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Literaturtipps
| LESETIPPS |
Schöne Bücher im Mai
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Einzigartig
Eine namenlose, alles andere als zuverlässige IchFigur blickt auf die ersten drei Dekaden ihres Lebens zurück, die sie in Deutschland und der Türkei verbracht hat — zwischen Culture Clash, Pubertätsqualen und einem sich ausbreitenden innerfamiliären Riss. Faszinierend und ungewöhnlich die Erzählweise: voller inhaltlicher und stilistischer Brüche, dargeboten von einer Erzählerfigur, die in einem Satz bzw. Atemzug zwischen schonungsloser Selbstoffenbarung und surreal anmutenden Phantasien hin- und herspringt. Yade Yasemin Önder hat nicht nur Schreiben studiert — sie kann es auch, und wie! Wohl selten hat es einen Debütroman gegeben, der in seiner anarchistischen Sprachvirtuosität so viel Genuss zu bereiten versteht. Bitte mehr davon. (mei)
Dan Coopers Geschichte
Es war eine Begebenheit so ungewöhnlich wie einzigartig: In den Abendstunden des 24. November 1971 entführte ein Mann in Seattle ein Flugzeug der Northwest Airlines. Seine Drohmittel: eine selbstgebaute Bombe; seine Forderungen: 200.000 Dollar in gebrauchten Scheinen — plus vier Fallschirme. Im Gegenzug werden alle Geiseln bis auf vier Crewmitglieder freigelassen, dann startet die Maschine gen Süden. Über den Wäldern Oregons springt der Mann mitsamt seiner Beute aus dem Flugzeug und verschwindet spurlos … Jene spektakuläre und bis heute unaufgeklärte Flugzeugentführung hat der Hamburger Autor Jens Eisel jetzt in einer erlesen guten TrueCrime Story aufgearbeitet: semidokumentarisch, unaufgeregt, erzählerisch dicht und voller subtiler Spannung. Tipp. (mei)
Yade Yasemin Önder: »Wir wissen, wir könnten und fallen synchron« Kiepenheuer & Witsch, 256 Seiten (geb.) Jens Eisel: »Cooper« Piper Verlag, 224 Seiten (geb.)
Wirkmächtig
Literaturereignis, Literaturpreisträger, Publikumserfolg — als »Der Ursprung der Gewalt« 2009 in Frankreich veröffentlicht wurde, war der Roman schnell in aller Munde, alsbald sogar verfilmt. Nun endlich auch ins Deutsche übersetzt. Beruhend auf wahren Begebenheiten erzählt darin Fabrice Humbert die aufwühlend-mitreißende Geschichte des Pariser Lehrers Nathan Fabre, der bei einem Besuch in Buchenwald auf das Bild eines Mannes stößt, der seinem Vater erstaunlich ähnlich sieht. Gefesselt von dem geheimnisvollen Fremden beginnt Nathan zu recherchieren — und begibt sich auf eine Reise, die ihn tief in die von großer Schuld und Leidenschaft behaftete Geschichte der eigenen Familie führt. Ergreifend und mit großer Meisterschaft erzählt. Unbedingter Tipp. (mei)
Fabrice Humbert: »Der Ursprung der Gewalt« Elster & Salis, 368 Seiten (geb.)
Ein ›neuer‹ Bunin
Zehnter Band der bei Dörlemann erscheinenden Werkausgabe von Iwan Bunin. »Nachts auf dem Meer« versammelt 28 Erzählungen des russischen Nobelpreis-Autors aus den Jahren 1920 bis 1924, von denen 15 erstmals ins Deutsche übersetzt sind — und umreißt einen Zeitraum, in dem Bunin gezwungen war, sein Leben komplett neu auszurichten. Als entschiedener Gegner der neuen Herren im Lande hatte er Russland verlassen und in Frankreich ein von Trauer und Wehmut geprägtes Exildasein begonnen. Das schlägt sich auch in den hier versammelten Geschichten nieder, die sich vor allem durch Verlusterfahrungen, bittersüße Reminiszenzen und einen auffälligen Hang zum Miniaturstil hervortun. Eine uneingeschränkte Leseempfehlung verdient gleichwohl auch dieser ›neue‹ Bunin. (mei)
Iwan Bunin: »Nachts auf dem Meer. Erzählungen 1920–1924« Dörlemann, 336 Seiten (geb.)
Das Gewicht der Liebe
Halle, 1986: René, Student an der Arbeiter- und Bauernfakultät der Uni Halle, kommt gerade aus den Sommerferien zurück. Trotz großer Perspektiven interessiert ihn sein Studium nur so halb, weitaus mehr vereinnahmen ihn Bücher, Musik und vor allem Rebecca, deren Herz er gerade gewonnen hat. Ihr Zusammensein ist luftig und leicht, voller Schwung und Sorglosigkeit. Doch dann zieht sie sich plötzlich zurück, wird schwermütig, geht ihm aus dem Weg. Türen des Zweifeln und der Hoffnung werden aufgestoßen, René versucht zu verstehen und kommt einem großen Geheimnis auf die Spur … Derart niveauvoll — zugleich süß und sauer, lustig und traurig — von der Liebe und dem Lebensgefühl der Ost-1980er zu erzählen — das muss André Kubiczek erst einmal einer nachmachen. (mei)
Zähmung der Erinnerung
Nach Jahren der Abwesenheit kehrt Johannes an den Ort seiner Kindheit, die Kleinstadt A. in Niederbayern zurück. Gleich einem jener hölzernen oder steinernen Erinnerungsmarterl, die an Wegesrändern auf vergangene Ereignisse verweisen, wird ihm jede Kleinigkeit, jedes Detail, das er in der Gegenwärtigkeit seines Besuchs erblickt, zu einer direkten Verbindung in die Vergangenheit, seine eigene Kindheit — die einst abrupt endete, als sein Vater bei einem Unfall starb. Ursprünglich als Reportage gedacht, entwickelt sich Johannes Laubmeiers »Das Marterl« zum Roman einer besonderen Heimkehr, der warmherzig, sprachlich elegant und mit feinem Humor von der Wiederbegegnung mit Verdrängtem und vom Ringen um Orientierung in der eigenen Erinnerung erzählt. (mei)
André Kubiczek: »Der perfekte Kuss« Rowohlt Berlin, 400 Seiten (geb.) Johannes Laubmeier: »Das Marterl« Tropen Verlag, 288 Seiten (geb.)