Der GULag im russischen Gedächtnis

Page 36

Interpretation & Darstellung

Panorama der Siedlung Central‘nyj. Links Wohnhäuser, rechts das Klubhaus, im Hintergrund die Toreinfahrt in die bestehende Strafkolonie IK-35.

von inszenierter Authentizität verdeutlicht vor allem, dass es wichtig ist, zu fragen, womit wir uns identifizieren wollen. Was sehen wir in diesem DAS, was damals war? Oder anders gefragt, woran wollen wir uns erinnern und warum wollen wir uns erinnern? Die Identifikation mit einem negativen Teil der russischen Geschichte über die emotionale Begegnung mit „authentischen“ Gedächtnisorten stellt die affirmative, nationale Geschichtspolitik in Frage und kann zu einer weitergehenden Auseinandersetzung führen, in der dann die entscheidende Frage nach den Ursachen gestellt wird: „Wie konnte es dazu kommen? Und wie verhindern wir, dass sich ähnliches in Zukunft wiederholt?“ „Das Gedächtnis ist die Gegenwart der Vergangenheit“, wusste schon Augustinus. In dem geschlossenen Dörfchen Central’nyj besuchten wir ein Museum, das nicht die Erinnerung an politische Repressionen inszeniert, sondern das kollektive Gedächtnis der Dorfbewohner repräsentiert, die fast alle in der immer noch bestehenden Arbeitsbesserungskolonie „IK-35“ arbeiten oder gearbeitet haben. Hier, wo Häftlinge in Sträflingskleidung schweigend über den Platz laufen, wo das sowjetisch anmutende Klubhaus an die Mauern des Lagers grenzt, wo die „zona“ einfach ein Arbeitsplatz ist und wo Bilder von Kriegshelden neben alten Fotos von Feierlichkeiten der Lagermitarbeiter hängen, ist die Illusion des Authentischen fast vollkommen: als wären wir wirklich noch in der Sowjetunion. Auch wenn ich weiß, dass sich hinter den Lagermauern nicht Solženicyns Gulag verbirgt, scheinen hier Vergangenheit und Gegenwart sehr nah beieinander zu liegen. Und das ganz ohne Inszenierung.

Zwischenruf

Neue Generationen – neue Formen des Gedenkens. Ulrike Huhn Die Tage in Stvor waren für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unbestrittener Höhepunkt der Forschungsreise, dies allerdings nicht nur wegen des abenteuerlichen Anfahrtsweges und der wunderbaren Natur. In ihren reflektierenden Essays über die Rezeption und Wirkung der besuchten Orte gaben deutsche wie russische Teilnehmer/-innen dem Erinnerungsort Stvor Vorzug vor der Gedenkstätte „Perm-36“. Der Permer Student Alexander Aslanjan sprach über „Perm-36“ als „Mumifizierung der Erinnerung“, auf die Permer Studentin Marija Chudinova wiederum erweckte die Gedenkstätte den Eindruck einer „Attrappe“. Dagegen sei der „bescheidene Erinnerungsort Stvor“, an dem eine fast „mystische Stille“ herrsche, viel „ergreifender und berührender“. Auch die deutsche Teilnehmerin Nadja Douglas zeichnete eine ganz ähnliche Trennlinie zwischen dem Museum Perm-36, dem

34


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.