Achim Lipp, Der Brock´sche Tross. Die Veteranen. Auszug 3

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ACHIM LIPP

DER BROCK´SCHE TROSS 1984 - 2021

DIE VETERANEN PERFORMANCE, PALAVER, PROVOKATION

Juli 2022 2022 Mai

o s , k c ü t n S e k n i c e ü r t h S I t n i b h e c G i e l g s e t geb 3 g u z Aus

Verlag GESUCHT

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VOR DEM SPIEL 1 Direktor: Besonders aber laßt genug geschehn! Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn. Wird vieles vor den Augen abgesponnen, So daß die Menge staunend gaffen kann, Da habt Ihr in der Breite gleich gewonnen, Ihr seid ein vielgeliebter Mann. Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen, Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus. Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! Solch ein Ragout, es muß Euch glücken; Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht. Was hilft's, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht? Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken. (...)

Lustige Person. So braucht sie denn die schönen Kräfte Und treibt die dicht’rischen Geschäfte, Wie man ein Liebesabenteuer treibt. Zufällig naht man sich, man fühlt, man bleibt Und nach und nach wird man verflochten; Es wächst das Glück, dann wird es angefochten, Man ist entzückt, nun kommt der Schmerz heran, Und eh man sich’s versieht ist’s eben ein Roman. Laßt uns auch so ein Schauspiel geben! Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt, Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant, In bunten Bildern wenig Klarheit, Viel Irrthum und ein Fünkchen Wahrheit, So wird der beste Trank gebraut, Der alle Welt erquickt und auferbaut. Vorspiel auf dem Theater, Faust. Goethe, 1808

WER IST WER?

2015 in Mücheln auf dem Zionsberg. Foto von Oliver Teuber Von links nach rechts: Achim Lipp, sitzend Lothar Götz, dahinter stehend Britta Wandaogo, Bazon Brock, neben Bazon Brock stehend links ....?, liegend davor Stephan Drube, hockend Uli Giersch, stehend rechts neben Bazon Jeanine Fiedler, Christel Burmeier, Linde Burkhardt, Brigitte Friesz, Mann mit Turban und Brille stehend Armin Künstler, rechts daneben Katja Nicolai, sitzend Angela ....? , liegend im Vordergrund Sabine von Rötel, dahinter stehend Linde Kapitzki, Georg Kerl, Francois Burkhardt, Ulrich Klaus, Stefanie Hierholzer, Ursula Strömer, dann sitzend Ulrike Meyer und stehend Oliver Teuber, liegend Günter Lierschof. 2


ACHIM LIPP

DER BROCK´SCHE TROSS 1984 - 2021 DIE VETERANEN PERFORMANCE, PALAVER, PROVOKATION

PROLOG BAZON BROCK EPILOG MICHAEL HÜBL

Juli 2022 2022 Mai

Verlag GESUCHT

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VOR DEM SPIEL 2

Aun aprendo. Ich lerne immer noch 1828 Francisco De Goya (1746-1828)

Mit Beiträgen von Heiner Andresen Bazon Brock Linde Burkhardt Christel Burmeier Stephan Drube Brigitte Friesz Reiner Gabriel Michael Hübl Christoph Hufnagel Ulrike Huber Georg Kerl (†) Jochen Kuhn Günter Lierschof Lauritz Lipp Klaus Müller Beate Pohlendt Hajo Schiff Zoran Terzic Simon Waßermann Leo Welzin

Netzwerk! Nicht Stückwerk. 4


Prolog Bazon Brock

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Vorhang auf!

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Vorstellung der Protagonisten

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Aufruf! Apell! Bazon Brock

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Erstes Hauptstück Die Vorschule des Veteranen A. 1966-1969 • Alle Mann von Bord! • Das geheime Kelleratelier • Achtung! Kunstschule! Durchzählen! Durchatmen!

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Zweites Hauptstück Das Exerzitium 1969 • Acht Stunden mal Drei Tage mal Bazon Brock

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Drittes Hauptstück Die Veteranen Brock´scher Tross 1984-2020

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Stadt-Land-Fluß 1984 - 2019 • Wo wohnst du? Was machst du? • Zeig her deine Sachen • Fixstern Denkerei • Alle Mann an Bord! Über den Wolken 2020 • Apotheose der Veteranen

Juli 2022 2022 Mai

Aufstieg und lange Nacht auf dem Zionsberg 2021 • Streifzug im Peacable Kingdom • Einlass und Vorspiel • Das Theater. Das Fest. Vorhang und Himmelszelt Epilog Michael Hübl

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Liebe Freunde, die folgende reiche Auswahl von Doppelseiten soll Euch einen Einblick in das gesamte Werk von ca. 440 Seiten geben und Appetit machen, mehr davon zu sehen, zu lesen. Und schliesslich das Werk zu kaufen, wenn wir dann einen Verlag gefunden haben. Dieser Auszug wurde extra für Euch zusammengestellt, und zwar mit Blick auf das, was Euch besonders interessieren könnte. Die Doppelseiten stammen aus verschiedenen Kapiteln. Ich freue mich über jede Rückmeldung. Viel Vergnügen, Euer Achim August 2022 6


Juli 2022 2022 Mai

Bazon Brock PROLOG

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Vorhang auf!

Der Künstler in seinem Museum Vor 200 Jahren: Charles Willson Peale (81), lebensgroß (1822). Peale war Naturforscher als auch Maler, Gründer des Museums 1784, Akademie der Schönen Künste Pennsylvania, Philadelphia; unzählige Exemplare von Vögeln und anderen Tieren sowie Porträts revolutionärer Helden und anderer bemerkenswerter Veteranen, Hauptattraktion des Museums: die Knochen eines Mammuts, vor 30 Mio. Jahren bis zum ersten Auftreten des Menschen; von ihm freigelegt und rekonstruiert. Pinsel und Pallette als Ausweis des praktizierenden Künstler griffbereit.

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Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, kann ich nur lösen, wenn ich mich als Chronist wie als Erfinder, als Archivar wie als Romancier, als Spurenleser und Detektiv verstehe. Aufbewahrtes hervorholen, Aufgelesenes aufreihen, Nebeneinandergestelltes neu ordnen, Beziehungen entdecken und sichtbar machen, Bezüge finden und erfinden. In summa: aus ganz diversen Richtungen und in verschiedenen Formaten und Medien Auftauchendes als in unterschiedlichen Netzen Zusammenhängendes erkennen.

Juli 2022 2022 Mai

Zeitspanne dieser dreigliedrigen Zeitreise reicht von 1966 bis 2021. Viele Beiträge konnte ich aus der Geschichte und dem eigenen Archiv fischen und auch neu verstehen lernen. Ich musste mit der Erkenntnis der Differenz fertig werden, die zwischen der Oppulenz meiner erinnerten Erfahrungen der leibhaftigen Veteranen-Treffen und der dazu relativen Dürftigkeit der Zeugnisse davon. In Jahresfrist habe ich in vielen Mails die Veteranen um Material gebeten, Erinnertes oder aber frisch Produziertes. Manche Veteranen musste ich buchstäblich zum Jagen tragen, bis sie mal auf meine Anfrage antworteten oder mir etwas

schickten. Auch wenn das kein Selbstläufer war, sondern immer Anschub brauchte, Ansprache, Ansporn. Reinhard und ich wissen ein Lied davon zu singen. Marina war der unentbehrliche Verstärker. Danke! Und es hat sich gelohnt! Beiträge in den verschiedensten Formaten und thematischen Ausrichtungen, mal eher privat, nostalgisch, dann analytisch, philosophisch, theatralisch, belehrend, selbstkritisch unsere Verhältnisse beleuchtend... Für Weiteres versagen Dokumente und Gehirne. Die Mehrzahl der Protagonisten hat das Studium an der Hamburger Kunsthochschule absolviert, eine kleinere Gruppe kommt aus der Bergischen Universität Wuppertal. Alle haben die Schulbank bei Bazon gedrückt. Einige Wuppertaler sind mir nur durch einmalige Begegnung oder Vortrag bekannt, mit Korrespondenzen zu diesem Projekt habe ich dazu gelernt. Das Privat-Erinnerungsschöne spielte in den Anfängen eine gewisse Rolle, wich aber zunehmend den wohl vorbereiteten Beiträgen, die eigens für die Treffen angefertigt wurden, das wird im Laufe der Jahre sehr deutlich. 9


