agora42 04/2011 - Fortschritt

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Fortschritt – wohin geht die Reise? 04/2011 • 7,90€ (D)



I N H A LT agora42

Personen

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Editorial

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Prolog

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Parallaxe wollt ihr den totalen kredit?

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Ökonomische Theorien fortschritt 42

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Philosophische Perspektive fortschritt aus der ordnung

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Grundannahmen der Ökonomie ich will mehr!

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Bernhard Taureck fortschritt – seine formel, seine potenzierung, seine selbstaufzehrung

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Peter Finke fortschritt zurück? über unentbehrliche begriffe

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Gabriel Gerlinger denk ich an fortschritt in der nacht … fragmente einer spurensuche

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Speakers’ Corner

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Portrait joseph alois schumpeter

Aus der Wissenschaft methodenstreit in der ökonomie? es geht längst um viel mehr!

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Gedankenspiele

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Zahlenspiele

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Auf dem Marktplatz

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Plutos Schatten

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Pro/Contra

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Impressum

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Interview • Julian Nida-Rümelin Fortschritt – wohin?

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E DI TOR I A L

Es war einmal ein Fortschritt. Er erhob sich aus Trümmern und Ruinen und bestellte fürderhin viele Felder. Als diese aber schließlich blühten und grünten, war er seines Ziels beraubt. So stieg er einen Berg hinauf, um sich nach neuen Betätigungsfeldern umzusehen. Dort oben wurde er gewahr, dass der Felder, die da brach lagen, noch unendlich viele waren. Und auch das Blühen und Grünen, so stellte er fest, war meist nicht von langer Dauer. Große Selbstzweifel überkamen den Fortschritt. Doch innehalten wollte er nicht. Allzu sehr hatte er sich an das Schreiten gewöhnt. So beschloss er, wenn schon nicht vorwärts, dann eben rückwärts zu schreiten. Er ging den Berg hinab und grub erst dem einen, dann dem anderen Feld das Wasser ab, setzte Schädlinge aus, verschmutzte die Luft … Wo stehen wir? Man könnte meinen, dass wir uns in einer Phase des Fortschrittszweifels befinden. Man beäugt den Fortschritt skeptisch und hinterfragt ihn kritisch, doch man weiß ihn noch an seiner Seite. Die Vernünftigen führen das Wort: Menschen also, die dem Fortschritt Vernunft beibringen und ihn vom törichten Zurückschreiten abhalten wollen; Menschen, die meinen, der Fortschritt könne womöglich gar in fortschrittlichere (nachhaltigere) Bahnen gelenkt werden. Tatsächlich aber deuten alle relevanten Faktoren darauf hin, dass der Fortschritt bereits die Verwandlung zum Rückschritt vollzogen hat: eine Staatsverschuldung, über die es sogar im manager magazin heißt, es sei zur „Lebenslüge des Westens“ geworden, sie noch beherrschen zu können. Nicht nur, dass Europa unter der Schuldenlast taumelt, parallel brechen auch in den

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USA, dem „globalen Konsumenten“ mit hohem Weltimportanteil, alle Schuldendämme. Kein Wunder, dass das totale Katastrophenszenario an Kontur gewinnt: Was, wenn die nächste Wirtschaftskrise hereinbricht, die aufgrund fehlender Regulierungen, ungewisser finanzieller Altlasten und der zunehmenden Gefahr von Staatspleiten immer wahrscheinlicher wird? Begleitet wird das globale Trauerspiel von der Entstehung neuer beziehungsweise der Verschärfung bestehender Konflikte durch Ressourcen- und Wasserknappheit, Migration, Umweltzerstörung etc. Wenn dem großen Ganzen die Luft ausgeht, werden die Spielräume im Inneren kleiner. Konflikt wird zum gesellschaftlichen Konsens: ob Nachbarschaftsstreit, Stuttgart 21 oder andere Bau- beziehungsweise Immobilienprojekte, ob Arm gegen Reich oder Jung gegen Alt. Dass durch die zunehmende Unterordnung unter Effizienzkriterien und die Orientierung an Leistungsnormen der Druck auf die Arbeitnehmer stetig zunimmt, weiß man schon seit Jahren: Stress, Burnout, Depression. Kaum vorstellbar, dass sich die Situation bei knapperer Kassenlage verbessern wird. Das alles sehen auch die Vernünftigen. Aber sie versuchen verzweifelt zu ignorieren, dass im Rahmen des momentan gesellschaftlich Möglichen nichts am Rückschritt geändert werden kann. Denn diesen Rahmen gibt eben jene ökonomische Ordnung vor, die gerade implodiert. Was heute vernünftig daherkommt, ist somit nur der Versuch, die Angst zu bemänteln – jene Angst, sich eingestehen zu müssen, dass der Rückschritt unaufhaltsam ist. Vernünftige Strategien sind also bereits selbst

agora42 • Editorial


01/2011 – Vorsicht Arbeit!

