat Ende 2014 entschieden: Die seit 2009 geltenden Vergünstigungen sind verfassungswidrig. Das BVerfG urteilte, dass


ERBSCHAFTSTEUER kleine und mittlere Familienunternehmen zwar steuerlich begünstigt werden dürfen. Die Richter schrieben aber bei Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern eine Bedürfnisprüfung vor. Bis zum 30. Juni 2016 müsse die Politik eine Neuregelung treffen, so das BVerfG.

Regierungsentwurf

Das Bundeskabinett hat am 8. Juli 2015 einen Gesetzentwurf zur Anpassung des ErbStG beschlossen. Danach sollen zunächst die derzeit gültigen Verschonungsregeln übernommen werden. Hinsichtlich der oben beschriebenen Lohnsummenregelung soll stärker nach der Mitarbeiterzahl differenziert werden als bisher. Die vollständige Befreiung von der Erbschaftsteuer soll erst für Betriebe mit bis zu drei Beschäftigten gelten. Bei vier bis zehn Beschäftigten gilt eine Pflicht zur Weiterführung des Betriebs von fünf Jahren und eine Lohnsummenregelung von 250 Prozent (optional sieben Jahre und 500 Prozent). Bei elf bis 15 Beschäftigten gilt eine Frist von fünf Jahren und eine Lohnsumme von 300 Prozent (optional sieben Jahre und 565 Prozent). Beim Erwerb großer Betriebsvermögen über 26 Millionen Euro greift ein weiteres Stufenmodell (mit Bedürfnisprüfung). Zudem sieht der Entwurf vor, dass nur das „begünstigte Vermögen“ (überwiegend aus wirtschaftlicher Tätigkeit, nicht aus Verwaltungsvermögen) verschont werden kann. Der Gesetzentwurf soll nicht rückwirkend gelten.

Was passiert, wenn nichts passiert?

Das BVerfG hat Ende März klargestellt, dass die Normen des Erbschaftsteuerrechts zunächst auch nach dem 30. Juni 2016 anwendbar seien. Dann wäre jedoch die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu erneuten Klagen gegen das Gesetz kommt. Das BVerfG hätte dann Gelegenheit, sein Urteil von 2014 zu präzisieren – möglich, dass es dann zu einer Verschärfung kommt.

Bewertung

Der Regierungsentwurf würde für Firmenerben langfristig teurer werden als bisher. Das geht aus Modellrechnungen des Bundesfinanzministeriums hervor. Die ersten Jahre würde der Fiskus jährlich rund 180 Millionen Euro mehr einnehmen,

nach zehn Jahren wächst die Masse aber auf rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr an. Denn die Rechtsunsicherheit hat dazu geführt, dass viele Unternehmen schon vorzeitig Schenkungen vorgenommen haben. Nach einem Koalitionsbeschluss soll die Reform aufkommensneutral sein. Das Regierungskonzept würde die Belastungen für Erben dagegen langfristig um 30 Prozent erhöhen. Der SPD ist das zu wenig. Ein SPD-Reformkonzept sieht eine Verdoppelung der Einnahmen auf acht bis zehn Milliarden Euro vor, die Grünen wünschen noch mehr Staatseinnahmen. Wirtschaftsverbände kritisieren die geplante Berücksichtigung von bereits vorhandenem Privatvermögen bei der Besteuerung. Der Verband der Familienunternehmer befürchtet wegen der restriktiven Vorgaben des Entwurfs einen höheren Verwaltungsaufwand. Aus Sicht des CDU-Wirtschaftsflügels beinhaltet der Regierungsentwurf unrealistische Unternehmensbewertungen, was überhöhte Steuerbelastungen provozieren würde. Der Abbau der Verschonungsregelungen führt in Verbindung mit hohen Steuersätzen zu drastischen Steuererhöhungen. Man schätzt die jährlichen Mehrbelastungen der Wirtschaft auf rund sieben

Milliarden Euro. Die zahlreichen Ausnahmen und Verschonungsregeln würden zu einer abermaligen Verfassungswidrigkeit der Erbschaftsteuer führen

Alternativkonzept

Die bayerische Mittelstandsunion (MU) schlägt ein Flat-Tax-Modell vor. Danach fällt zunächst die Unterscheidung zwischen notwendigem und nicht notwendigem Betriebsvermögen weg. Das gesamte Betriebsvermögen wird begünstigt besteuert, was Immobilienunternehmen nicht mehr benachteilige. Die Besteuerung der Unternehmenswerte richtet sich im MU-Modell nicht an der Vergangenheit aus, sondern an den tatsächlichen Gewinnen nach der Betriebsübergabe. Die Steuer wird im Erhebungszeitraum von zehn Jahren jährlich erhoben. Als Steuersatz sieht das MU-Modell einen einheitlichen Steuersatz von drei Prozent des Betriebsgewinns vor. Aufwändige Stundungsregelungen können entfallen. Für Kleinunternehmen soll ein Freibetrag von 100.000 Euro bei der jährlichen Bemessungsgrundlage eingerichtet werden. Das Modell käme somit ohne Steuererhöhungen aus. Aus: Mittelstands Magazin/ Hubertus Struck