Abfragen und vorab erstellte Programme kennzeichnen den Weg. Vorfabriziertes und Fertiges wurde kaum präsentiert, KURZfilme sind da zu nennen, Dokumentationen. Vieles ist work-in-progress, Bestandsaufnahme pädagogischer und künstlerischer Reflexionen und Interventionen, Episoden. Ein KURZfilmer wird sich immer fragen: „Kann ich noch kürzen? Er rechnet mit Lesern oder Zuschauern, die keine Zeit haben; die neben dem einen Buch, das sie lesen, noch 32 weitere haben, die auf die Lektüre warten; die nicht selbst stöbern, bis sich ihnen etwas erschließt. sondern die man an die Hand nehmen und bei Laune halten muss, damit sie die berühmte kostbare Aufmerksamkeit nicht gleich wieder von mir abziehen.“ Der Kurzfilmer ist ein Meister der kurzen geraden Linie: Bitte nicht vom Wege abkommen! Folge mir und meiner Vorstellung. Ich will dich ganz, für einen kurzen Augenblick. Mich reizt das Knüpfen von Netzen, das Herstellen und Entdecken von assoziativen Bezügen, das Verlierren, Verlaufen, Finden und Erfinden. Es ist verlockend, manchmal geht der Weg ein bisschen weit in die Ferne. Die Richtung ist nicht immer offensichtlich, die Verästelungen führen dann auch mal ins 10

Gestrüpp. Doch dann weitet sich eine Aussichtsplattform mit überraschender Szenerie! Der Nichteingeweihte verirrt sich in der barocken Kunst-und Wunderkammer, kann sich aus dem Unter-, Über- und Nebeneinander keinen Reim machen – der Eigner und seinesgleichen konnten es. Die Welt in einer Nussschale. Doch dann wird es unübersichtlich, immer mehr Exponate überschwemmen die fürstlichen Kunstkammern, aus allen Erdteilen wird noch nie Gesehenes heim geschifft. Die äußerst privaten und geheimen Sammlungen, oft nur über die Bibliothek zu erreichen, platzen aus allen Nähten. Experten werden zur Hilfe gerufen. Sollen Ordnung in den Laden bringen. Na, und was tun sie als Erstes? Sie zerlegen die Sammlungen, sie erfinden Gesichtspunkte, nach denen sich die Einzelteile sortieren lassen. Sie zerstören alle nicht geahnten, nicht gewußten Zusammenhänge – und ordnen alles in linearer Manier: hier Waffen, dort Bücher, dann Bilder, Drucke, Münzen, Kutschen, Kostüme, Bronzefiguren, Mineralien, Gedrechseltes, das Wunderhorn des Einhorns, Tiergerippe etc. – schließlich gibt’s für alle je ein Spezialmuseum, siehe z.B. die Entwicklung in Kopenhagen um 1700 bis 18501. 1 Siehe z.B.:The Origins of Museums. The Cabinet of Curiosities Sixteenth- und Seventeenth- Centutry Europe. Ed.Impey, MacGregor. Oxford 1985.


Juli 2022 2022 Mai

Mit KUNST IM NETZWERK (1986), dem EUROPÄISCHEN MUSEUMSNETZWERK EMN (1998-2002) und der ELECTRONIC KUNSTKAMMER2 (2003 habe ich beispielhaft versucht, die in die verschiedensten Museen europaweit zerstreuten Sammlungen auf virtuellem Weg wieder in Austausch und Verständigung zu bringen: der Besucher baut sich am Bildschirm seine individuelle Kunstkammer, gegründet auf seinen eigenen Erfahrungen, Assoziationen, Wissensschatz. Ich nannte diesen Versuch „Die demokratische Rückeroberung der fürstlichen Kunst- und Wunderkammer“. „Der Bürger als Fürst“, wie ein Teilnehmer ausrief.

Thesauri, robotergenerierte Wortkaskaden und Verknüpfungstechniken, die technisch oder der durch angeschäkerte Kuratoren provozierte, fast surrealistisch anmutende Serendipity-Effekt. Alles noch Experiment, das Kunstkammerkonzeptnicht in Sicht. Und mit ungewisser Zielstellung. Die „sozialen Medien“ haben die Technik an sich gerissen, um aus Daten Geld zu machen...

Internet, Google und spezielle Bildprogramme, wie sie seit einigen Jahren in amerikanischen Museen wie dem MET3 und am Guggenheim probiert werden, um aus der fest gefügten Zurschaustellung ihrer Exponate herauszufinden. Künstliche Intelligenz KI, Mustererkennungsprogramme, neuartige

Wie jetzt mit dem arbeiten, was das eigene Archiv an zusätzlichem Bild- und Textmaterial bereichert hat? Der Umgang mit dem Veteranen-Fundus und dem meiner eigenen Bildung als Student an der Kunsthochschule ist eingebettet in unser kulturelles Gedächtnis, das in unserer Erziehung, unseren Berufen und Interessen gebildet wurde. Entsprechend werden sie zur Verknüpfung in die verschiedenen Netze herangezogen.

Julius von Schlosser, Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens. Leipzig 1908. 2 Around 1700, the principal collectors left the Kunst- und Wunderkammer. Experts had entered the field and started structuring the collection in a new way. They followed objective criteria, as they called their business. They tore down the web of indefinite references of meaning and interpretation and speculation and fuzzy knowledge—they took them apart and cut off the red tape that ran through the collections—serving a modern, scientific, a one-dimensional interpretation. The Kunst- und Wunderkammers were not only dismantled ideally—parts of the collections were separated and declared as special collections: astronomy, armory, jewelry, technology, ethnography, library, fine arts, etc. and—they were dislocated and placed at different institutions and buildings. The concept, that tried to get hold of universality in the Kunstund Wunderkammer was finished. From here the modern specialized expert museums started. http://wiki.achimlipp.de/index.php?title=Die_Elektronische_Kunst-_und_ Wunderkammer#FLASH_BACK:_THE_KUNST-_UND_WUNDERKAMMER 3 THE MET. How Artificial Intelligence Can Change the Way We Explore Visual Collections, February 4, 2019 , https://www.metmuseum. org/perspectives/articles/2019/2/artificial-intelligence-machine-learning-art-authorship

Unsere Leitfrage dagegen befasst sich mit dem Verhältnis von Kunst und Kunstvermittlung, Kunstpädagogik bzw. Kunstschule, wie Bazon Brock es bestimmt hat. ***