Teil des Rückschritts, weil sie den unvoreingenommenen Blick auf unsere Lage versperren. Unser derzeitiger Lebensentwurf – nennen wir ihn Kapitalismus – ist nichts, was vernünftig funktionieren könnte: Man fährt mit ihm auf Verschleiß oder gar nicht. Und viel zu lange haben wir uns der kapitalistischen Herrschaft angedient, als dass ein Ausstieg noch gefahrlos möglich, geschweige denn überhaupt denkbar wäre. Oder können Sie sich eine nicht-kapitalistische Welt vorstellen? Wir werden also weiterfahren – immer weiter zurück. Irgendwann werden wir dann doch abspringen; gezwungenermaßen, weil uns im Innenraum unseres kapitalistischen Gefährts die Luft zum Atmen ausgeht, und steif vor Angst, weil wir schon viel zu schnell unterwegs sind, um einen Sprung riskieren zu dürfen. Gibt es also kein Entkommen aus dem Rückschritt? Oder gibt es ein Entkommen nur dann, wenn ohnehin alles egal ist? Der einzige Ausweg besteht darin, dass wir springen, ohne dazu gezwungen zu sein und solange das Tempo noch die Chance auf eine halbwegs heile Landung zulässt. Sagen wir es ganz deutlich: Wir müssen springen, ohne zu wissen, was uns dort draußen erwartet.

02/2011 – Was macht das Leben komplex?

03/2011 – Freiheit – Over The Rainbow?

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Frank Augustin Chefredakteur

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agora42 • Parallaxe • WOLLT IHR DEN TOTALEN KREDIT?


Para l l a xe

WOLLT IHR DEN TOTALEN K R EDI T ?

Mit 15 trug ich Baggy Pants, von denen die „Alten“ immer behaupteten, dass man damit aussieht, als hätte man in die Hose gemacht. Mit 16 schlich ich mich nachts mit meinen Kumpels in die Yards; wir schnappten uns jeder einen Stein und kratzten unser Tag in die Fenster. Yard und Tag: Beide Begriffe stammen aus dem Englischen und haben sich in der Graffiti-Szene, die sich als Teil der Hip-HopBewegung begreift, fest etabliert. Das Yard steht im Hip-HopJargon für ein Zugdepot, in dem die Bahn ihre Züge parkt, die nicht im Einsatz sind. „To tag“ bedeutet übersetzt „bezeichnen, markieren“. In der Graffiti-Szene ist das Tag ein Namenskürzel, mit dem der Künstler seine Werke unterschreibt. Häufig wird auch nur das Tag irgendwo hingesprüht, -gekritzelt oder -gekratzt, um die Bekanntheit zu steigern.

veränderungen gibt es ständig und überall. doch ob diese veränderungen irgendwann auch als fortschritt bezeichnet werden können, zeigt sich erst dann, wenn ein entsprechendes feedback erfolgt. der finanzmarkt nimmt hier eine sonderstellung ein: er ermöglicht fortschritt, ohne dass man sich um das feedback sorgen machen muss. oder doch?

In der Öffentlichkeit wurde unser Tun als Vandalismus abgetan. Uns ging es schlicht darum, unser Revier zu markieren und – indem unsere Namenskürzel durch Deutschland rollten –bekannter zu werden. Mit 17 wandte ich mich anderen Dingen zu: Ich erkannte, dass es angesichts einer so wundervollen und vor allem hochkomplexen Welt Gott geben müsse. Wie sonst könnte dies alles funktionieren? Allerdings stellte ich mir Gott nicht als einen alten, bärtigen Mann vor, sondern vielmehr als eine ordnende Kraft, einen alles durchziehenden Sinn. Mit dieser Erkenntnis wähnte ich mich den ganzen anderen Schäfchen mit ihrer simplen Gottgläubigkeit weit voraus und eher auf Augenhöhe mit Albert Einstein, der ebenso wenig wie ich an Zufall glaubte. Mit 18 schließlich verpasste ich knapp den Höhepunkt der New Economy. New Economy: Wörtlich übersetzt: Neue Ökonomie. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird mit der New Economy meist die Phase Ende der 1990er Jahre bezeichnet, in der viele Unternehmen aus der Informations-, Kommunikations- und Biotechnologie an die Börse gingen. Aus der Überzeugung, dass die digitale Revolution ganz neue Geschäftsmodelle hervorbringen würde, erwuchs eine enorme Nachfrage nach Aktien dieser Unternehmen. Doch diese Einschätzung stellte sich als falsch heraus, was dazu führte, dass viele Aktionäre ihre Investitionen verloren.

agora42 • Parallaxe • WOLLT IHR DEN TOTALEN KREDIT?

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P h i l o s o p h i s c h e Pe r s p e k t i v e

FORT SCHRI T T AUS DER ORDNUNG

ein philosoph sollte in bezug auf das thema fortschritt nicht versuchen, einen bestimmten, vielleicht geeigneteren fortschrittsbegriff gegenüber anderen, vielleicht weniger geeigneten fortschrittsbegriffen abzugrenzen. es sollte ihm also nicht darum gehen, aufzuzeigen, wie fortschritt in zukunft konkret aussehen könnte. andernfalls würde er etwas tun, wovon ihn die philosophie abhalten soll: er würde sich in widersprüche verwickeln und sich in endlosen für-undwider-debatten verlieren. man könnte auch sagen: er würde damit wirklichen fortschritt verhindern.

