Risiko

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Risiko bleibt riskant

05/2011 • 7,90€ (D)



I N H A LT agora42

Personen

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Editorial

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Prolog

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Parallaxe der faule schwan

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Ökonomische Theorien das schöngerechnete risiko

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Philosophische Perspektive risiko normalität

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Grundannahmen der Ökonomie nichtwissen – ein unumgängliches risiko

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Heiner Flassbeck/Friederike Spiecker risiko deutschland

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Frank Böckelmann trugbild sicherheit

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Eckhard Cordes scheinriese deutschland

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Interview • Torsten Hinrichs »Das Risiko ist größer geworden«

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Speakers’ Corner

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Portrait mustafa kemal atatürk

Ariadne von Schirach risiko zombie oder warum es sich lohnt, das leben zu wagen

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Gedankenspiele

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Zahlenspiele

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Auf dem Marktplatz

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Plutos Schatten

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Pro/Contra

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Impressum

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Para l l a xe

DER FAULE SCHWAN wissen ist macht. dieses geflügelte wort geht auf den englischen philosophen francis bacon zurück. wenn aber wissen macht ist, was ist dann erst der glaube? der glaube, so heisst es, kann sogar berge versetzen. er wäre mithin eine macht, die unser wissen – zumindest unser heutiges – bei weitem übertreffen würde.

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agora42 • Parallaxe • DER FAULE SCHWAN


agora42 • Parallaxe • DER FAULE SCHWAN

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P h i l o s o p h i s c h e Pe r s p e k t i v e

R I SIKO NORM ALI TÄT die gefährlichen menschen sind jene, die nicht wahrhaben wollen, dass die welt nicht in ordnung ist, die auf die verrückte fantasie von normalität angewiesen sind, um ihrem leben struktur zu geben. diese menschen sind das risiko.

Es gibt zwei Sorten von Spießern. Die einen wollen aus der Normalität ausbrechen. Sie suchen das Risiko, indem sie zum Beispiel Sportarten ausüben, bei denen sie ihr Leben oder ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Oder sie wollen sich durch alternative Lebensentwürfe von der gesellschaftlichen Normalität abgrenzen und geben dadurch ihrem Dasein einen riskanten Anstrich. Die andere Sorte sind die klassischen Spießer, jene also, die sich in der Normalität einrichten, die ihr Dasein biedermeierlich geordnet über die Runden bringen und dabei vor allem auf Bequemlichkeit und Schmerzvermeidung bedacht sind. Warum sind beide Sorten Spießer? Weil beide dem Glauben anhängen, dass so etwas wie eine Normalität existieren würde. Weil sie ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass es einen geordneten Hintergrund gibt, einen gesellschaftlichen Normalzustand, den auch der Risikospießer voraussetzt, der seine sichere Basis bildet, von der aus er beispielsweise zu einer lebensgefährlichen Klettertour aufbricht und zu dem er wie in Mutters Schoß zurückkehrt, wenn’s denn geklappt haben sollte

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mit der Lebensgefahrüberwindung. Eine Rückkehr, die auch manch wagemutiger Unternehmer bereits im Hinterkopf hatte, bevor er sein waghalsiges Unternehmen begann. Oder der Spekulant, der ja heutzutage kaum befürchten muss, von einer aufgebrachten Menschenmenge gelyncht zu werden.