Da kam mir das vergnügte Schulmeisterlein Wutz von Jean Paul über den Weg gelaufen, der sich von der Buchmesse die Titellis11


ten schicken ließ und sich daran machte, einen ausgewählten Titel als künftige Aufgabe anzusehen und dann eifrig zur Feder zu greifen, um das Werk seiner Vorstellung nach zu schreiben, hehe. Oder aber „Die Topografie des Zufalls“ von Daniel Spoerri, der sich eines seiner Fallenbilder vornahm, und die Geschichte der jeweils in die Falle gegangenen Objekte aufdeckte oder auch erfand - die dann in der Übersetzung von Diter Rot auf die Spitze getrieben wurde mit seinen Anmerkungen zu den Anmerkungen- ein scheinbar endloses Spiel aus Erinnerung, Lexikonwissen und Assoziationen. Horror für den KURZfilmer, der als Ziel des Veteranenprojektes eine Autobiografie vermutete, „in die der große Kreis der Veteranen-Erinnerungen maßgeblich einfließt? Dann wäre vielleicht ein Titel wie „Der Achimsche Trotz“ oder „Mein Brockscher Tross“ oder „Wie ich die Jahre mit den Veteranen erlebte - ein überwiegend jubelnder Rückblick“ oder „All meine Wander- und Lehr-Jahre, meine Freunde, meine Kunst...“ oder „autobiografische Notizen eines leidenschaftlichen Kunstlehrers.“ angebracht.“ Sehr witzig. Nein, keine Autobiografie. Generalthema meiner Erzäh12

lung ist die SELBSTORGANISATION, zunächst im Rahmen eines Studiums an einer Kunstakademie, meines Studiums: dem Mangel an Inhalten und Strukturen, der Engstirnig- und Ahnungslosigkeit der Lehrer erfinderisch begegnen, Freiräume entdecken und nutzen. Netze knüpfen. Dann geht es um eine besondere Form der SELBSTORGANISATION von Menschen, die durch ein gemeinsames Bildungserlebnis verbunden sind. Als ehemalige Studenten von Bazon Brock haben sie die Möglichkeiten erkannt, in der geselligen Darstellung von Projekten, Vorhaben, in Dialog und Kritik mit ihm die Schaffung und Erhaltung eines produktiven Echoraumes über einige Jahrzehnte zu perpetuieren. Ich versuche, das Beispielhafte eines Beziehungsgeflechts von verstreuten Individuen zu zeigen, die über einen sehr langen Zeitraum in der losen Gruppierung als Tross in Bazon Anlass und ihre Orientierung gefunden haben. Das Prinzip des Netzwerkens, des Verknüpfens über das Chronikhafte hinaus ist ein Grundzug des Werkes und seiner Gestaltung und muss deutlich erfahrbar sein, auch wenn es dem Leser einige Mühe und Ausdauer abverlangt.


*** Den Anfang meines Berichtes gibt die Geschichte von den ersten Tagen meines Studiums an der Hamburger Kunsthochschule, das sich als Vorschule des Veteranen A. herausstellte. Die selbst gewählte Absonderung vom gemeinen Studienspektakel der HfbK verwirklichte sich in einem geheimen Kelleratelier ebenda und wechselte nur ab und zu in die Brock´schen Veranstaltungen im großen Aktzeichensaal in der zweiten Etage. Bindeglied ist das Exerzitium, eine dreitägige Klausur mit Bazon 1969 ohne Thema, mit dem das Ende meiner Studienzeit an der HfbK eingläutet wurde.

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Der dritte Teil wird eingeläutet durch Simons Bericht über den Ursprung der Veteranentreffen 1984, die dann zu den fast jährlichen Veteranentreffen der ehemaligen Studenten von Bazon mit ihrem Lehrer führten. 25 in Bild und Text aktenkundig geworden sind. Für den dritten Teil wurde einiges erst jetzt von den hierauf angesprochenen Erfindern zu Papier gebracht. Ein breit gefächertes Panorama von Projekten, Dankschreiben, Anekdoten, Kritteleien, Denkschriften, philosophischen Betrachtungen und einigen „Frechheiten” blättert sich auf. Und es braucht

seine Zeit, bis ich die Stränge in meinem und den Köpfen der anderen und den Jahrzehnten immer wieder neu zu fassen kriege. Papier und Bleistift immer am Bett für den Fall, dass sich etwas blitzartig hervor drängt und ich mich überwinde, es im Nachtlicht doch schnell aufzukritzeln, bevor es wieder abtaucht. Dafür danke ich allen herzlich! Zusammen mit Reinhard Strömer konnten die Treffen ab 2013 gut vorbereitet und strukturiert werden: Anfragen übers Netz bezüglich Termine, Beiträge, Equipment, Unterkunft etc.. Die Veranstaltungen wurden besser, auch anspruchsvoller. Mit der DENKEREI wurde ein kostbarer Brennpunkt geschaffen: Sie wurde unser Forum, man wagte sich an diese begrenzte Öffentlichkeit, man riskierte einiges, fand Echo. Dann wird unerwartet das Licht ausgeknipst: Das Ende der DENKEREI hat mit allem Schluss gemacht, Corona hat uns vollends ins Aus geschlagen. Die imaginierte Rahmenerzählung des dritten Satzes umfasst die Auftritte der einzelnen Protagonisten - es sind um die zwanzig, von denen einige schon nicht mehr leben. 13


Manchmal sehe ich die Gesellschaft des Decamerone vorbeiflitzen- und uns Dantes Purgatorium hinauf. Ich schreibe dieses in der nun schon zwei Jahre währenden Corona-Epedemie. Das Finale „Nacht auf dem Zionsberg”. So wurde in Anspielung auf den Dr. Faustus von T. Mann der Ort unseres Bergplateaus identifiziert, die Bühne, auf der Pferde laufen, Schafe grasen, und an dessen Fusse die Templerkapelle seit 1270 steht, dem privaten Domizil schräg gegenüber. Diesen wirklichen Ort haben die Veteranen mehrmals aufgesucht. Und sie haben sich schließlich gehörig in Position gebracht. Die Erzählung ist Panorama und Panoptikum zugleich. Keine Chronik, keine Familiengeschichte, keine Enthüllung, kein Roman, keine Fiktion. Sie gibt Einblick in individuell geprägte Entwicklungen von Themen und Motiven, Personen, in den Wandel von spontan organisierten Treffen in Ateliers und Wohnungen bis hin zu sorgfältig geplanten, mit thematischen Kristallisationspunkten besetzten Veranstaltungen wie in der Denkerei ab 2013. Sie spürt sich wandelnde Positionen und Strukturen in einem 14

Kosmos von Fix- und Wandersternen, Kometen, Monden, Sternschnuppen und Sternbildern auf, die im Laufe einer 36 Jahre währenden Begegnung miteinander in Beziehung standen. Sie werden beispielhaft erfahrbar. Die Kerntruppe des Brock´schen Trosses umfasst schwankend 15-20 ehemalige Studenten aus Hamburg, Wuppertal und Wien. Die dem Hauptthema vorhergehenden Kapitel VORSCHULE DES VETERANEN A. und EXERZITIUM sind die Wegweiser aufs Gelände der VETERANEN, das sich schließlich auf dem Zionsberg öffnet. “Es wird Nacht auf dem Zionsberg”, so eine Seite aus dem Schlusskapitel unter Verwendung einer Aufnahme aus dem Jahre 2015 von Oliver Teuber, Schinkels Sternenhimmel und der vieldeutigen Bronzescheibe: Himmelsscheibe von Nebra 2000 BC? Dionysos-Schale des Exekias 530 BC? Baumscheibe der Zeltschule 2021? D e r B r o c k ´ s c h e Tr o s s 1 9 8 4 -2 0 2 1 DIE VETERANEN P e r f o r m a n c e . P a l a v e r. Provokation.


