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PESTIZIDE ALS NEUE KOLONIALWAREN

Der Handel mit Pestiziden zwischen südamerikanischen Staaten und der EU hat in den letzten Jahren neue Strukturen etabliert und einen weltweiten Vergiftungskreislauf mit Pestiziden in Gang gesetzt, der auf einem neokolonialen Wirtschaftmodell beruht Dies bestätigt die brasilianische Pestizidforscherin Larissa Bombardi, die auf Einladung der ASTM und des Klima-Bündnis Lëtzebuerg im März zu dem Thema „Giftiger Handel - wie das Mercosur-Abkommen die Menschen in Brasilien und Europa vergiftet“ referierte.

Bombardi sieht eine wachsende Asymmetrie in diesen Handelsbeziehungen: „Reiche Nationen exportieren industrialisierte und hochtechnologische Produkte, während ärmere Länder Grundgüter wie Nahrungsmittel und Bergbauprodukte exportieren Bis heute reproduzieren wir immer noch das Kolonialmodell, das die europäischen Kolonialmächte vor 500 Jahren eingeführt haben " Bombardis Fokus liegt auf den vier Mercosur-Staaten [1], insbesondere auf Brasilien Um in großem Maßstab Rohstoffe für die Industrieländer zu produzieren, haben die Mercosur-Staaten in die Ausweitung der landwirtschaftlichen Flächen und in Pestizide investiert Ein konkretes Beispiel ist die Sojaproduktion: Zwischen 2010 und 2019 stieg laut einem der zahlreichen Beispiele aus Bombardis Veröffentlichung „A Geography of Agrotoxins use in Brazil and its Relations to the European Union“ [2] die Sojaproduktion in Brasilien um 53,95 Prozent, während der Einsatz von Pestiziden sich im selben Zeitraum um 71,46 Prozent erhöhte. Damit hat sich die Fläche, die in den Mercosur-Staaten allein für den Sojaanbau genutzt wird, auf die Fläche Frankreichs vergrößert.

Brasilien hat sich damit den unrühmlichen Titel des größten Pestizidverbrauchers der Welt gesichert: Seit 2010 werden in der Landwirtschaft des südamerikanischen Landes jährlich mehr als eine Million Tonnen Pestizide versprüht, das entspricht einem Pro-KopfWert von 7,3 Liter Agrargift für jede.n Einwohner.in Brasiliens.

Zwischen dem 1. Januar 2019 und dem 25. Februar 2022, also während der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro und seiner Agrargift-lobbytreuen Landwirtschaftsministerin Tereza

Cristina wurden alllein 1 635 neue Pestizide in Brasilien zugelassen Viele der in Brasilien zugelassenen Agrarchemikalien sind in der EU dagegen verboten

Doch das hindert europäische Agrochemie-Konzerne wie Bayer, BASF und Syngenta (ChemChina) nicht daran, Pestizide mit in der EU verbotenen Substanzen nach oder in Brasilien zu verkaufen Laut

Bombardi wurden 2018/2019 beispielsweise aus der EU mehr als 6 800 t Pestizide exportiert, die in der EU selbst verboten sind, davon rund die Hälfte aus Frankreich Der Gesamtexport in der EU zugelassener und verbotener Pestizide allein in 2018 betrug rund 51 000 t

Bombardi präsentierte in ihrer Konferenz eindrücklich, dass die ehemaligen europäischen Kolonien, deren Rohstoffe bereits seit Jahrhunderten ausgebeutet werden, heute eine neue Phase des Kolonialismus durchlaufen, die gravierende gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen für die lokale Bevölkerung haben: "Die Bevölkerung der Mercosur-Staaten leidet in hohem Maße unter einer Art chemischer Gewalt, wie die große Zahl von Menschen zeigt, die schon durch Substanzen vergiftet wurden, die von den Ländern der Europäischen Union entwickelt und häufig verkauft werden “ Entsprechende digitale Statistiken sind in Brasilien zum großen Teil öffentlich zugänglich

Doch der Raubbau an Mensch und Natur greift noch weiter und hat sich unter der Regierung von Bolsonaro vervielfacht:

- Bolsonaro lehnte den Klimaschutz und das Pariser Klimaabkommen ab. Die Unterzeichnung eines Abkommens mit einem oder mehreren Staaten, die gegen den Klimaschutz sind, durch die EU wäre eine unverständliche und unverantwortliche Entscheidung;

- Die Zerstörung der Regenwälder in dem lateinamerikanischen Land wurde nicht verlangsamt, ganz im Gegenteil. Im Jahr 2020 nahm die Zerstörung in Brasilien im Vergleich zum Vorjahr sogar um 20 % zu; dies betraf direkt auch den Lebensraum, die Rechte und die Lebensweise indigener Gemeinschaften;

- In Brasilien wurden darüber hinaus die Budgets für den Umweltschutz und die entsprechenden Regierungsstellen drastisch gekürzt.

Inwieweit der neue Präsident Lula seine Wahl-Versprechen einhält und die katastrophale Umwelt- und Menschenrechtspolitik seines Vorgängers korrigieren kann, bleibt abzuwarten

Die ASTM und das Klima-Bündnis Lëtzebuerg machen schon seit Jahren gemeinsam mit zahlreichen luxemburgischen und europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft gegen das Freihandelsabkommen MERCOSUR zwischen der EU und Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay mobil

Freihandelsabkommen sind nicht nur menschenrechtlich äußerst problematisch für die „Produktionsländer", sie vereinen auch viele negative Umweltprobleme, gegen die sich die Klima-BündnisGemeinden und die Zivilgesellschaft täglich einsetzen: die Zunahme von Emissionen durch die Ausweitung der industrialisierten Landwirtschaft, die Intensivierung des energieintensiven Transports, das Aufkommen von Krankheiten, Todesfällen und körperlichen Beeinträchtigungen durch den Pestizidverbrauch oder die Beschleunigung der Abholzung der Regenwälder, um nur einige zu nennen

Aus all diesen Gründen haben auch viele europäische Staaten ihre Skepsis gegenüber dem Mercosur-Abkommen zum Ausdruck gebracht, darunter auch Luxemburg Die Frage ist, welche Konsequenzen die Regierung aus dieser Skepsis in der Praxis ziehen wird, denn die luxemburgische Regierung hat das Abkommen lediglich eingefroren - was für ein Land, das die ILO169 ratifiziert hat und Mitglied des UN-Menschenrechtsrats ist, in keinster Weise zu rechtfertigen ist.

In 2022 war es europaweit relativ ruhig rund um das Thema Mercosur, aber es war offensichtlich, dass es sich dabei nicht um ein gutes Zeichen handelte. Abseits der großen politischen Bühnen wurde versucht, das Thema durch bilaterale Absprachen voranzutreiben - insbesondere angesichts des Machtwechsels in Brasilien - und aufgrund des öffentlichen Widerstands ein sogenanntes "Splitting" des geplanten Freihandelsvertrags voranzutreiben. Konkret versucht die Europäische Kommission damit in Bezug auf die Entscheidungsfindung, bereits ausgehandelte Abkommen mit Drittländern, in denen politische Fragen der Zusammenarbeit, Handelsbeziehungen oder Investitionsregeln vereinbart wurden, in jeweilige Abschnitte - Politik und Handelaufzuteilen Dieses Vorhaben würde dazu führen, dass z B im Fall des Abkommens zwischen der EU und dem Mercosur der umstrittene Handelsteil nicht mehr einstimmig vom Rat beschlossen werden müsste und die Zustimmung der nationalen Parlamente - wie bei gemischten Abkommen - nicht mehr erforderlich wäre

Was wäre eine direkte Folge dieses Splittings für den europäischen Markt? Während die EU Bestimmungen zum Verbot und zur teilweisen Reduzierung des Einsatzes von Pestiziden erlassen hat, würden von den vorab erwähnten brasilianischen PestizidNeuzulassungen wahrscheinlich 474 Pestizide über Gemüse-Importe in die EU gelangen, wenn das Abkommen unterzeichnet würde Bürger innen und Parlamente stünden angesichts der Aushöhlung demokratischer Strukturen nicht nur vor einer Entmündigung - die zu erwartende Pestizidkontamination beträfe gleichermaßen den Verbraucherschutz und das Gesundheitswesen in der EU wie in den Mercosur-Staaten