Spinner und Lemminge Die einen wie die anderen Spießer geraten gerne miteinander in Konflikt. Für die klassischen Spießer sind die Risikospießer Spinner, die die Normalität nicht wertschätzen. Für die Risikospießer sind die klassischen Spießer Lemminge, die sich von billigen Konsumversprechen an der Nase herumführen lassen. Erscheint den einen die Lebensweise der anderen als zu riskant, wird ihnen von den anderen vorgeworfen, zu wenig Risiko einzugehen. Dieser Konflikt bildet jedoch nur die Oberfläche, unter der sich die eigentliche Motivation verbirgt. Denn tatsächlich dient die Abgrenzung gegenüber dem jeweils anderen Lebensentwurf als Rechtfertigung für den eigenen Standpunkt. Nun könnte man sagen: „Alles kein Problem, sollen sie doch machen, was sie wollen, die Spießer“. Falsch, denn Spießigkeit ist ein unverantwortliches Risiko für das Gemeinwesen. Warum? Die klassischen Spießer verschließen sich der persönlichen Fortentwicklung, indem die Erhaltung des (normalen) Status quo für sie höchste Priorität hat. Denn eine solche Fortentwicklung kann ohne Brüche, das heißt ohne die zeitweise Aussetzung des Status quo, nicht erfolgen. So berauben sie sich nach und nach ihrer Freiheit. „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“, soll Benjamin Franklin gesagt haben. Mit anderen Worten: der entwurf von normalität trägt von vornherein sein eigenes scheitern in sich. Das trifft natürlich auch auf die Spießer zu, die keine sein wollen, sich aber dennoch an der Normalität des klassischen Spießers orientieren. Denn ohne diese Abgrenzung wäre auch ihr eigener Lebensentwurf hinfällig.

agora42 • Philosophische Perspektive • RISIKO NORMALITÄT


agora42 • Philosophische Perspektive • RISIKO NORMALITÄT

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„W E R S E I N E E R W I RT S C HA F T E T E PRO D U K T I V I TÄT N IC H T ‚V E RF RÜ H S T Ü C K T ‘ , B E DRO H T A L L E Ü B R IG E N M A R KT T E I L N E H M E R U N D S C H L I E S S L IC H AU C H S IC H S E L B S T.“ (Heiner Flassbeck/Friederike Spiecker. In: „Blätter für deutsche und internationale Politik“, September 2005)

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agora42 • Heiner Flassbeck/Friederike Spiecker • RISIKO DEUTSCHL AND


He iner Fla ss b e c k / F r i e d e r i k e Spiecker

R I SIKO DEU T S C HL A ND

Dieser Tage ist viel von Risiko die Rede, vor allem von dem Risiko, dem sich Deutschland aussetzt, wenn es hoch verschuldete Euro-Länder aus ihren – so die feste Überzeugung deutscher Medien – selbst eingebrockten Schwierigkeiten herauskauft. Das steht in seltsamem Kontrast zu den Hoffnungen, die man sich vor zwölf

und mehr Jahren im Hinblick auf die Europäische Währungsunion (EWU) gemacht hat: So waren es in erster Linie die deutschen Exportunternehmen, die erwarteten, nun endlich mit einer Währung rechnen zu können, die ihnen nicht alle paar Jahre buchstäblich einen Strich durch die Rechnung macht, indem sie gegenüber

agora42 • Heiner Flassbeck/Friederike Spiecker • RISIKO DEUTSCHL AND

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agora42 • Eckhard Cordes • SCHEINRIESE DEUTSCHL AND


Eck h ard Cordes

S C HE I N R I E S E DEU T S C HL A N D die bundesrepublik und ihre wirtschaft stehen vor grossen herausforderungen: der sicherung der energieversorgung, der demographischen zeitbombe, der vermittlung einer erstklassigen bildung, vor explodierenden staatsschulden und asiens rasantem aufstieg.

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F I N A N Z T R A N S A K T IO N S S T E U E R