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Charles Willson Peale (81), Der Künstler in seinem Museum (1822) 1955 Briefmarke 150th anniverary Academy Fine Arts Pennsylvania

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Das Bild der Veteranen im Wandel. Zeitschübe. Gesichtszüge.

Brock, Bazon 2018, 2017, 2015, 2010, 2002, 1989

Westermeyer, Frank 2016, 2011

Klaus, Ulrich 2016, 2011

Zoran, Terzic 2013?

Götz, Lothar 2013

Hierholzer, Stefanie 2015, 2011, 2010

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Wandaogo, Britta 2015, 2011

Welzin, Leo 2017, 1989


Durch Jahre und Jahrzehnte. Die Protagonisten:

Teuber, Oliver 2015, 2011, 2010

Kerl, Georg 2015, 2002

Huber, Ulrike 2009

Pohlendt, Beate, 2010, 1997, 1994

Juli 2022 2022 Mai

Kuhn, Jochen 2016, 1989

Gabriel, Rainer 2013

, Der Künstler in seinem Museum

Schmit, Norbert 2017, 2010

Friesz, Brigitte 2016, 2011

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Waßermann, Simon 2019, 2009, 1997

Schiff, Hajo

2018, 1997

Hilgenstock, Burkhard

2009, 1988

Burkhardt, Linde 2015, 1969

Baran, Eric 1994, 1988

Lierschof, Günter 2020, 2013, 1972

Braun, Ursula 2015, 2009

Burmeier, Christel 2016, 1997, 1972

Meier, Ulrike 2016, 2009 18

Grau, Christoph 2006, 1989, 1972


Plett

Hufagel, Christoph 2016, 2002, 1972

2006, 2002

Strömer, Reinhard 2019, 2009, 1989

Andresen, Heiner 2019, 2009

Nickel, Jonny Wolf 2016, 1972

Drube, Stephan 2019, 2010, 1972

Juli 2022 2022 Mai

Lipp, Lauritz 2019, 2018, 1988, 1982

Lipp, Achim 2020, 2016, 2010, 2009, 1973

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Bazon hat sich aus der Galerie der Protagonisten per Autolevitation emporgeschwungen .

Aufruf Appell Liebe Alle,

So schallt es aus dem wolkigen Katheder - und ich habe aufgeschrieben, so gut ich nur konnte.

Mit Veteran A. bin ich mir einig: Wir wollen keinen Reigen aufführen, schon gar keinen Bilderreigen. Familienclans oder auch Kleingärtnervereine mögen sich darauf kaprizieren und auch darin erfüllen. Mit den aus den Veteranentreffen hervorgegangenen Dokumenten in Wort und Bild wollen wir öffentliches Interesse finden. Das können wir nur, wenn sie auf Sachverhalte abzielen, die für die Allgemeinheit relevant sind. Insgesamt sollen sie unsere pädagogische Mission manifestieren. Veteran A. hat Aussendungen in die Runde der Veteranen verschickt und mit unterschiedlichstem Echo die unterschiedlichsten Beiträge bekommen: von den persönlichsten Begegnungen über Erfahrungsberichte, über Planungen, versunkene Arbeiten, Projektbeschreibungen, Huldigungen und Anekdoten, aktuelle Stellungnahmen und Einschätzungen. Vieles erst jetzt zu Papier gebracht, anderes aus der Versenkung heraus20

geholt. Aus zeitlicher Distanz neu bewertet. Ich muss ein bisschen weiter ausholen, sorry. (Bazon bringt den Zeigestock in Stellung.) Für unsere Gruppe ist das meiner Meinung nach allgemein interessierende Thema die Diskussion des Verhältnisses von freier Kunst, angewandter Kunst und Kunsterziehung. Lange galt für die großbürgerliche Häme oder die kleinbürgerliche Dummheit, dass nur diejenigen Kunsterzieher werden, bei denen es nicht zum freien Künstler gereicht habe. In der Öffentlichkeit ist bis heute die historische Entwicklung nicht wahrgenommen worden, der zufolge bereits nach der Londoner Weltausstellung von 1852 die freie Kunst durch die Wirkungsmacht der angewandten Kunst weit in den Schatten gestellt wurde. 1869 wird durch das kaiserliche Dekret zur Gründung der Kunstgewerbeschulen die Bedeutung der angewandten Kunst für die Entwicklung der „Deutschen Industrie“ in Konkurrenz zur französischen und englischen Industrie zu einem bestimmenden Faktor der Wirtschaftspolitik. 1904 konstatiert Meyer-Gräfe, dass sogar die ästhetische Avantgarde von der angewandten Kunst bestimmt würde (in erster Linie durch Warenund Politikpropaganda). Mit der Etablierung des Bauhauses erweitert sich der Wirkungskreis der angewandten Künste: Er erfasst in Fortsetzung der


Lebensreformbewegung die gesamte Alltagswelt der Zeitgenossen. Seit Luthers Zeiten war das Territorium der heutigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Quellgrund des objektiven und absoluten Geistes. Mit der Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft 1617 durch Weimarer und Köthener Landadel entwickelte sich ein dritter Strang der Arbeit mit dem Wirkungspotential künstlerischer Mittel, die Kunsterziehung bzw. die Ästhetik. Den Höhepunkt der historischen Entwicklung der „Ästhetischen Erziehung des Menschen“ bildete die Etablierung des Zeichenunterrichts als Primärfach aller Schulbildung in der postnapoleonischen Zeit. Seither begründete sich in Europa der Geltungsanspruch der Erziehung zu gestalterischen Fähigkeiten aus

deren Bedeutung für die Aneignung von Kulturtechniken im Jugendalter. Erste Darstellungen von kulturanthropologischen Kenntnissen stützten diesen Anspruch. Diese universale Aufgabenstellung der Kunstpädagogik blieb auch in jenen Phasen erhalten, in denen nationale Zugehörigkeiten zu nationalistischer Verpflichtung auf kulturelle Identität durch Lehrpläne die ästhetische Erziehung dominierten. Das galt sowohl in Zeiten deutschnationaler Pathetik als auch demokratischer Re-education. Achtung: Sprichwörtlich sind Lehrer und Förster unmittelbar für ihre Wirkung verantwortlich, obwohl sie den tatsächlichen Erfolg ihrer Bemühungen höchstens in Andeutungen oder Versprechen erleben.

Ein Fazit für die Abgrenzung der Kunstpädagogik von freien und angewandten Künsten kann lauten: - die Kunstpädagogen sind Künstler mit Verantwortung und Begründungspflicht für ihren Wirkungsanspruch - die freien Künstler adressieren die anonyme Öffentlichkeit

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- die Kunstgewerbler adressieren den Markt

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Wenn wir den Kunstpädagogen als Künstler mit Verantwortung für die Konsequenzen seines Tuns gegenüber freien und angewandten Künstlern absetzen, gewinnen wir eine Kennzeichnung, die von öffentlichem Interesse ist. So wird ja heute allgemein das Fehlen der Bereitschaft beklagt, für Handlungen und Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen.

Worin liegt die besondere Beispielhaftigkeit der kunstpädagogischen Verantwortung? Sie ist auch universell gesehen der einzige Bereich der Erziehung, in dem man lernt,

dass nicht die hohen großen Ziele die Mittel rechtfertigen, sondern nur durch die Wahl der Mittel die Verfolgung von Zwecken tatsächlich kontrolliert werden kann.