Die Vorstellung von Fortschritt führt stets in Widersprüche. Was aus der einen Perspektive einen Fortschritt darstellt, ist aus der anderen ein Rückschritt. Nehmen wir die Industrialisierung: Aus der einen Perspektive erscheint sie als Fortschritt, als etwas, das vielen Menschen Wohlstand gebracht hat; aus der anderen Perspektive als Rückschritt, als etwas, wodurch die Grundlagen unseres weiteren Überlebens auf‘s Spiel gesetzt werden (Umweltzerstörung, Ressourcenvernichtung, Klimawandel, Atombombe etc.). Auch wenn man Fort-

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schritt an bestimmten Produkten festmacht, führt dies zu Widersprüchen: Sind die fortschrittlicheren Kommunikationsmöglichkeiten nun ein Fortschritt, weil man viel leichter viel mehr Menschen erreichen kann, oder sind sie ein Rückschritt, weil man beispielsweise durch die andauernde Erreichbarkeit in Stress gerät? Widersprüchlich ist der Fortschrittsbegriff auch im privaten Bereich: Während man im Erlernen der einen Tätigkeit Fortschritte macht, verlernt man eine andere (oder vernachlässigt derweil seine sozialen Kontakte) etc.

agora42 • Philosophische Perspektive • FORTSCHRITT AUS DER ORDNUNG


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agora42 • Grundannahmen der Ökonomie • ICH WILL MEHR!


Gr und annahmen der Ökonomie

ICH WILL MEHR! ich will mächtige schrankwände, aus dem boden schiessende wolkenkratzer und eine stadt, die einem lichtermeer gleicht. ich will einfach immer mehr und mehr. was treibt mich dazu? was treibt mich im kleinen und was im grossen?

Sicherlich kein Fortschritt für die Menschheit – aber für mich Den direktesten Zugang zur Bedeutung dieses verführerischen Wörtchens „Fortschritt“ erhalte ich, indem ich mir zwei simple Fragen stelle: Was bedeutet Fortschritt für mich persönlich? Und: Welche Erwartungen, stillen Hoffnungen und Wünsche verbinde ich mit ihm? Auf der Suche nach Antworten stoße ich auf profane Situationen meines täglichen Lebens. Wenn man, wie ich, in der letzten Woche ein kleines Vermögen in einen neuen Kleiderschrank investiert hat, stellt bereits dieser Erwerb einen privaten Fortschritt dar. Mein alter Kleiderschrank hatte mir über viele Jahre hinweg gute Dienste geleistet und mir auch optisch gut gefallen. Leider hatte der Zahn der Zeit an ihm genagt. Dass die komplette linke Außentür an den Scharnieren herausgebrochen war und als unbrauchbares Accessoire mein Zimmer zierte, hatte

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agora42 • Bernhard Taureck • FORTSCHRITT – SEINE FORMEL, SEINE POTENZIERUNG, SEINE SELBSTAUFZEHRUNG


B er n h a rd Tau re c k

F OR T S C HR I T T  S E I N E F OR M E L , S E I N E P O T E N Z I E RU N G , S E I N E S E L B S TAU F Z E H RU N G die maschine ist das instrument des fortschritts. die perfekte maschine würde aber nicht die maximale lebenserleichterung, sondern die maximale vernichtung des lebens bedeuten.

agora42 • Bernhard Taureck • FORTSCHRITT – SEINE FORMEL, SEINE POTENZIERUNG, SEINE SELBSTAUFZEHRUNG

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Was bedeutet Fortschritt?

Die einfachste Formel des Fortschritts

Fortschritt – was meint dieses Wort anderes als eine Zunahme der universellen Lebenserleichterung auf dem Wege technischer Entwicklungen, verbunden mit Erweiterungen von Freiheitsrechten aller Menschen? Dabei bedingen sich Freiheitsbewusstsein und technisch-wissenschaftliche Fantasie gegenseitig: je mehr Freiheitsbewusstsein, desto mehr wissenschaftlich-technische Erfindungen; je mehr technisch-wissenschaftliche Erfindungen, desto mehr Freiheitsbewusstsein. Das dominierende Fortschrittsverständnis ist aber nicht das einzig mögliche Verständnis von Fortschritt. Die Antike kannte zwei andere Arten des Fortschritts: Einerseits sprach man von Fortschreiten als zunehmende rhetorische Verdeutlichung der Argumente eines Redners im Verlauf der Rede, andererseits galt Fortschritt als Gesamtentwicklung der Menschheit von einem Zustand des allseitigen Glücks, des Friedens und des naturbedingten Wohlstands hin zu einem Zustand der sozialen Ungleichheit, Desintegration und Gewalttätigkeit. Dies war der Mythos, der vom Goldenen Zeitalter der Vergangenheit zum Eisernen Zeitalter der Gegenwart geführt hat. So gesehen, lassen sich an dieser Stelle bereits drei Formen von Fortschrittsvorstellungen unterscheiden: die universell-optimierende Form, die rhetorische Form und die mythologische Verfallsentwicklung. Im Jahre 1800 kam eine vierte hinzu. Fortschritt sollte in der unabschließbaren, stets werdenden und niemals seienden Poetisierung der gesamten Gesellschaft bestehen. Dies ergibt den romantischen Sinn von Fortschritt, vorgeschlagen von Friedrich Schlegel in seinem Athenäums-Fragment 116, mit der berühmten Definition: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie.“ Weder die romantische Auslegung noch die mythologische Verfallsentwicklung konnten sich als allgemeines Verständnis von Fortschritt durchsetzen. Sie bilden historische, lediglich Experten bekannte Kontexte. Der rhetorische Sinn von Fortschritt ging sogar völlig verloren. Es blieb die universell-optimierende Dimension.