P ro

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Contra

Eine Idee setzt sich durch

Mehr Schaden als Nutzen

Die Idee ist nicht neu. Schon John Maynard Keynes hatte sie in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts ins Spiel gebracht, und in den 70ern griff sie der Nobelpreisträger James Tobin wieder auf: die Besteuerung des Handels mit Finanzvermögen – also mit Aktien, Anleihen, Derivaten und Devisen – durch eine Finanztransaktionssteuer (FTS). Seit der Asienkrise 1998 haben sich Nichtregierungsorganisationen und heterodoxe Ökonomen (das heißt Ökonomen, die nicht den ökonomischen Mainstream vertreten) der Idee angenommen. Inzwischen spricht vieles dafür, dass die FTS kurz vor der Einführung steht, zumindest in der EU. Die Bundesregierung ist dafür, ebenso Frankreich, Österreich, Belgien, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission. Der Grundgedanke der FTS ist eigentlich nahe liegend: Beim Kauf eines jeden Laib Brots und jeder Dienstleistung wird Mehrwertsteuer fällig, während der Kauf eines Aktienpakets oder eines Futures nicht besteuert wird. Das ist eine nicht zu rechtfertigende Privilegierung des Finanzsektors. Zumal in diesem Sektor besonders viel Geld gemacht wird. Allein in den zehn Jahren vor der Finanzkrise hat sich das Vermögen derer, die über mehr als eine Million liquides Finanzvermögen verfügen (also Immobilien,

Sollen Finanztransaktionen künftig in Deutschland oder ganz Europa besteuert werden? Wirft man einen Blick in das Tableau der aktuellen Finanzplanung des Bundes, so scheint diese Frage von Seiten der Politik bereits beantwortet zu sein. Denn hier werden bereits ab 2012 jährliche Einnahmen in Höhe von zwei Milliarden Euro aus dieser neuen Steuer verbucht. Jedoch nicht nur Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, sondern auch EU-Steuerkommissar Algirdas Semeta hat ein Auge auf diese mögliche Einnahmequelle geworfen und öffentlich erklärt, die europaweite Finanztransaktionssteuer solle in Zukunft eine eigenständige Einnahmequelle für den europäischen Haushalt werden. Wohl wissend, dass ein derartiger Plan in den arg von der Finanzkrise gebeutelten Mitgliedsländern auf wenig Gegenliebe stoßen wird, hat man in Brüssel bereits eine geschickt austarierte Kompromisslösung gebastelt und plant nun, dass beide Seiten ein Stück von diesem Steuerkuchen abbekommen sollen. Hierzu gibt es auch schon konkrete Vorstellungen, wonach die EU einen Mindeststeuersatz von 0,1 Prozent auf den Handel mit Aktien und von 0,01 Prozent auf den Handel mit Derivaten erhebt und die Mitgliedsstaaten einen in eigener Regie festgelegten Zuschlag zusätzlich erheben dürfen.

agora42 • PRO/CONTRA


Luxusgüter etc. nicht gerechnet) von 15 Billionen auf mehr als 40 Billionen US-Dollar fast verdreifacht. Welcher Lohn- oder Gehaltsempfänger kann das von sich behaupten? Würde man jeden Verkauf eines Finanzvermögenswertes mit einem geringen Steuersatz von nur 0,05 % besteuern, kämen nach Berechnungen des Wiener WIFO-Instituts weltweit Einnahmen in der Größenordnung von jährlich 650 Mrd. US-Dollar zustande. Das ist etwa drei Mal so viel wie die gesamte Entwicklungshilfe der Industrieländer zusammen. Eine FTS nur in der EU brächte immerhin noch 310 Mrd. US-Dollar ein. Die EU-Kommission kommt unter Zugrundelegung einer schmaleren Steuerbasis, bei der nur Aktien und Anleihen, nicht aber Devisen und Derivate besteuert würden, immerhin noch auf circa 30 Mrd. Euro. Das entspräche einem Viertel des EU-Haushaltes von 2011. Die Zivilgesellschaft fordert, dass zumindest ein beträchtlicher Teil der Einnahmen aus einer FTS zur Finanzierung globaler öffentlicher Güter wie Klimaschutz und Armutsbekämpfung eingesetzt wird. Wie weit sie sich damit durchsetzen wird, ist offen. Denn vor dem Hintergrund der Finanz- und Eurokrise wollen die Finanzminister der EU-Länder das Geld für andere Zwecke, vorneweg die Haushaltskonsolidierung, verwenden. Brüssel will die Steuereinnahmen gar für den EU-Haushalt verwenden. Die FTS hat nicht nur enormes Einnahmepotenzial, sondern auch eine interessante Lenkungswirkung: Sie kann die Finanzspekulation eindämmen. Tobin sprach davon, „Sand ins Getriebe“ zu werfen. Die modernen Techniken der Spekulation setzen darauf, selbst kleinste Kursschwankungen im Bereich eines Hundertstel Prozents an jedem Finanzplatz des Planeten für spekulative Operationen zu nutzen. Insbesondere der sogenannte High Frequency Trade – das ist vollständig automa-