Um beispielsweise die Forderung nach Transparenz politischer Entscheidungen bildnerisch zu repräsentieren, nützt das Ziel für die Gestaltung gar nichts, es zählen die Beherrschung von Grundlagen künstlerischer Formgebung, Materialauswahl und Bildkomposition. Was wird zum Beispiel bei der Darstellung von Wasser als Medium der Transparenz gewonnen? Dem Betrachter wird die Eigengesetzlichkeit aller Medien sichtbar und sinn22

lich erfahrbar, im Wasser beispielsweise die Brechung des Lichts. (Mit diesem etwas herbeigesuchten Beispiel, das von den zahllosen Bildrealisierungen der Künstler absieht, sondern verbal allgemein und unverbindlich bleibt, folgt ein Rundumschlag von gesellschaftlich politischen Anpruch:) So lernt man die Differenz von Zwecken und Mitteln oder von Buchstäblichkeit und Geist eines Textes kennen. Das ist grundlegend für alle politischen, sozialen und psychologischen Entscheidungen. Wer das nicht berücksichtigt, wird Extremist, Fundamentalist oder Totalitarist. (Er kommt jetzt zurück auf das Projekt DIE VETERANEN) Demnach wäre eine Publikation der Tätigkeit unserer Veteranen, sehr häufig auch als vererbungsfähige fette Ahnen angesprochen, für die Öffentlichkeit interessant, wenn jeder in seinem Beitrag seine pädagogische Verpflichtung sichtbar werden lässt. Jeder muss sich überlegen und darstellen, was an seiner eigenen Arbeit, auch und gerade in der Erinnerung, von spezifischem Interesse für Bildungsarbeit sein könnte. (Er schaut mahnend in die Runde) Bitte keine Bedenklichkeiten durch die geringen Erfolge oder gar Scheitern der pädagogischen Mission. Gehen wir nicht alle mit Hochgenuss über Friedhöfe? Ich habe dort immer die lehrreichsten Beispiele von Begründung und Rechtfertigung


gefunden, etwa wenn auf einem Grabstein neben der Namensnennung zu lesen war: ‚Er hatte tatsächlich Vorfahrt.‘ Vielleicht könnte die ganze Publikation als solch ein Grabstein in Erscheinung treten, mit dem Untertitel:

Große Visionen der Kunsterziehung den wenigen Nachfahren erzählt. Also, strengt euch an, der Öffentlichkeit eure große Mission erinnerbar zu machen!

„Wer was zu sagen hat, der trete vor!“

Ich, Achim, fühle mich unvermittelt angesprochen, die Szene zieht an Aug´ und Ohr vorbei, trete vor und bringe mich in Position:

So direkt hat er es nicht gesagt, aber dies gemeint in Referenz zu ELSA denke ich, in Wagner´s Lohengrin, aus dem es jetzt vorbeiklingt...

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und klappt das Libretto zu, springt von der Wolke hinter den Tresen und wird gesellig.

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1. HAUPTSTÜCK

Die Vorschule des Veteranen Achim

HfbK. Hochschule für bildende Künste Hamburg, Lerchenfeld 2 24


ALLE MANN VON BORD! So tönt es um kurz nach 9 Uhr im Hafen von New York aus den Bordlautsprechern der HANSEATIC

Sommer 1966 Ich hatte gerade das erste Semester an der HfbK, Hochschule für bildende Künste Hamburg hinter mir. „Grundklasse“ im Fachbereich Freie Kunst für angehende Kunsterzieher. Es war eine große Enttäuschung. Kindische Aufgaben wurden gestellt. Ein lebloses Hin und Her in Graustufen, und das im Frühjahr, im Sommer! Kaum hatte sich der Staub von kreisenden Kohlestiften gelegt, und das Scharren von spitzen Bleistiften der Härte 1 in Raum 113 war verklungen, da: Telefonanruf einer Schiffsreederei. Er öffnet die Türen für ein Abenteuer, das meine Sicht auf die Dinge des Lebens nachhaltig veränderte: Ich sollte überleben!

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Ein Abenteuer, das am 7.September 1966 fast in einer Katastrophe geendet wäre, und auf das wir, die Musiker einer Studentenband, jährlich zurückkommen: zum „Hanseatic-Gedenktag“ am 7. September. Wir telefonieren, treffen uns familiär, kochen und speisen, hören alte Tonbänder unserer "Von Walden Combo", machen ein bisschen Musik, schwatzen und lachen, kramen die alten Sachen immer noch einmal hervor, werden alt und älter und auch weniger... 25


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Die „schöne Hamburgerin“ war das erste Passagierschiff, das nach dem Krieg wieder die Route Hamburg-NewYork im Liniendienst fuhr. Was war passiert? Eine Brennstoffleitung im Maschinenraum des seinerzeit 36 Jahre alten deutschen Luxusliners war um 7.24 Uhr Ortszeit gebrochen, Öl spritzte auf die heißen Abgasrohre. Rasch breitete sich das Feuer aus, die Flammen fraßen sich durch Lüftungsschächte und fanden in der gediegenen Holzeinrichtung viel Nahrung.

Die Mannschaft hatte keine Chance, befand später das Seeamtsgericht. Selbst am Pier brauchte die New Yorker Feuerwehr zehn Stunden, um den Brand zu bändigen. Ernsthaft verletzt wurde jedoch niemand, obwohl drei Stunden vor dem geplanten Auslaufen schon nahezu die gesamte Mannschaft und einige Passagiere an Bord waren.

Juli 2022 2022 Mai

„Auf See wäre es zu einer Katastrophe gekommen“, sagt Witt.

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Hat die Hanseatic überlebt?

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Nach ihrer Verschrottung? In gewisser Hinsicht: Ja! Wenn auch nur als verstaubtes Modell vor der gehäkelten Gardine im m i t t l e r e n Fenster der Gaststube vom Ual Ööramhüs auf der Nordseeinsel Amrum. Entdeckt im Sommer 2016, gleich neben der Nordseescholle mit Krabben.

Der Oberkellner war ganz verdattert, als ich mit der Gabel auf das Modell hinter der Gardine wies und sagte: "Mit dem da bin ich vor 50 Jahren in New York abgebrannt. Mit der Hanseatic." Irritiert blickte er zu mir, zu dem Modell, das da vor sich hin verstaubte, dann wieder zu mir. Er hat sich keinen Reim darauf machen können und wird es wohl dem Amrumer Reizklima zugeschrieben haben. 29


Das kann ja heiter werden! Das Schiffsabenteuer war überstanden, ebenso der improvisierte Rückflug mit einer rumpelnden Turbopropmaschine mit TankZwischenlandung in Neufundland.

verwandelt, waren Kneipe, Nachtclub und Rummel-

Unsere Garderobe war, bis auf das, was wir am Leib trugen, in der chinesischen Bordwäscherei ein Opfer der Flammen geworden.

ausgewählten Gäste gab es auf seiner Etage vor der

Unsere Instrumente holten wir nach etlichen Wochen aus einem Lagerschuppen im Hamburger Freihafen. Mein Schlagzeug hatte die Reise gut überstanden. Besonders glücklich und stolz war ich auf das mächtige Zildijan Becken, das ich am Abend vor dem verheerenden Brand in der 47. Strasse in New York gekauft hatte.

zeug. Jürgen hatte uns frivole Kostüme geschneidert:

platz in einem. Das mehrtägige rauschhafte Treiben und Knutschen tobte auf allen Etagen der Hochschule. Für den Direktor Herbert von Buttlar und seine Bibliothek eine Tanzperformance vom Kommilitonen und Favoriten Jürgen Drese mit mir am Schlagknappe Lendenschurze aus knallrotem Plastik und freie Oberkörper. Ich improvisierte rhythmisch an meinen Trommeln, Jürgen verausgabte sich feuervogelmäßig. Es war ein schöner Erfolg. Kurz darauf übergab er mir ein Manuskript für ein Theaterstück, das er geschrieben hatte:

Mein Schlagzeug, auch wenn ich keine Band mehr habe, ist immer noch im Musik- und Wohnzimmer

„ERSTE HILFE DRESES SEXSIECHE ZWERGE STERILE BLUTRUNST

aufgebaut. Ab und zu gebe ich mir eine kleine Kost-

pantomimisches ritual zu schlagzeug und lautspre-

probe, und eine für die Veteranen, so wie im Jahre

cher für 4 helfer und 8 opfer“...