Im modernen Sinn meint Fortschritt die Erwartung, Planung und Praxis einer zunehmenden Lebenserleichterung aller Menschen. Mit dieser Lebenserleichterung soll die zuvor benannte Erweiterung errungener Freiheitsrechte wie von selbst einhergehen. Um diese Zunahme zu erreichen, werden Erfindungen benötigt. Es geht darum, etwas zu schaffen, das viel mehr zu leisten imstande ist, als ganze Armeen von Sklaven; etwas, das uns Menschen ein Minimum an Aufwand für ein Maximum an Nutzen abverlangt. Was ist das? Es handelt sich um den Motor des Fortschritts, genauer um die Maschine. Die Römer bezeichneten mit machina alles, womit sie Lasten heben, Säulen aufrichten, Schiffe an Land ziehen oder etwa Geschosse schleudern konnten. Nennen wir Maschine das Instrument des Fortschritts. Jede Maschine verschafft uns Handlungsmöglichkeiten, die wir ohne sie nicht besäßen, und die uns sowohl einen unmittelbaren als auch einen mittelbaren Nutzen bringen können: Der elektrische Strom, der mich in Form von Kunstlicht nachts arbeiten lässt, ist von unmittelbarem Nutzen; der Strom, der in einen Staubsauger fließt, nutzt einer anderen Maschine (dem Staubsauger) und über sie nutzt er mittelbar mir. die maschine ist als bereitstellung von möglichkeiten eine durch nichts anderes ersetzbare erleichterung. Allerdings fordert jede Maschine ihren Preis. In der Regel wird etwas verbrannt, das damit als Energiequelle entfällt. Ebenso wirkt das Verbrannte in irgendeiner Form destruktiv auf unsere Gesundheit ein. Und schließlich zieht, sofern die Maschine jemandes Eigentum ist, dieser Eigentümer aus ihrem Gebrauch Gewinn auf Kosten derer, die er für ihren Einsatz arbeiten lässt. Diese ökologischen, medizinischen und gesellschaftlichen Nachteile müssen geringer ausfallen als die durch die Maschine geschaffenen Erleichterungen, damit die Maschine weiterhin erwünscht ist. Mit M (für Maschine), E (für Erleichterung) und N (für Nachteil) können wir nun folgende Gleichung aufstellen: m = e - n.

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agora42 • Bernhard Taureck • FORTSCHRITT – SEINE FORMEL, SEINE POTENZIERUNG, SEINE SELBSTAUFZEHRUNG


E muss dabei sowohl größer als Null (E > 0) als auch größer als N (E > N) sein. dies ist die einfachste formel des fortschritts. Doch, Vorsicht! Es gilt dabei noch zu berücksichtigen, dass sich eine gegenwärtige Maschine in einem Entwicklungsprozess befindet. Ein Fortschritt besteht also nur dann, wenn die gegenwärtige Erleichterung durch die Maschine größer ist als vergangene Erleichterungen und geringer als künftige Erleichterungen (jeweils bei vergleichbarem Aufwand): Mvergangen < Mgegenwärtig < Mkünftig Daher bedeutet Fortschritt der Maschinen: Maschinen, welche Maschinen in der lebenserleichternden Leistung überholen, sofern jede Maschine dabei der Fortschrittsformel M = E - N genügt. Dies alles ist nichts anderes als die abstrakte Beschreibung dessen, was seit der Erfindung von Kraftmaschinen geschieht und was das Geschehen antreibt. Das Prinzip des Fortschritts lautet: Jede erreichte lebenserleichternde Leistung kann prinzipiell überholt werden.

Wenn die Nachteile einer Maschine größer sind als die lebenserleichternde Leistung, dann liegt kein Fortschritt vor.

teil die lebenserleichternde Leistung überragen und die Maschine entgleisen lassen. doch sind autounfälle ein argument, um auf den autobau zu verzichten? Die Reihe Mvergangen < Mgegenwärtig < Mkünftig beschreibt ganz abstrakt und dennoch korrekt das, was war, was ist und was sein wird. Fortschritt ist der Fall, Fortschritt wird der Fall sein, sofern M = E - N bei N > 0 und E > N.

Entgleisungen sind ausgleichbar Daraus folgt mit Notwendigkeit: Wenn die Nachteile einer Maschine größer sind als die lebenserleichternde Leistung, dann liegt kein Fortschritt vor. Auch das kann durchaus angestrebt werden – nämlich dann, wenn man keinen Fortschritt mehr will. Paradoxer formuliert: Für den, der keinen Fortschritt mehr will, stellt es einen Fortschritt dar, wenn der Fortschritt beendet wird. Die Formel der Fortschrittsbeendigung lautet: M = E - N, bei N > E. Wir sind seit mehr als 200 Jahren an Mvergangen < Mgegenwärtig < Mkünftig gewöhnt, sofern jedes M = E - N, bei E > N. Eine Fortschrittsbeendigung ist darin nicht vorgesehen. Es mag zu Fortschrittsentgleisungen kommen, wie es zu Diktaturen bei der voranschreitenden Demokratisierung des Globus kommt. Je robuster jedoch die Entwicklung, desto mehr können die Entgleisungen im Laufe der Zeit ausgeglichen werden. Zuweilen mag der Nach-

Die Potenzierung des Fortschritts: quasi-magische Bewegung Nun gibt es gewisse gewinnorientierte Zeitgenossen, die behaupten, dass N fast oder gleich Null sein kann, dass also die Nachteile (wie verbranntes Erdöl, verunreinigte Luft und unterdurchschnittliche Löhne) fast oder ganz vermieden werden können. Im Hintergrund steht natürlich der Gedanke, dass bei N = 0 eine maximale Lebenserleichterung erreicht wäre. Dies setzt voraus, dass es einen Typus der Maschine gäbe, der eine maximale Lebenserleichterung ohne Nachteile erbringen würde: M = E. Was wäre dann möglich? Offenbar ein anderer Fortschritt, eine Fortschrittspotenzierung. es geht um einen ungeheuren fortschritt, welcher die maschinen befähigt, unser leben ohne relevante nachteile zu erleichtern.