Bereits dieser Vorschlag macht nur allzu deutlich, dass sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene die negative Stimmung gegenüber den Banken in der Rolle der geldgierigen Spekulanten und damit zugleich als Verursacher der Finanz- und Schuldenkrise genutzt werden soll, um sie unter dem moralischen Deckmantel zur Kasse zu bitten. Wurde bereits 1802 vom französischen Ökonomen und Philosophen Francois Canard der Grundsatz geprägt, „Alte Steuern sind gute Steuern“, so gilt im 21. Jahrhundert eher der politische Slogan: „Neue Steuern sind willkommene Steuern.“ Dienen sie doch zur Finanzierung der riesigen Haushaltslöcher. Jedoch ist in jedem finanzwissenschaftlichen Lehrbuch vermerkt, dass die Güte und Legitimation einer Steuer keinesfalls nur aus ihrer fiskalischen Funktion resultieren, sondern dass auch immer die mit der Besteuerung verbundenen wohlfahrtsmindernden Effekte für die Volkswirtschaft selbst zu berücksichtigen sind. Nimmt man die Finanztransaktionssteuer unter diesem Aspekt kritisch unter die Lupe, dann zeigt sich, dass sie keinesfalls das Prädikat „gute Steuer“ verdient. Hierfür ist ihre Mängelliste einfach zu lang. So ist die Finanztransaktionssteuer schon deshalb ein ungeeignetes Instrument zur Verhinderung zukünftiger Finanzkrisen, weil sie nicht diejenigen Probleme löst, die zum Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise geführt haben, wie zum Beispiel die realwirtschaftlich hervorgerufene Immobilienblase in den USA und in Spanien. Vor allem ist diese Steuer nicht geeignet, unerwünschte Transaktionen zu verhindern, weil allein schon eine exakte Trennung zwischen dem Spekulations- und dem Absicherungsmotiv eines Finanzgeschäfts bei modernen Finanzinnovationen kaum möglich ist. So zeigt sich beispielsweise bei näherem Hinsehen, dass der immer wieder als Modellfall einer ungezügelten Spekulation kritisierte Devisenmarkt, dessen

agora42 • PRO/CONTRA

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»Das Risiko ist größer geworden« Inter v ie w mit Torsten Hinr ichs Fotos: Janusch Tschech

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agora42 • Interview mit Torsten Hinrichs


Herr Hinrichs, wie definieren Sie Risiko? Risiko ist das Eintreten unerwarteter Ereignisse. Das würde ich gar nicht unbedingt auf das Eintreten negativer unerwarteter Ereignisse beschränken wollen, denn auch beim Eintreten positiver unerwarteter Ereignisse entsteht Unsicherheit. Risiko und Unsicherheit sind Begriffe, die stark miteinander korrelieren. Was ist eigentlich ein Rating und was kann es leisten? Die Standarddefinition lautet: Ein Rating ist eine Meinungsäußerung über die Bonität eines Schuldners, das heißt über die zukünftige Fähigkeit und Bereitschaft eines Kreditnehmers, seine Verbindlichkeiten vollständig und pünktlich zu bedienen. Was leistet ein Rating? An den globalen Kapitalmärkten beobachten wir in zunehmendem Maße – und je mehr Kapital wir in der Globalisierung sehen, desto mehr trifft dies zu – eine Informationsasymmetrie. Das heißt, diejenigen, die Geld an den Kapitalmärkten aufnehmen (die Emittenten), wissen sehr genau über ihre eigene Bonität Bescheid, wohingegen die Anleger, die Investoren, die die Anleihen kaufen sollen, über ein relativ geringes Wissen verfügen. Ratings haben – im großen Kontext betrachtet – auch die Aufgabe, diese Informationsasymmetrie auszugleichen und dazu beizutragen, dass die Anleger eine qualifiziertere Anlageentscheidung treffen können.