2005, als wir uns zum ersten Mal auf dem Temp-

Das Stück, das ich in der Nähe von Artauds Theater

lerhof Gut Mücheln trafen. Ulrike Hubert berichtet

der Grausamkeiten verortete, kam über diese An-

davon in ihrem Romanauszug "ULRIKES ROMAN

kündigung nie hinaus.

(EIN WERDEGANG)", siehe hierzu auf den Seiten

Und die Wege trennten sich, er ging in Film- und

.....

Theaterklassen, zu Minks, Harry Kramer etc., ich in das Geheime Kelleratelier.1

Meinen ersten Soloauftritt als Drummer allerdings hatte ich in der HfbK: Das Hanseatic-Abenteuer war überstanden. Das Winter-Semester 1966/67 mit seinen zu Widerstand und Gegenentwurf fordernden grundsemestrigen Grünstufen lag in den letzten Zügen. Das traditionelle Großereignis der Hochschule stand vor der Tür, das über die Stadt hinaus bekannte Künstlerfest LILALE ! Aula, Treppenhaus, Hallen und Flure hatten sich in eine mehrstöckige Bühne 30

1 (2019 traf ich Jürgen Drese nach 50 Jahren zum ersten Mal seit 1969 wieder: am Abend vor der Eröffnung der Ausstellung der ZELTSCHULE auf dem Narrenschiff, der Cap San Diego, im Jahre 2019 in Sagebiels Fährhaus, einem traditionsreichen Restaurant an der Elbe. Er trägt noch immer die gleichen hautengen Lederhosen wie damals an der HfbK 1966. Das Typoskript tauchte 2014 in meinem Archiv auf, dann erneut 2021. Ich befragte ihn nach seinem grandiosen Start: „Nein, nie aufgeführt... und dann wurde ich Kunsterzieher, hahaha.“)


Stand: 09.10.2013 16:18 Uhr | Archiv 100 Jahre Kunst und Exzesse am Lerchenfeld von Kristina Festring-Hashem Zadeh, NDR.de Künstler feiern an der Hochschule für bildende Künste am Lerchenfeld © HFBK Lerchenfeld / Rolf Franck Foto: Rolf Franck

Feiern, bis der Arzt kommt - oder die Sittenpolizei: Über die Stränge zu schlagen hat an der HFBK Tradition. „Gegen vier Uhr morgens, wenn die Bands wegen Erschöpfung nicht mehr spielen konnten, entwickelte sich eine Art Elysium in den Festsälen. Auf Fensterbänken, Treppenabsätzen, Heizkörpern oder Biertischen sanken Jungens und Mädchens dahin [...] Den Begriff Gruppensex gab es damals noch nicht. Man machte es eben einfach, ohne der Tätigkeit, die man da vollzog, einen Namen zu geben. Und das war es, was dem Li-La-Le noch heute diesen unglaublichen Nimbus gibt.“ Sittenlos. Zügellos. Schlicht unerhört findet mancher Hamburger, was sich bei den Künstlerfesten an der Hochschule für bildende Künste (HFBK) am Lerchenfeld lange Zeit abspielt - und nun im Festglossar zum 100. Geburtstag des damals so innovativen Gebäudes in Anekdoten und Zitaten von Till Briegleb anschaulich beschrieben wird. Feiern, bis die Wände wackeln

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Legendär sind die als Li-La-Le, der Abkürzung für „Lieben, Lachen, Lerchenfeld“, bekannten Faschingsgaudis. Als bei einer solchen Veranstaltung in den 1960er-Jahren junge Menschen im Adams- beziehungsweise Evaskostüm in ein Plantschbecken hopsen und zudem nachgemalte Pornos die Wände zieren, hat ein Oberfeldwebel a.D., der das Fest besucht, genug. Er ruft die Polizei. Die Bilder werden beschlagnahmt und das Li-La-Le wenig später verboten. Offiziell allerdings nicht wegen sittlicher Verwahrlosung. Es heißt, Statik und Standfestigkeit des Gebäudes seien durch die Tanzenden gefährdet.

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Vom Präsidenten wurde man gern mal zu einem Smoke eingeladen: „Hab ich aus der Schweiz! Biddies!“ - und da wurde einem richtig schwummerig vor Augen...Einer Essenseinladung mit Rosa von Praunheim mochte ich allerdings nicht folgen.

. i e b r o v t s i e L a L i .emesters 1970 L n e t o VTAezumrEbnde dleesmSoamn msicehrsvor: sen!

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u der AS dee: Das stel ellenh K n I i e t ein fes trand S ! e e d Eine I


Risk of nicotine addiction The Centers for Disease Control and Prevention has warned that bidis contain higher levels of nicotine, tar and carbon monoxide than conventional cigarettes. „Smoke from a bidi contains three to five times the amount of nicotine as a regular cigarette and places users at risk for nicotine addiction,“ said the CDC website.(2014)

Michael Schirner

Kein Kostümzwang Schirner studierte an der Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg bei Max Bill, Max Bense, Kilian Breier und Bazon Brock. Seine Abschlußarbeit war das letzte Künstlerfest der Hochschule am Lerchenfeld LiLaLe 1968. Motto:

„Kein Kostümzwang, das heißt, Kostüme können an der Garderobe abgegeben werden.“ Nach dem Fest wurde das LiLaLe verboten und Schirner verließ die Hochschule.

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Mit Neugier erwartete ich das S om m e r s e m e s t e r 1967! Ohne Oberlehrerklassenkünstler. 33


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Oberlehrerklassenkünstler Nach meinen Grundsemestern hatte man mich zum SS 1967 in eine Mal-Klasse gesteckt, in der grünlich-bräunlich-gelblich-kubisch-statisch-dumpfe Stilleben gepinselt wurden. Sich dick überlagernde Farben und Formen, Vasen, Töpfe, alles zugekleistert!

Das war so gar nichts für mich. Ich wanderte durch Kaufhäuser und suchte nach leichten, transparenten farbigen Stoffen, fand günstige Chiffontücher und hantierte dann konsequenterweise lieber mit diesen flatternden Fähnchen, aber nicht um sie zu bemalen, sondern um sie in verschiedenen Lagen übereinander zu spannen, transparent, luftig, leicht, unprätentiös, in den schönsten Pastelltönen zunächst in Rahmen. Nach einigen Versuchen zog ich ins Freie, schliesslich in den heimischen Garten, vom Kirschbaum liess ich sie auf den Rasen herabgleiten. Durchsichtige Nylonfäden und Zeltnägel gaben die Halterung, der Wind besorgte das Seine. Um die Installation vorzuführen, bat ich den Klassenkünstlerlehrer, mich zu besuchen. Ich dachte, das sollte er sehen! Unbedingt! - Was allerdings nie geschah. Null Reaktion. Es wurde Herbst, die wiegende und webende Anlage wurde fahl, emfing Blätter und sank langsam hernieder.