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agora42 • Interview mit Julian Nida-Rßmelin


FORTSCHRI T T  WOHIN? I n te r v i e w m i t J u l i a n Ni d a-R ümeli n Fotos: Janusch Tschech

Julian Nida-Rümelin wurde am 28. November 1954 in München geboren. Sein Großvater und sein Vater waren Bildhauer, deren Skulpturen im klassischen Stil heute noch an öffentlichen Plätzen zu sehen sind. Julian Nida-Rümelin studierte Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaften. Er promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München beim Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller. In München war er bis zu seiner Habilitation wissenschaftlicher Assistent. Danach ging er als Gastprofessor an die University of Minnesota in die Vereinigten Staaten von Amerika. Nach Deutschland zurückgekehrt, trat er an der Eberhard Karls Universität in Tübingen die Professur für Ethik in den Biowissenschaften an. Danach war er Professor für Philosophie an der Universität Göttingen. Seit 2009 lehrt Julian Nida-Rümelin Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilans-Universität München. Seit Anfang 2008 fungiert Nida-Rümelin als Sprecher des berufsbegleitenden Studiengangs Philosophie, Politik und Wirtschaft (PPW) der LudwigMaximilians-Universität. Nida-Rümelin agierte als Kulturreferent der Landeshauptstadt München und wurde im ersten Kabinett der rot-grünen Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Kulturstaatsminister ernannt. Einer Studie zur Folge, die 2008 von der Zeitschrift Cicero in Auftrag gegeben wurde, ist Nida-Rümelin der nach Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk am häufigsten zitierte Philosoph im deutschsprachigen Raum. Zuletzt gab er zusammen mit K. Kuhfeld das Buch Die Gegenwart der Utopie: Zeitkritik und Denkwende im Verlag Karl Alber heraus. Im Oktober dieses Jahres erscheint Die Optimierungsfalle – Philosophie einer humanen Ökonomie.

Herr Nida-Rümelin, lange Zeit galt ökonomisches Wachstum als die Voraussetzung für Fortschritt, wenn nicht sogar als Fortschritt selbst. Heute steht Wirtschaftswachstum zunehmend in der Kritik. Es ist immer häufiger von den Grenzen des Wachstums die Rede, die beispielsweise an den ökologischen Kosten festgemacht werden. Müssen wir in Zukunft ganz auf Wachstum verzichten? Oder wäre auch ein Wachstum denkbar, das langfristige Perspektiven eröffnet? Bereits in den späten 1960er Jahren und vor allem in den 70er und frühen 80er Jahren hat eine intensive Debatte über qualitatives Wachstum – auch selektives Wachstum genannt – stattgefunden. So stellte der ehemalige Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Erhard Eppler, 1972 auf einem legendären IG-Metall-Kongress das rein quantitative Wirtschaftswachstum in Frage und plädierte für ein selektives Wachstum, das sich an der Lebensqualität orientiert. Seine Rede war Teil einer gesellschaftlichen Debatte, aus der in der Wissenschaft unter anderem das sogenannte SPS – ein Programm zur Erfassung bestimmter Kriterien der Lebensqualität – hervorgegangen ist. Dann folgte in den 80er/90er Jahren die Reduktion der Gesellschaft und der Politik

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auf die Ökonomie. Die Illusion, dass der Markt alles regeln könne, setze sich mehr und mehr durch. Diese Illusion drängte alles andere in den Hintergrund. Dies bedeutete zwar nicht, dass die Diskussion über ein qualitatives Wachstum nicht mehr stattfand – man denke etwa an den Nobelpreisträger für Ökonomie Amartya Sen und sein Konzept des capability approach. Aber das spielte all die Jahre kaum noch eine Rolle. Das politische wie auch wissenschaftliche Interesse an diesen Themen ist erst wieder durch die Weltfinanzkrise entbrannt. Im Grunde geht es heute darum, eine ökonomisch-politische Alternative zum BIP als Maßstab zu entwickeln. Bruttoinlandsprodukt: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist die Summe aller Bruttowertschöpfungen zuzüglich der Summe der dabei entrichteten Steuern eines Landes in einem Jahr. Unter Bruttowertschöpfung wird dabei folgendes verstanden: Kauft zum Beispiel ein Schneider Stoff für 150 Euro und schneidert einen Anzug daraus, den er für 400 Euro verkauft, hat er eine Bruttowertschöpfung von 250 Euro erwirtschaftet (Verkaufspreis von 400 Euro minus Vorleistung – Stoffkauf – von 150 Euro). Wachstum ist gleichbedeutend mit einer Steigerung des BIP. Würde ein Land nur Anzüge herstellen und die Menge der produzierten Anzüge würde im ersten Jahr zehn Stück betragen und im zweiten Jahr elf, dann hätte dieses Land ein Wachstum des BIP von zehn Prozent.