Torsten Hinrichs ist Niederlassungsleiter von Standard & Poor’s Credit Market Services Europe Ltd. (Niederlassung Deutschland) und Geschäftsführer der McGraw-Hill (Germany) GmbH in Frankfurt mit Verantwortung für den deutschsprachigen Raum, Nord- und Osteuropa sowie in den Emerging Markets. Er ist zuständig für die Koordinierung der kommerziellen Aktivitäten in den sechs Niederlassungen in Europa und die Entwicklung der Büros in Moskau, Tel Aviv, Dubai und Johannesburg. Zu seinen Aufgaben gehört der weitere Ausbau der Kreditratingaktivitäten und die Expansion von Standard & Poor’s in den Bereichen Fondsrating, Aktienrecherche und Informationsdienstleistungen mit ihren vielfältigen Produkten für den Finanzmarkt. Hinrichs trat im Februar 1999 in das Unternehmen ein. Zuvor war er 15 Jahre bei der Westdeutschen Landesbank tätig und hat dort in den Bereichen Neuemissionen/Kapitalmarkt, Global Derivatives/Fixed Income sowie Global Treasury Erfahrungen gesammelt. Nach Einsätzen in Düsseldorf, New York und London war Hinrichs zuletzt als Head of Treasury bei der Westdeutschen Landesbank (Niederlassung Hongkong) tätig. Hinrichs hält einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften als Dipl. Kaufmann der Universität Hamburg.

agora42 • Interview mit Torsten Hinrichs

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macht einen Ratingvorschlag. In diesem Komitee sind Personen versammelt, die Toyota, Honda, General Motors, Ford, Peugeot oder Daimler analysieren. Das heißt jene, die das Komitee bilden, sind ausgewiesene Fachleute in der gleichen Materie. Ich habe bewusst auch amerikanische und asiatische Firmen genannt, weil Ratings weltweit konsistent sein müssen. Diese einheitliche Grundlage schaffen wir dadurch, dass wir Ratingkomitees in einer bestimmten Form, nämlich analog zur Wettbewerbssituation unseres Kunden zusammenstellen, damit die Expertise im Komitee die Geschäftsbereiche und das Marktumfeld des Kunden widerspiegelt. Folglich ist der Ratinganalyst nicht mehr der alleinige Wissensträger in diesem Komitee. Im Gegenteil: Er trifft im Komitee auf ein kollektives Wissen, das deutlich größer ist als sein eigenes. Daraus entstehen sehr konstruktive und kritische Diskussionen. In einer Ratingagentur vermutet man in erster Linie Statistiker und Mathematiker. Unternehmen sind jedoch auch von gesellschaftlichen Entwicklungen, Stimmungslagen und politischen Entscheidungen – beispielsweise der Vergabe von Subventionen – abhängig. Spielen auch Soziologen, Psychologen, Politologen oder vielleicht sogar Philosophen bei Standard & Poor’s eine Rolle? Die Wahrheit liegt genau in der Mitte. Ja, wir haben einige wenige Finanzmathematiker, im Wesentlichen im Bereich des Versicherungsratings. Wir haben aber eigentlich keine reinen Mathematiker, es sei denn solche, die Modelle konstruieren, die bei strukturierten Finanzierungen angewendet werden. Es sind auch einige Ingenieure für uns tätig. Denn wenn Sie Infrastrukturmaßnahmen – beispielsweise Brücken, die auf Mautbasis finanziert werden – raten wollen, sollten Sie schon ein bisschen Ahnung von Technik haben. Aber die Ratingarbeit selbst machen in erster Linie Wirtschaftswissenschaftler – da gibt es kaum Philosophen.