Mein Entschluss stand fest:

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Im WS 1967/68 orientiere ich mich neu für meine künstlerischen Vorhaben ! Ohne Oberlehrerklassenkünstler. 35


Wir gingen ins Exil. In´s selbst bestimmte Chaos. Das stimmte uns vergnügt. Ohne Oberlehrerklassenkünstler.

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Das geheime Keller-Atelier

mit beweglichen Elementen an den Wänden, Elektromotoren, Kunststoffleisten, Plexiglasplatten, Spiegelelemente, Gummibänder, Sprühfarben, Bohrmaschinen und Schraubstock, Lötkolben und Klebebänder... Radio und eine Kuckucksuhr, Tauchsieder und Teekannen, ein Waschbecken. Reizwörter wie Kybernetik, Aleatorik, Kinetik, geplante Unordnung, gelenkter Zufall fanden

Der Zufall wollte es, dass mir Jan Laas, ein älteres Semester aus dem Kreis um Mavignier, Anfang des Wintersemesters 1967/68 einen durch Examen frei gewordenen Platz in einem geheimen Atelier in den Katakomben der Akademie anbot: 3 Arbeitstische, 3 Plätze, Heizung, Strom, Waschbecken, Vorbaufenster zum Innenhof Paterre: Ein stillgelegter langer Flur, der ursprünglich vom Mensavorraum zur Metallwerkstatt führte. Dann wurde ein Raum für den Hausmeisterbetrieb gebraucht. Den gewann man in den ersten Metern des Ganges durch Einbau einer stabilen Wand. Die Holzwerkstatt trennte am andern Ende des Ganges einen Raum

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für die Lagerung von Furnierhölzern ab. In der Mitte blieb eine Zelle ungenutzt. Die hatten sich vor Jahren Kunststudenten erobert, zu erreichen nur durch das Funierlager, die Tür mit diesem Schlüssel zu öffnen. Diese Einladung kam wie gerufen. Neben Jan traf ich dort auf Klaus Beck, der ein Semester weiter war. Hier tat sich eine erstauliche Welt auf: Apparate

aus den Veransaltungen von Max Bense, Kurd Alsleben, Almir Mavignier und Bazon Brock ihren Weg in unser Kelleratelier. Wir machten uns unseren Reim daraus. Und zwar von Montag bis Donnerstag von 10 bis 18 Uhr, in unregelmäßigen Abständen unterbrochen von den Seminaren Bazon Brocks, die jeweils Dienstags von 10-15 Uhr und auch Mittwochs einluden. Unsere Arbeitstage wurden in der Regel mit der obligatorischen Currywurst in der Mensa beschlossen. 37


Wer wusste von unserem Atelier? Das war zunächst der Herr Koslowsky am Eingangstresen (siehe Aufblasprotokoll mit Bild). Er wusste auch, dass wir oft bis nach Dienstschluss werkelten. Manchmal über die Nacht - siehe Zeltschule China- Transparente in ZELTSCHULE Seite ....), es war dann der Hausmeister e.... "OKAY". Sonst hatten wir Besuch von Leuten aus der Musikhochschule, z. B. Irmgard Schleier, Kollegen aus der Graubnerklasse, Bodo Baumgarten, Gabi Fackelmann, Christiane Hespe, Dorothee von Windheim und Lili Fischer, das waren dann Liebende. Immer sehr spannend und auch entspannend - alle eher ratlos angesichts der Sachen, die wir da vorhatten. Einige gingen sporadisch wie auch wir in die übervollen und stundenlangen Brockvorlesungen, wie Edmund Nehring, Jockel Walz, der ASTA Chef, Testbesucher aus den verschiedenen Klassen, einige vom MSB Spartakus und andere, die gar nicht auf der Akademie waren. Gelegentlich guckte auch der uns eher zugewiesene Kunstoberklassenlehrer in Gestalt von Uli Pohl rein, der uns das Examen abnehmen musste und für allerdings uns kein Sparringspartner sein konnte. Er verstand ausser seinen glasklaren Löchern in seinen polierten Plastikskulpturen, die er ständig perpetuierte, nichts. Und die auch nicht ganz. Bei Streifzügen durch Kaufhäuser, bei denen wir ihn erwischten, ließ er sich immer die Kravatten zeigen, die er bereits an seinem Halse spazieren trug. Duchamp und die Surrealisten, Gruppe Zero, Spoerri, Tinguely, Graevenitz, Oldenburg gerieten so allmählich in unseren Dunstkreis. Wir hörten von land art, Konzeptkunst, arte povera... Von all diesen Dingen war sonst in der Akademie nichts zu erfahren, geschweige denn zu sehen. 38

Bazon Brock zerpflückte in seinen Veranstaltungen Dinge und Vorgänge des Alltagslebens und empfahl, diese aus einem Repertoire von Übertragungs-, Translokations- und Verkehrungsprozessen zu transformieren und in einer neuen Erscheinung Gestalt zu geben, um so mit Gewinn Abstand und dann aus neuer Sicht wieder Nähe zum Leben zu gewinnen. Der Geniestreich war vollkommen gestrichen. Aus dem Vorhandenen zu schöpfen war die Losung: auseinandernehmen - umformen - zusammenbauen; vereinzeln-transformieren-verknüpfen: Erkenntnis durch neue Zusammenhänge stiften. Almir Mavignier, der sein Ausdrucksrepertoire bereits auf das Äußerste reduziert hatte: Farbpunkte, wie der Tube ent-drückt, in farblichen Abläufen zu irritierenden Rasterfeldern auf Leinwand plazieren, erklärte uns sein Dilemma mit dem Kunstbetrieb: "Verkauft nie eure schönsten Sachen, bei mir waren es die Punkte. Die Galerie verkauft die Bilder wie verrückt. Sie will nichts von mir außer: PUNKTE. PUNKTE PUNKTE. Ich bin gefangen. Es ist entsetzlich." Bazon Brock entzog sich elegant dieser Bedrohung. Er gab sich als Künstler ohne Kunstwerk aus und war Beispielgeber. Das Kunstwerk findet im Kopf statt! Und so entließ er uns immer wieder ein wenig ratlos aus seinen Lehrstunden. So kamen wir im Laufe der Wochen und Monate dazu, uns des künstlerischen Anspruchs der Akademie zu entkleiden, uns von Leinwand, Keilrahmen, von Pinsel und Künstlerölfarben zu verabschieden.


Unser Material sollte pur sein: Luft und Zahlen, Schablonen, Stempel, Sprühdosen, Schachteln und Tüten, Pappe, Plastik, Maßband und Elektromotoren. Wir besprachen uns immer montags um 10.00 Uhr beim Tee. Klaus erzählte von seinen Familienschmausereien in der Lüneburger Heide mit Rehbraten, Pilzen und Rotkohl; kleinteilig von seinen neuen Motoren, Apparaten und Figuren, die er am Wochenende fabriziert hatte.