Weil das BIP nur den monetären Wert aller Güter und Dienstleistungen misst, die in einem bestimmten Zeitraum in einer nationalen Ökonomie produziert bzw. bereitgestellt werden, spielt die Frage „Umweltzerstörung ja oder nein?“ nur eine wirtschaftliche Rolle. Ob und in welchem Umfang dabei Ressourcen verschwendet werden, ob das wünschenswerte Produkte sind, die hergestellt werden oder ob nur Zerstörungen kompensiert werden, darüber gibt das BIP keine Auskunft. Nehmen wir beispielsweise ein Öltankerunglück: Da an den Aufräumarbeiten viele Firmen Geld verdienen, ist das wunderbar für das BIP eines Landes. Es hebt aber natürlich nicht die Lebensqualität und schließlich kann es ja auch kein erstrebenswertes Ziel sein, Öltankerunglücke zu verursachen.

»Es kann kein erstrebenswertes Ziel sein, Öltankerunglücke zu verursachen.« Das Wachstum hat also ausgedient? Zunächst einmal ist Wachstum eine neutrale Größe. Es kann positive wie auch negative Folgen haben. Wenn die Energie, die für das Wachstum benötigt wird, aus den gleichen Quellen wie bisher gewonnen wird, wirkt das Wirtschaftswachstum zerstörerisch. Denn Energieverbrauch hängt eng mit Umweltzerstörung, Ressourcenverbrauch, Klimabelastung und so weiter zusammen. Wenn aber die Energie anders bereitgestellt wird, etwa über Solarenergie, dann ändert sich die Situation, weil dann die negativen Folgen nicht in gleichem Maße zu Buche schlagen. Das ist das eine. Darüber hinaus muss man die reine Wachstumsorientierung der Politik generell kritisieren. Natürlich ist es verständ-

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agora42 • Interview mit Julian Nida-Rümelin


lich, dass die Politiker auf das Wirtschaftswachstum schauen – auch deshalb, weil die sozialstaatlichen Systeme in den Berechnungen zukünftiger Einnahme-/Ausgabeentwicklungen auf Wachstum setzen. Aber das kann nicht die Zielsetzung der Politik sein. Die eigentliche Zielsetzung der Politik sollte, kurz gefasst, die folgende sein: Bedingungen eines guten, selbstbestimmten Lebens für alle zu schaffen und Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen zu ermöglichen. Dies setzt jedoch voraus, dass wir künftigen Generationen die Möglichkeit geben, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten – ähnlich, wie wir selbst es konnten. Generationengerechtigkeit heißt also, die Bedingungen nicht dergestalt zu verändern, dass die zukünftigen Generationen keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr haben. Man müsste also einen Rahmen definieren, dem sich die ökonomische Entwicklung unterzuordnen hat. Diesen Rahmen müssten meiner Ansicht nach die wirklich entscheidenden Kriterien bilden, wie Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt, Teilhabe, Chancen und gleiche Freiheiten für das Individuum. Und eben nicht das Wachstum des BIP. Das macht es allerdings noch viel schwieriger, von Fortschritt zu sprechen. Galt doch bisher ganz einfach: BIP = Wachstum = Fortschritt. Ist es vor diesem Hintergrund überhaupt noch sinnvoll, von Fortschritt zu sprechen, oder führt uns das nicht in die Irre? Sollten wir nicht einfach versuchen, das Machbare umzusetzen, ohne immer gleich ein Fortschrittsszenario zu entwerfen? Halten Sie das für möglich? Ich denke, dass die Vorstellung von und die Orientierung an Fortschritt unverzichtbar sind. Und zwar in einem ganz fundamentalen Sinne: Solange ich Ziele habe, gibt es bezüglich dieser Ziele Fortschritte oder es gibt sie eben nicht. Wenn ich zum Beispiel das Ziel habe, den Garten umzugraben, dann werde ich in Hinblick auf dieses Ziel Fortschritte machen. Wenn ich keine Fortschritte mache, dann liegt das vielleicht an den falschen Werkzeugen, aber das Ziel ist klar definiert. Wenn man nun jedoch den Fortschrittsbegriff als ganzen fallen ließe, dann würde man die Zielgerichtetheit politischer Praxis aufgeben. Jetzt kommt das Aber: Wir stecken momentan – das wird wahrscheinlich erst rückblickend in ein paar Jahrzehnten ganz deutlich werden – in einer Umbruchphase, die wesentlich mehr betrifft als bloß die Frage nach dem Wachstum des BIP. Die europäische Moderne unterscheidet sich in einer Hinsicht von der Antike oder vom Mittelalter: durch die Idee eines linearen Fortschritts hin zu einem paradiesischen Zustand auf Erden. Diese Vorstellung hat ihre Wurzeln vermutlich schon im 12./13. Jahrhundert, bei Joachim von Fiore: Zunächst gibt es das Zeitalter des Vaters beziehungsweise Gottvaters, dann das Zeitalter des Sohnes und irgendwann kommt das Zeitalter des Heiligen Geistes und damit das paradiesische Zeitalter auf Erden. Diese Idee ist fast schon ketzerisch, weil der christliche Klerus der Auffassung war, alle Versprechungen eines anderen, besseren, wünschenswerten Lebens wären Versprechungen, die das Jenseits betreffen und nicht schon das Diesseits. In dieser Phase entsteht in Europa zum

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He inz D. Ku r z

JOSEPH A L OI S S C HUMPE T E R – IN N OVAT ION E N , S C HÖPF E R I S C HE Z E R S TÖRU N G U ND DIE R A S TLO SIGK E I T DE S K A P I TA L I S M U S Por t ra i t