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agora42 • Interview mit Torsten Hinrichs


»Unsere Aufgabe besteht darin, zukünftige Zahlungsfähigkeit zu beurteilen. Nicht mehr und nicht weniger.«

Es wird immer unwahrscheinlicher, dass die Staatsverschuldung in Westeuropa, in den USA und in Japan noch beherrscht werden kann. In einer gesamtwirtschaftlich derart prekären Situation können Ratings von Staaten nicht besonders positiv ausfallen. Dennoch stehen die Ratingagenturen ob ihrer Bewertungen immer wieder in der Kritik, vor allem auch seitens der Politik. Wird hier ein Sündenbock gesucht? Ein Grund für diese Kritik ist darin zu sehen, dass von vielen Politikern immer noch nicht gänzlich verstanden wird, worin die Aussagekraft von Ratings besteht, was also ein Rating leisten kann und was nicht. Unsere Aufgabe besteht darin, zukünftige Zahlungsfähigkeit zu beurteilen. Nicht mehr und nicht weniger. Ein weiterer Grund liegt in der unabhängigen Natur von Ratingagenturen. Wir bei Standard & Poor’s äußern unsere Meinung, wenn wir der Überzeugung sind, dass sich Veränderungen ergeben haben, die ein anderes Rating erforderlich machen. Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass der Zeitpunkt dieser Meinungsäußerung der Politik nicht immer gelegen kommt oder dass man nicht erfreut ist, wenn sie der politisch gewollten Lösung – Stichpunkt Beteiligung des privaten Sektors – im Wege steht. Die Kritik ist in solchen Zeiten mit Sicherheit häufiger und auch etwas irrationaler als in normalen Zeiten. Aber deshalb werden wir nicht anders handeln oder unsere Maxime der Unabhängigkeit und der Objektivität antasten. Im Zuge der Abwertung von Staaten durch Ratingagenturen wurde vorgeschlagen, dass sich Staaten in Zukunft nicht mehr über den Kapitalmarkt finanzieren sollen, sondern über die Zentralbanken. Das würde letztlich nichts anderes bedeuten, als dass eine Zentralbank Geld druckt, wenn der Staat das gerade will. Hat nicht die Geschichte gezeigt, dass dies ein äußerst riskantes Vorgehen darstellt?

agora42 • Interview mit Torsten Hinrichs

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Speakers ’ Cor ner

Speakers’ Corner („Ecke der Redner“) ist ein Versammlungsplatz im Hyde Park in London. Durch einen Parlamentsbeschluss vom 27. Juni 1872 kann dort jeder ohne Anmeldung einen Vortrag zu einem beliebigen Thema halten, seine Meinung über die gesellschaftlichen Verhältnisse kundtun und auf diesem Weg die Vorübergehenden um sich versammeln.

Jón Gnarr Vater von fünf Kindern; verließ die Schule mit 14 Jahren und besuchte für zwei Jahre ein Internat für schwer erziehbare Jugendliche; arbeitete als Pfleger in einem Heim für geistig und körperlich Behinderte; schrieb eine fiktive Autobiografie mit dem Titel „Der Indianer“; war Bassist der Punkrockband „Nefrennsli“ („Triefende Nasen“); begann seine Karriere als Komiker mit der Radio-Comedy-Show „Hotel Volkswagen“; ist Star und Co-Autor der TV-Comedy-Serien „Naeturvaktin“, „Dagvaktin“ und „Fangavaktin“, die in den letzten Jahren alle Zuschauerrekorde in Island brachen. Für die TV-Serien und einen Kinofilm entwickelte und spielte er die Figur des kommunistischen Querulanten Georg Bjarnfredarson. Heute ist Jón Gnarr Oberbürgermeister der Stadt Reykjavik.