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Ich dagegen konnte nur mit meinen Auftritten als Schlagzeuger in einer Studentenband kontern, die oft freitags von 20 Uhr bis morgens 4 Uhr und am Samstag über dieselbe Distanz noch einmal Musik gemacht hatte, Tanzmusik von Elvis, den Beatles, Tom Jones, Gitte, Peter Alexan-

der und anderen Anführern der Hitparaden. Auf der Reeperbahn im Ballhaus Centrum, im Cafe Keese mit Tischtelefon und Damenwahl, auf üppigen Privatparties, auf Jubiläums- und Karnevalsveranstaltungen, im noblen Vier Jahreszeiten Hotel, auf Hochzeiten und Schiffstaufen, in dunkelroten Nachtclubs, auf Dorfbühnen in Elm und in Meldorf, haben Lustreisen auf Schiffen nach Helgoland und New York begleitet... Wir brachten uns mit unseren anderen Passionen auf eine Ebene, wir bastelten und bauten und probierten und versuchten zu verstehen. Brocks Veranstaltungen erschütterten uns immer wieder - und machten uns einfacher, offener, klüger, skrupelloser, mutiger.

Das Kelleratelier wurde Basislager. Unsere Aktionen und Demonstrationen, zu denen wir uns allmählich hingearbeitet hatten, verlegten wir kaltblütig ins Umfeld.

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Durchatmen! Durchzählen!

Trommel & Saxophon Rhythmus & Melodie Muster & Figur Zahl & Luft Wir haben beide als Amateurmusiker in Bands gespielt, in verschiedenen. Klaus als Saxophonist mit den verschiedensten Exemplaren, vom Sopran- über Alt- ,Tenor und Baritonsaxophon. Ich als Schlagzeuger mit Sets von Pearl, Premier, Sonor und Yamaha, die Becken von Zildjian, ein heftiges Ride in New York erstanden, bevor die Hanseatic abbrannte, siehe S..... Im Kelleratelier haben wir beide 3 Jahre Seite an Seite gearbeitet. An verschiedenen Projekten.

Luft und Zahlen anstelle von Leinwand, Farben und Pinsel. Auf überraschende Weise hat jeder seinen eigenen Ansatz entwickelt, die Unterschiede lassen sich durchaus aus unserer Parallelwelt zum Studium begreifen, in der wir als Musiker in einer Jazz- und der andere in einer Popband jahrelang wirkten. Der aktuelle Auftritt, der körperliche Einsatz, das Nachtleben, die Rückkopplung mit dem tanzenden Publikum, die Öffentlichkeit und Nähe zum Milieu, der Verlässlichkeit innerhalb der Band, die Freundschaft und nicht zuletzt die für das Studentenleben bescheidene, wenn auch ausreichende finanzielle Sicherheit.

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In einer Band müssen alle Musiker Teamplayer sein. Es gibt keinen Dirigenten, keinen Organisator und Koordinator des musikalischen Geschehens. Jeder muss mit seinem Instrument sich auf seine Weise in die Konfiguration der Band oder Combo, wie man es damals nannte, einfügen.

Der Trommler: Das Zählen, das Strukturieren, das Grundmuster, das Tempo, der Rhythmus, der Beat, der Knack, durchgängig, pausenlos. Er sitzt im Hintergrund, ist immer dran. Er beschreibt fortlaufend das Spielfeld.

Der Saxophonist: Er ist Solist und Selbstdarsteller, steht vorn an der Rampe, kann sich bewegen, mit Körpergebärden sein Spiel überhöhen, präsentiert sich dem Publikum, steht in engem Kontakt. Er spielt die führende Melodie, improvisiert und verleiht ihr eine persönliche Klangfarbe, er kann zurücktreten und dem Kollegen den Platz an der Rampe übergeben, hat Spielpausen, wenn das Piano, die Trompete, der Sänger ihre Soloparts übernehmen. Und wieder ins Rampenlicht zurückkehren. Nach Ende des Auftritts: Der Schlagzeuger schraubt das Set auseinander, packt seine Trommeln, Becken, Ständer, den Sitz und die Stöcke in Kisten und Taschen und schleppt alles zum Auto, der Saxophonist hat sein Instrument ruckzuck im Koffer –


Achim, der Trommler: Die Bass Drum meines Sets wurde entsprechend unverkennbar personalisiert. Das Porträt in der weißen Arbeitslatzhose, beispielhaft abgelöst später von meinem Zahlenkreuz. Durchzählen im Atelier und auf der Bühne. 1969.

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Klaus, der Saxophonist: In allen Lagen dem Wind die Flötentöne beibringen. Egal ob Bariton, Tenor, Alwt oder Sopran. Auch 2010.

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Fein onduliert sitzt die Dame im knielangen Kostüm im roten Plüschsessel. Nur oberflächlich ins Gespräch mit der Freundin vertieft, lässt sie den Blick über den Rand ihres Sektglases schweifen. Da: Der an Tisch 11, der mit dem dezenten Oberlippenbärtchen, der wäre doch was - zumindest für einen Schwof. Sie greift zum Hörer. "Klingeling" - "Darf ich bitten, der Herr?" - "Mit Verlaub, die Dame." Der Oberlippenbart steht auf, rückt den Zwirn zurecht und kommt an ihren Tisch. Ein leichter Diener, dann geht es Richtung Parkett. Die Freundin hätte ihm zwar besser gefallen. Doch ablehnen darf er die Aufforderung zum Tanz nicht. Das besagt der rosafarbene "Knigge", der auf jedem Tisch neben dem Telefon liegt: "Denken Sie stets an die These, es regiert die Frau im Keese".

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Wechselbad. Am Wochende raus aus dem Kelleratelier und rauf auf die Bühnen von Tanzpalästen, Dorfkneipen und Nachtclubs, Vergnügungsschiffen: Alsterclub, Cafe Keese, Ballhaus Zentrum, Damenwahl, Tischtelefon und rotes Licht. Oft von 20:00 bis 4:00 in der Früh.

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Ab Montag dann: Fingerübungen mit dem Kleinen Einmaleins

Der verflixte Mittelpunkt

Die lange und die kurze ZWEI.

Palmström steht an einem Teiche und entfaltet groß ein rotes Taschentuch: Auf dem Tuch ist eine Eiche dargestellt, sowie ein Mensch mit einem Buch. Palmström wagt nicht, sich hineinzuschneuzen, er gehört zu jenen Käuzen, die oft unvermittelt-nackt Ehrfurcht vor dem Schönen packt. Zärtlich faltet er zusammen, was er eben erst entbreitet. Und kein Fühlender wird ihn verdammen, weil er ungeschneuzt entschreitet. 44

Christian Morgenstern (1871 - 1914)


Kontrastreiches Vorlaufprogramm zu „Luft in Tüten“

Schweinefleisch im eigenen Saft. Polnisches Erzeugnis. Doppelt vermessen

Das MAGISCHE TUCH. Gefaltet ruht es und Schweinefleisch im eigenen Saft.

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Das MAGISCHE TUCH. Testversion. Luft, geatmet, in Karton; unter Tuch

Das MAGISCHE TUCH. Stuhl; Aktenkoffer, geöffnet; unter Tuch

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3.3.1969: Beginn der seit Januar vorbereiteten Aktion „Luft in Tüten“: In der Kunsthochschule ein- und ausgeatmete Luft von Kommilitonen, Lehrern und Hauspersonal einsammeln, in Tüten verschliessen, nummerieren, archivieren, im Karton verwahren. Diese Aktion später über die Schule hinaus ausweiten. Schliesslich einige Hundert Luftpakete zusammentragen. Als die Luft eingefangen, verschlossen und im Karton versiegelt war, wollte der Aufblaser wissen, wie lange wir das Geschäft denn wohl betreiben wollten. Die Antwort war kurz und bündig: „Bis wir alle Luft eingepackt haben.“ Nachsinnend schritt er von dannen, um sogleich sein in der Luft segelndes Schiff zu besteigen. 56


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