Alnatura Magazin - Dezember 2016

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ZEIT WISSEN

Warum wir hoffen Keine Berechnungen können vorhersagen, was passieren wird, kein Modell, keine wissenschaftliche Methode – und daran verzweifeln wir, sagt der Freiburger Philosoph und Mediziner Giovanni Maio. Ein ZEIT WISSEN-Gespräch über Hoffen und Scheitern-Können.

Herr Maio, viele Menschen blicken mit Sorge in die Zukunft. Von Zuversicht keine Spur. Ist das nur den schlechten Nachrichten aus aller Welt geschuldet? Wir leben in einer Zeit, in

der wir vor lauter Rechnen das Hoffen verlernt haben. Wenn dann die Unabsehbarkeit der Zukunft deutlich vor Augen tritt, verzweifeln wir, weil wir verlernt haben, Vertrauen in eine ungedeckte Zukunft zu haben. Hoffnung ist eine Loslösung vom Anspruch auf eine Erfolgsgarantie und die Gewissheit, dass es Sinn macht, an das Morgen zu glauben. Also besser nicht aufhören zu hoffen? Ein Mensch, der nicht hofft, verzichtet auf seine Freiheit. Der verzweifelnde Mensch meint im Grunde zu wissen, wie die Zukunft sein wird. Er hat nicht die Geduld zu warten. Das ist der erste Fehler. Der ­zweite: Er möchte die Zukunft auf einen ganz konkreten Inhalt festzurren. Und wenn der nicht eintritt, wird alles sinnlos. Dann handelt der Mensch nicht mehr. Zukunft anzunehmen bedeutet ja nicht, fatalistisch zu sein. Die Hoffnung geht vielmehr mit einem Gestaltungsimpuls einher, sie ist zentraler Antrieb zur Gestaltung der Zukunft, die aber erst als eine grundsätzlich offene anerkannt werden muss. Derjenige, der alles hinschmeißt, nimmt sich die Freiheit, die Zukunft zu gestalten. Seit Jahren hören wir hingegen, es gebe keine Alternativen – wie ein Mantra. Das Projekt der Moderne ist die Abschaf-

Foto: Cira Moro / laif

fung der Kontingenz: Wir möchten am liebsten über alles verfügen und ordnen die Zukunft und die Welt unserem Willen unter. Unsere Emanzipation von der Welt besteht jedoch nicht nur darin, sie zu gestalten, sondern auch darin, zu lernen, sie erst einmal anzunehmen, wie sie ist. Das haben wir verlernt, vor allem durch eine Technisierung der Welt, aber auch durch eine Ökonomisierung der sozialen Verhältnisse, die alle Lebensbereiche bürokratisiert hat. Das empfindet der Mensch als Sachzwang, dem er sich ausgeliefert fühlt.

dass wir glauben, wir könnten uns ganz auf uns allein verlassen. In der Konfrontation mit der Welt realisieren wir, dass wir nicht alles alleine gestalten können. Zuversichtliche Menschen gelten so manchen als oberflächlich und naiv. Was antworten Sie den Realisten? Der hoffende

Mensch ist das Gegenteil des blauäugigen Menschen. Zuversicht heißt: die Realität klar erkennen und dennoch die Offen­ heit der Zukunft als gegenwartsgestaltend anerkennen. Der hoffende Mensch ist kein Optimist, der einfach das ScheiternKönnen ausblendet. Er lebt im Bewusstsein seines Bedrohtseins. Der Optimist blendet das Bedrohliche der Zukunft aus. Und der Realist, so wie Sie ihn beschreiben, ist eher ein Pessimist, der ungeduldig ist und lieber gleich aufgibt, als sich der Zukunft zuzuwenden. So gesehen, scheinen die Menschen mit der größten Hoffnung derzeit die Hunderttausenden Flüchtlinge zu sein, die nach Europa wollen. Haben diese den Europäern sogar etwas voraus? Sie haben einen viel klareren Blick auf das,

was wichtig ist. Es geht uns in Europa so gut wie nie zuvor, nur ertragen wir die Offenheit der Zukunft nicht. In der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen könnten wir sehr viel über unseren eng geführten Blick lernen. Immer mehr Menschen empfinden die Ankunft der Flüchtlinge allerdings als Bedrohung. Nicht als Chance, zu lernen.

Das Lernen kann nur in der direkten Begegnung stattfinden. Das können Sie nicht verordnen. Diese Begegnungen dürfen andererseits nicht in der Form des gönnerhaften Helfens ablaufen. Es geht darum, dass sich gleichwertige Menschen begegnen. Sonst besteht die Gefahr eines moralischen Imperialismus unsererseits.

Ist das Hoffen in jedem Menschen angelegt? Oder hat es Voraussetzungen? Zunächst einmal kann man alleine nicht

Sie sind auch Medizinethiker. Warum misstrauen heute viele Leute der Medizin und setzen ihre Hoffnung auf alternative oder esoterische Heilverfahren? Die Medizin interpretiert

hoffen. Hoffnung hat unabdingbar eine Gemeinschaftsdimension, wie auch Gemeinschaft ohne Hoffnung nicht entstehen kann. Wenn wir nicht auf andere Menschen vertrauen, können wir auch nicht hoffen. Die Technisierung hat dazu geführt,

Hoffnung einseitig. Dadurch schielen Patienten verbissen auf die Heilung. Sie müssten eher von den Ärzten dazu angeleitet werden, auch dort, wo die Heilung nicht eintritt, die Gestaltbarkeit der Zukunft zu erkennen und sich gerade nicht ausge-

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