Foto: © City of Reykjavik

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agora42 • Speakers’ Corner • DIE ZEIT DER HELDEN IST VORBEI


DIE ZEIT DER HELDEN IST VORBEI EIN INTERVIEW MIT JÓN GNARR Herr Gnarr, in Deutschland gab es nach dem Zweiten Weltkrieg eine Situation, die viele Menschen sehr wütend gemacht hat: Ehemalige Nazis hatten immer noch Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft inne, sie hatten lediglich ihre Anzüge gewechselt. Nun haben die Ereignisse in Island eine andere Qualität, aber auch hier machen die Politiker und Banker, welche die herbe Finanzkrise mitverschuldet haben, einfach weiter – sogar in bedeutenden öffentlichen Ämtern. Sehen Sie eine Parallele? Ja, nach der Krise habe ich genau diese Parallele gezogen. Als Jugendlicher habe ich die Situation im Nachkriegsdeutschland und die Aktivitäten der Baader-MeinhofGruppe neugierig verfolgt. Natürlich war die Situation in Deutschland viel gravierender. Hier in Island waren es keine ehemaligen Nazis. Es waren einfach nur für die Krise verantwortliche Politiker und Banker, die in andere Positionen gerutscht sind, in denen sie weiterhin Kontrolle ausüben können. Diese Leute glauben weiterhin an Gewalt und Übermacht; daran, dass sie machen können, was sie wollen, weil sie es nicht zulassen, dass sich ihnen jemand in den Weg stellt. David Oddsson ist dafür ein gutes Beispiel. Er war Ministerpräsident in der Zeit, als die drei isländischen Banken privatisiert wurden. Ich sage nicht, dass die Privatisierung an sich ein Verbrechen war; wohl aber die Tatsache, dass die Gewinne nur untereinander, unter Freunden und Verwandten, aufgeteilt wurden – in dieser isländischen Vetternwirtschaft! Und derselbe Mann, David Oddsson, der Ministerpräsident war zur Zeit der Privatisierung und der Entstehung der

großen Finanzblase, war Chef der Zentralbank, als das Bankensystem zusammenbrach und die Kosten auf die Schwächeren abgewälzt wurden. Nach dem Crash wurde genau dieser Mann Chef-Herausgeber von Morgunbladid – der Zeitung der Konservativen und älteste Tageszeitung Islands. Solche Typen probieren immer noch, sich mit allen Mitteln ihren Weg zu bahnen, gestehen keine Fehler ein, bereuen nichts und machen einfach so weiter wie bisher. Und mich nennen sie in Morgunbladid einen Idioten und einen Clown (lacht). Sie haben sich als Gründer und Frontmann der „Besten Partei“ für einen konstruktiven, friedlichen Weg entschieden – warum? Ich habe mich aus einem politischen und sozialen Interesse heraus schon immer dafür interessiert, was passiert, wenn ein gesellschaftlicher Konflikt in Gewalt umschlägt. Nach dem Crash in Island hatte ich das Gefühl, dass etwas Ähnliches auch hier passieren könnte; dass zum Beispiel eine Gruppe von Leuten – so wie im Fall der RAF oder auch der IRA – einfach etwas Schreckliches tun könnte, weil die Menschen den Glauben an sich selbst verloren hatten, den Glauben an die Gemeinschaft, an ihre eigene Nachbarschaft. Ich spürte, wie sich eine Art von unsichtbarer Paranoia mehr und mehr ausbreitete. Du konntest auf Facebook beobachten, wie die Leute Grenzen zogen zwischen sich und den anderen. Plötzlich wurde ein hoher Zaun errichtet zwischen den einfachen Leuten und den Reichen, der so genannten Elite. So etwas habe ich in Island noch nicht erlebt. Was war die Initialzündung dafür, selbst eine Partei zu gründen? Das war im Oktober 2008, als Geir Haarde, der damalige Ministerpräsident, eine Fernsehansprache hielt. Alle haben zugesehen, weil wir endlich wissen wollten, was all diese geheimen Treffen zu bedeuten hatten, die da

agora42 • Speakers’ Corner • DIE ZEIT DER HELDEN IST VORBEI

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