Das Herbizid Glyphosat, das in Brasilien insbesondere in Kaffee- und Zuckerrohrmonokulturen eingesetzt wird und mit einer erlaubten Menge von 1mg/kg in Brasilien um das 10-fache[3] höher liegt als in Ländern der Europäischen Union, ist ein hochaktuelles Beispiel: Als erster EU-Mitgliedstaat hatte Luxemburg die Anwendung von glyphosathaltigen Pflanzenschutzmitteln seit Januar 2021 verboten Der Verwaltungsgerichtshof hob das nationale Glyphosat-Verbot in einem Berufungsverfahren mit Urteil vom 30 März 2023 jedoch wieder auf Solange der Wirkstoff EU-weit von der Kommission zugelassen sei (15 12 2023), gebe es laut Verwaltungsgerichtshof keinen sachlichen Grund für eine nationale Sonderregelung

Zudem gebe es nach Auffassung der Richter keine „besonderen ökologischen oder landwirtschaftlichen Merkmale“ in Luxemburg, die ein nationales Verbot rechtfertigen würden Es sei kein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder für die Umwelt zu erkennen. Diese Einschätzung wird auch von einem Prüfbericht von vier Mitgliedstaaten gestützt, der politischen Sprengstoff bietet: Laut einem Bericht der zuständigen Sicherheits- behörden aus Frankreich, den Niederlanden, Schweden und Ungarn erfülle Glyphosat alle Voraussetzungen, um in der EU auch ab 2024 als Wirkstoff für Pflanzenschutzmittel zugelassen zu bleiben [4] Dieser Bericht - wie auch das Urteil des luxemburgischen Verwaltungsgerichts - werden von den Feldforschungen Bombardis Lügen gestraft.

Brian Garvey vom Fachbereich für Arbeit, Beschäftigung und Organisation der Universität Strathclyde in Glasgow fasst die Bedeutung von Larissa Bombardis Fotrschung sehr treffend zusammen: „Larissas Arbeit ist (...) nicht nur ein brasilianisches Anliegen Genauso wie die Geschichte Brasiliens und der transatlantische Handel nicht von der frühen europäischen Industrialisierung und den Anfängen des Imperiums losgelöst werden können, bedeutet die massive Rolle Brasiliens im internationalen Lebensmittel- und Agroenergiehandel, dass die moralischen, ethischen und politischen Fragen, die durch ihre Forschung aufgeworfen werden, ein globales Anliegen sind Das Durchsickern vom Labor zur Ernte, vom Feld zur Fabrik und zurück auf die Teller unserer Familien macht es schwieriger, die Beweise zu ignorieren Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Entscheidungsträger versuchen werden, dies zu tun, aber der Atlas der Agrotoxine bedeutet, dass die Ausrede 'wir haben es nicht gewusst' unter dem Gewicht dieses Buches zusammenbricht "

[1] Mercado Común del Sur (MERCOSUR): geplante Freihandelszone für Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay

[2] Der Atlas „A Geography of Agrotoxins use in brazil and its relations to the European Union“ ist derzeit auf Portugiesisch, Englisch und Spanisch erhältlich Eine deutsche Übersetzung ist in Arbeit

[3] Für Malathion, ein Insektizid, das unter anderem in Bohnenkulturen genutzt wird, sind die Grenzwerte in Brasilien 400-fach höher als in der EU

[4] https://www.agrarheute.com/pflanze/glyphosat-krebserregend-eu-verbotwackelt-582352

Larissa Bombardi ist außerordentliche Professorin an der Fakultät für Geographie der Universität von São Paulo - Brasilien. Seit 14 Jahren ist sie Spezialistin für den Einsatz von Pestiziden und weltweit eine der führenden Referenzen zu diesem Thema

Nach Erscheinen des Pestizid-Atlas im Jahr 2019 und dem enormen Medienecho war Larissa in Brasilien anonymen Anrufen und Drohungen ausgesetzt und ihre Wohnung wurde Zielscheibe eines Einbruchs Aufgrund dieser Einschüchterungsversuche verließ Larissa 2021 mit ihren beiden Söhnen ihr Heimatland und arbeitet seitdem im Exil in Belgien zu den Folgen des Pestizidgeschäfts in Brasilien

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