Erbschaftsteuer im internationalen Vergleich Land

Allgemeine Vergünstigungen für Spezielle Vergünstigungen für Unternehmen Familienunternehmen

Schweiz

80-prozentige Reduktion der Steuerlast

Deutschland 85- bzw. 100-prozentiger Bewertungsabschlag

Wie allg. Vergünstigungen

Österreich

Keine Erbschaftsteuer

Keine Erbschaftsteuer

Spanien

95-prozentiger Bewertungsabschlag

Finnland

60-prozentiger Bewertungsabschlag

Wie allg. Vergünstigungen

Frankreich

75-prozentige Steuerbefreiung

Wie allg. Vergünstigungen

Irland

90-prozentiger Bewertungsabschlag

Wie allg. Vergünstigungen

Italien

Steuerbefreiung (Kind ist Erbe)

Niederlande 83-prozentiger Bewertungsabschlag

Wie allg. Vergünstigungen

Polen

Steuerbefreiung

Vereinigtes Königreich

50 bis 100-prozentige Steuerbefreiung Wie allg. Vergünstigungen Quelle: Die Familienunternehmer; eigene Recherchen

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KOLUMNE KOMMENTAR

Das Pflegestärkungsgesetz III: Auf dem Weg zur guten Pflege? Aller guten Dinge sind drei. Das gilt auch für die Pflegereform der Bundesregierung. Auf Basis der Empfehlungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe wird derzeit der Entwurf des dritten Pflegestärkungsgesetzes (PSG III) erarbeitet. Das Ziel: Die Rolle der Kommunen in der Pflege zu stärken. Wesentliche Maßnahmen sind ein besseres Schnittstellenmanagement zwischen Ländern und Pflegekassen. Diese sollen verpflichtend in regionalen Gremien beteiligt werden und dazu beitragen, die Versorgung der Pflegebedürftigen sicherzustellen. Geplant ist, dass die Kommunen zur besseren Beratung Pflegestützpunkte einrichten dürfen. Darüber hinaus sollen sie künftig ihre unterstützenden Angebote im Alltag auch in Form von Sachund Personalmitteln einbringen können.

wir uns bei jedem Schritt fragen, was den Pflegebedürftigen nützt und ihren Alltag verbessert. Es geht darum die Chancen des technischen Fortschritts für eine Verbesserung der Qualität in der Pflege zu nutzen. Packen wirs an. Herzliche Grüße

Ihr Gottfried Ludewig

Das ist der richtige Schritt, denn gute Pflege kann nur vor Ort organisiert werden. Dabei muss künftig noch stärker als bisher der technische Fortschritt genutzt werden. Unser gemeinsames Ziel sollte die Pflege 4.0 sein: Digitale Pflegeplanungs- und -dokumentationssysteme sind noch nicht flächendeckend verbreitet. Dabei könnten sie Prozesse wie etwa die Aktualisierung eines Medikationsplans beschleunigen. Auch dem bevorstehenden Fachkräftemangel in der Pflege, insbesondere im ländlichen Raum, könnten digitale Anwendungen entgegenwirken und Pflegefachkräfte besser miteinander vernetzen. Dabei ist Digitalisierung nicht ein Wert an sich, vielmehr müssen

GOTTFRIED LUDEWIG

Dr. Gottfried Ludewig, MdA, ist seit 2011 gesundheitspolitischer Sprecher und stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Als Koordinator der gesundheitspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Landtagsfraktionen organisiert er eine jährliche Tagung in Berlin

Impressum

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Verlag: GK Mittelstands Magazin Verlag GmbH Günter F. Kohl Gärtnerkoppel 3 24259 Westensee/ Kiel Tel. 04305-992992 / Fax 04305-992993 E-Mail: gkprkiel@t-online.de

Herausgeber: Dr. Mathias Höschel, Frank Rudolph

Anzeigenverkauf: Über den Verlag

Satz und Layout: Walter Katofsky, Kiel

Anzeigenschluss: 24. August 2016

Druck: UBG Rheinbach

Am Puls

2 | 2016

Redaktion: Tim A. Küsters, redaktion-ampuls@gmx.de Internet: www.issuu.com/ampuls

Titelfoto: Helene Souza, pixelio.de Abonnement Einzelheft: 24,- Euro pro Jahr bei 4 Ausgaben Das Magazin am puls erscheint viermal im Jahr jeweils zur Mitte eines Quartals.


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