Innovationen seien „die überragende Tatsache in der Wirtschaftsgeschichte der kapitalistischen Gesellschaft“, schreibt Joseph Alois Schumpeter in seiner erstmals 1911 erscheinenden Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Bei Innovationen handele es sich um die „Durchsetzung neuer Kombinationen“ in Wirtschaft und Gesellschaft. Neues, ökonomisch nutzbares Wissen ergebe sich aus neuen Verbindungen bereits bekannter Wissenspartikel. Schumpeters umfassender Innovationsbegriff beinhaltet nicht nur die Entwicklung neuer Güter beziehungsweise verbesserter Qualitäten bereits bekannter Güter sowie die Entwicklung und Anwendung neuer Produktionsverfahren, sondern auch die Eroberung neuer Absatzmärkte, die Erschließung neuer Bezugsquellen von Rohstoffen und Halbfabrikaten, die Neuorganisation einer Unternehmung oder einer ganzen Industrie etc. Diesen Prozess der Entwicklung, welcher Ökonomie, Gesellschaft, Politik und Kultur erfasst und ständig umwälzt, versucht Schumpeter analytisch zu durchdringen. Es geht ihm – ähnlich wie vor ihm Adam Smith und Karl Marx – um das Begreifen des Kapitalismus als „Kulturphänomen“ insgesamt, um die Ergründung der

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„sozialen Kulturentwicklung“. Das Hauptaugenmerk gilt der Frage, „wie das wirtschaftliche System die Kraft erzeugt, die es unaufhörlich verwandelt“. Gefordert ist eine endogene Erklärung des Phänomens, das heißt eine Erklärung aus sich selbst heraus. Die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung ist Schumpeters bedeutendstes Werk zum Thema. An den meisten der darin vorgestellten Ideen hält er zeitlebens fest und vertieft sie in der zweiten, 1926 erscheinenden Auflage des Buches sowie im 1939 erscheinenden monumentalen Werk Business Cycles. Er ergänzt sie um eine Theorie der Demokratie und um Überlegungen zur langfristigen Tendenz des Kapitalismus in seinem wohl berühmtesten Buch, dem 1942 publizierten Capitalism, Socialism and Democracy. der gesamten bisherigen ökonomik wirft schumpeter vor, dass sie ausserstande sei, das wichtigste moment des kapitalismus zu erfassen: dessen inhärente dynamik und rastlosigkeit. Sie orientiere sich an statischen Modellen wie zum Beispiel der Theorie des allgemeinen wirtschaftlichen Gleichgewichts von Léon Walras. Aber dynamische Entwicklung und wirtschaftliches Gleichgewicht schlössen einander

agora42 • Portrait • JOSEPH ALOIS SCHUMPETER


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aus. Nur Marx seien bedeutende Verdienste hinsichtlich der Erklärung des „Bewegungsgesetzes“ der modernen Gesellschaft zu verdanken.

Wieso kommt es unaufhörlich zu wirtschaftlichen Neuerungen? In der ökonomischen Klassik und bei Marx ist die Ursache systemisch: Es ist das „Zwangsgesetz der Konkurrenz“, wie Marx es nennt, das die Entwicklung treibt. „Innoviert, innoviert! Das ist Moses und die Pro-

pheten“, könnte man in Abwandlung eines berühmten Satzes von ihm sagen. Konkurrenz bedeutet Rivalität. Um im Konkurrenzkampf zu bestehen, sind Unternehmungen auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, zu innovieren oder zumindest erfolgreiche Firmen zu imitieren. Neues zum Einsatz gelangendes Wissen ist häufig der Feind des alten und – mit einem geflügelten Wort Schumpeters gesagt – die Ursache „schöpferischer Zerstörung“. Technologischer Wandel revolutioniert unaufhörlich das gesamte ökonomische System. Er ruft neue Güter und Berufe ins Leben und mustert altbekannte aus. Er erzwingt tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. Er kennt nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Harmonisches Fortschreiten ist seine Sache nicht. Schumpeter hingegen sieht die Konkurrenz im Wesentlichen als Prozess, mittels dessen Innovationen in die Wirtschaft eingeschleust und allmählich verbreitet werden. die tiefere ursache der das system aus der bahn werfenden kraft ist für ihn das handeln eines besonderen typus von akteur: des „unternehmers“. Mit dieser Bestimmung bleibt Schumpeter seiner Position des „methodologischen Individualismus“ treu, demzufolge alle Makrophänomene auf das Entscheiden und Handeln von Mikroeinheiten – Firmen und Haushalte – zurückzuführen sind. Die herkömmliche walrasianische Theorie, klagt er, kenne nur einen Typus von Akteur, den „statischen“, „hedonischen“ und

Joseph Alois Schumpeter wird am 8. Februar 1883 in Triesch in Mähren, damals Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, als Kind des Tuchfabrikanten Josef Schumpeter und dessen Frau Johanna geboren. (Es ist das Todesjahr von Karl Marx und das Geburtsjahr von John Maynard Keynes.) Nach dem frühen Tod des Vaters zieht die ehrgeizige Mutter mit ihrem Sohn nach Graz, wo sie den pensionierten Feldmarschalleutnant Sigismund von Kéler heiratet. Joseph besucht die Volksschule. 1893 zieht die Familie nach Wien um, wo die soziale Stellung des Stiefvaters Joseph den Eintritt in das „Theresianum“, der Eliteschule der Aristokratie, ermöglicht. Die

acht Jahre Theresianum färben merklich auf den Jüngling ab: Überheblichkeit, Arroganz, mangelnde Ernsthaftigkeit und Opportunismus werden ihm nachgesagt. Nach brillantem Schulabschluss studiert er an der Universität Wien Jura und Ökonomik. Er hat Kontakt mit Ultraliberalen, Sozialisten und Marxisten, darunter Ludwig von Mises, Emil Lederer, Otto Bauer und Rudolf Hilferding. Im Sommer 1905 legt er das juristische Rigorosum ab und promoviert im Februar 1906 zum Doktor der Rechte. Anschließend geht er auf Reisen, unter anderem nach London, wo er 1907 erstmals heiratet. Im gleichen Jahr wechselt er nach Kairo, um am Internationalen Gerichts-

