0831 (03.2011)

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Ausgabe #7

März 2011

Menschen in Kempten

…und abends zu den Dietels! 73 Jahre Kino in Kempten

von Sabine Stodal Vor 73 Jahren eröffnete Fritz Zacharias mit dem Parktheater und den Kammerlichtspielen die ersten Filmtheater in Kempten. 0831 unternahm mit Lothar Dietel, dem Neffen des Firmengründers und Seniorchef des heutigen Colosseum Centers, eine Zeitreise zu den Anfängen des Kinos in unserer Stadt. Lothar und Ingeborg Dietel sind, das sei mit aller Ehrerbietung gesagt, Urgesteine des Kinos. Der gepflegte 85-jährige Geschäftsmann und seine überaus dynamische 80-jährige Gattin sorgen seit über vier Jahrzehnten für das cineastische Wohlergehen der Allgäuer Kinogänger. Auch heute noch kümmern sie sich um die Geschicke ihres Colosseums. Zwar haben Tochter Andrea Dietel-Sing und Schwiegersohn Klaus Sing mittlerweile die Geschäftsführung des Familienbetriebes übernommen, doch Lothar Dietel ist nach wie vor als beratender Seniorchef in die Firma eingebunden, erledigt Büroarbeiten und führt Verhandlungen mit Filmverleihfirmen, während seine Frau die Personalabteilung leitet und noch häufig im Foyer anzutreffen ist. Die Wurzeln zu seiner Karriere als Kinoinhaber reichen weit in Lothar Dietels Familiengeschichte - ins vorletzte Jahrhundert - zurück, von der er Einiges zu berichten weiß: „Mein Großonkel Max Künzel, der Jüngste von 13 Geschwistern, heiratete zum größten Missfallen seines

Vaters eine Schausteller-Witwe, die ein Hippodrom betrieb. Anstatt den elterlichen Bauernhof in Sachsen zu übernehmen, zog der dann von Jahrmarkt zu Jahrmarkt und hatte irgendwann die Idee, in einem Zelt bewegte Bilder zu zeigen. Stummfilme, die mit der Kurbel angeleiert wurden. Das war ein solch großer Erfolg, dass er in Leipzig eines der ersten stationären Kinos Deutschlands baute und später Weitere in ganz Sachsen - und plötzlich war der verfemte Großonkel Max der große, reiche Kinomann in der Familie.“ In den 30er Jahren nahm jener Lothar Dietels Onkel Fritz Zacharias unter seine Fittiche. Der studierte Architektur und hatte bis dahin gemeinsam mit Die-

das Führen von Kinos zu bekommen - was nicht so einfach war.“ Die Beiden entschieden sich für Kempten als Standort, Zacharias erwarb das Grundstück des heutigen Parktheaters, das über dem Burggraben des ehemaligen Stadtgrabens lag und begann zu bauen. „Was keiner wusste, war, dass es unter dem Grundstück Hohlräume gab woraufhin der Rohbau wieder einstürzte!“ Am 1. August 1938 konnte das Parktheater aber schließlich doch noch mit einem großen Festakt eingeweiht werden.

nocenter mit vier Sälen um, ehe 2001 schließlich der Neu- und Umbau in seiner jetzigen Form in Angriff genommen und das Parktheater zur Großraumdisco wurde.

Heute blickt Dietel zufrieden auf sein Lebenswerk zurück. „Unser Kino ist ein Ort der Begegnung“, freut er sich. Etliche Schauspieler und Regisseure, wie etwa André Eisermann oder Leo Hiemer, waren schon hier, um ihre Filme zu kommentieren und inzwischen knabbern rund 300.000 Filmfreunde pro Jahr in einem der fünf Kinosäle des CoLothar Dietel losseums entspannt ihr Popcorn. Und manchmal, wenn noch in Opas Kino?´“, erinnert die Lichter schon ausgegangen er sich. „Von 9400 Kinos gab es in sind, mischen sich auch die Seder ehemaligen Bundesrepublik niorchefs unters Publikum. „Ich nur noch 3000.“ habe keinen Lieblingsfilm, aber ich sehe am liebsten Filme mit Trotzdem willigte er, wenn auch Niveau“, so Dietel. Da ist es nur widerwillig, in die Bitte seiner passend, dass für die nahe ZuTante ein, für eine Übergangs- kunft, zusätzlich zum Studiozeit von zwei Jahren die Ge- film in Haus 4 ein „Tag des guten schäfte zu übernehmen - und Films“ in Planung ist. blieb bis heute. „Ab dem 1. Juli 1967 war ich auf einmal der Kinomann. Ich war lange Zeit überzeugt, einen Riesenfehler gemacht zu haben, denn die Kinos liefen nicht sehr gut. Heute sage ich Gott sei Dank!“, schmunzelt er. Die 70er Jahre waren, des aufkommenden Farbfernsehens wegen, harte Zeiten für Kinobetreiber. In jenen Jahren gaben die Dietels das sanierungsbedürftige Kali auf, bauten zunächst das Colosseum zum Ki-

„Mit 85 sollte man die Zügel so langsam mal aus der Hand geben.“

Die Kemptener waren begeistert und der Erfolg so überwältigend, dass Zacharias im 1. Stock des ehemaligen Gewerbehauses in der Vogtstraße (heute Sozialbau) zusätzlich die Kammerlichtspiele (genannt „Kali“) eröffnete. Doch damit noch nicht genug: 1953, in der HochZeit des Kinos, errichtete er auf der Brandruine des Lothar Dietel Tanzlokals „Colosseum“, (das zum 1895 vom Stallmeister König Ludwigs II. tels Vater und dessen Bruder von erbauten Bahnhofshotel gehörChemnitz aus die drei im Fami- te) zudem sein Colosseum-Filmlienbesitz befindlichen Textilfa- theater - „mit 700 unbequemen briken geleitet. „Zacharias war hölzernen Klappstühlen, die erst allerdings nicht ganz arisch, und nach und nach durch Gepolsals Hitler an die Macht kam, be- terte ersetzt werden konnten“, kam er Schwierigkeiten. Des- erinnert sich Dietel. Zusamhalb ging er nach Bayern, um men mit der Konkurrenz, den am Tegernsee mit seiner Frau Bürger-Lichtspielen, kurz Büli, zusammen ein Hotel zu leiten. in der Kotterner Straße, und der Als ihm das zu langweilig wurde, Scala im Stadttheater, brachte es half ihm Max Künzel, bei Goeb- Kempten seinerzeit auf sage und bels‘ Reichspropagandaminis- schreibe fünf Kinos mit je einem terium eine Genehmigung für Saal.

„In Kempten geht man nicht nur ins Kino, man geht `zur Frau Dietel´“

Zu jener Zeit war Lothar Dietels Weg nach Kempten alles andere vorgezeichnet. Denn der gebürtige Chemnitzer und studierte Textilingenieur war Werksleiter bei einem großen Textilkonzern in Bruchsal und hatte nicht die geringsten Ambitionen, ins rückläufige Kinogeschäft einzusteigen. „Damals hieß es. `Wer geht denn heute


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