Theorie des allgemeinen wirtschaftlichen Gleichgewichts (AGT): Die Gleichgewichtstheorie basiert auf der Vorstellung, dass die individuellen ökonomischen Pläne und Handlungen von Wirtschaftssubjekten letztlich zu einem Marktgleichgewicht führen – das heißt zu einem Zustand, in dem das Angebot an Gütern der Nachfrage entspricht. Während Gleichgewichtsanalysen sich bis dahin auf das Geschehen in einem isolierten Markt konzentrierten, unternahm Léon Walras (1834–1910) den Versuch, die Interaktion aller Märkte zu modellieren. Werden alle Märkte simultan analysiert, so wirft das folgende Fragen auf: Existiert überhaupt ein Gleichgewicht, das heißt gibt es einen Satz von Preisen für die verschiedenen gehandelten Dinge, derart, dass alle Märkte gleichzeitig geräumt werden? Gibt es nur ein derartiges Gleichgewicht oder deren mehrere? Ist das jeweilige Gleichgewicht stabil, das heißt aktiviert das System bei Abweichungen davon Kräfte, die zu ihm zurückführen, oder ist es instabil? Walras hat keine der Fragen angemessen zu beantworten vermocht, aber er hat die Analyse von ökonomischen Systemen mittels simultaner (Un-)Gleichungen angestoßen.

Der Unternehmer als rastloser Gestalter

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Nicht jedermann sei fähig zu

„rationalistischen“ Typus, der zu großen Anpassungsleistungen an je gegebene Verhältnisse befähigt ist – Schumpeter zufolge ein „langweiliger Gleichgewichtsmensch“. Völlig übersehen werde jener ganz andere Typus, der „dynamische“ und „energische“ Akteur und dessen „schöpferisches Gestalten“. Statt sich bestmög-

lich an je gegebene Beschränkungen anzupassen, versuche er diese niederzureißen. Nicht jedermann sei fähig zu schöpferischem Tun, nicht jedermann besitze die Willenskraft und Risikobereitschaft, gewohnte Bahnen zu verlassen und Neues zu wagen. Bei Menschen, die über diese Fähigkeiten verfügen, handele es sich um eine „Elite“, in unserem Fall um „Häuptlinge“ auf dem Feld der Wirtschaft. Das rastlose Gen, wie wir es der Kürze halber nennen können, sei in der Bevölkerung nur spärlich vorhanden. Die Rastlosigkeit des Kapitalismus sei eine Folge der Rastlosigkeit der fraglichen Gruppe von Menschen. schumpeter ist voller bewunderung für den unternehmer, für ihn der demiurg (schöpfergott) der wirtschaftlichen neuerung, er sieht aber auch dessen dunkle seiten. „Solche Männer schaffen, weil sie nicht anders können“. Sie streben eine „soziale Machtstellung“ an, erfreuen sich am „Siegen über andere“, wollen Firmenimperien begründen und wirtschaftliche Dynastien, wollen eingehen in die Geschichte, wie ehedem große Feldherren und berühmte Könige. Sie ändern die Wirtschaftsweise, „nötigen“ ihre Produkte dem Markt auf, wecken erst „künstlich“ Bedürfnisse. Ihnen sei der Genuss, den allein der Hedoniker im Auge habe, „gleichgültig“. „Halb pathologische Momente“ gar, lässt Schumpeter den Leser wissen, seien in der Erklärung ihres Verhaltens heranzuziehen.

hof zu arbeiten. In dieser Zeit vollendet er sein erstes großes Werk, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie; es erscheint 1908. Zurück in Wien reicht er es als Habilitationsschrift ein und wird im März 1909 zum Privatzdozenten ernannt. Im Herbst nimmt er die Stelle eines außerordentlichen Professors an der Universität Czernovitz, Bukowina, an. Dort verfasst er sein wohl bedeutendstes Werk, die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, und veröffentlicht es 1911 – er ist gerade 28 Jahre alt. Im gleichen Jahr wird er gegen den erbitterten Widerstand eines Teils der Grazer Kollegenschaft an die Universität Graz als Ordinarius

berufen. Es folgt eine Austauschprofessur an der Columbia University, New York. Seine Frau weigert sich, mit ihm nach Graz zurückzukehren und übersiedelt nach London. Für Schumpeter ist die Ehe damit faktisch beendet. Zurück in Österreich unternimmt Schumpeter verschiedene friedenspolitische Initiativen mittels informeller Memoranden an Kaiser Karl I und spricht sich gegen ein Zollbündnis Österreich-Ungarns mit dem Deutschen Reich aus. Seine Befürchtung: Österreich könnte zu einer deutschen Kolonie werden. 1918–1919 wirkt er auf Vorschlag zweier marxistischer Bekannter, Rudolf Hilferding und Emil Lederer, in der von der neuen sozialdemokra-

schöpferischem Tun, nicht jedermann besitze die Willenskraft und Risikobereitschaft, gewohnte Bahnen zu verlassen und Neues zu wagen.

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