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Nach Manhattan

Fifth Avenue and Forty-Fourth Street swarmed with the noon crowd. The wealthy, happy sun glittered in transient gold through the thick windows of the smart shops, lighting upon mesh bags and purses and strings of pearls in gray velvet cases;[ … ].

F. Scott Fitzgerald, Tales of the Jazz Age, 1922

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Prolog

«Ah, da ist ja Long’ Alcide!», rief mein Vater aus. In meinen Kinderohren klang das nach Abenteuer, ein amerikanischer Name aus einer Geschichte von Karl May, eines Helden wie Old Firehand, Dick Hammerdull, Hobble Frank – und Long’ Alcide,warum nicht?Tatsächlich war dieser Name eine in der Gegend übliche Verkürzung vom französischen l’ oncle Alcide.

An dieses erste Mal, als ich nach Cornol mitgenommen wurde, kann ich mich erinnern, da war ich vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Mit meinem Vater kam ich von der Kirche her, und als wir beim Haus in der Gabelung der Dorfstraße nach rechts in das Sträßchen La Rasse einbogen, begriff ich, dass hier meine Verwandten wohnten. Der Großonkel war am Holzspalten vor dem Scheunentor. Der Spaltstock stand zwischen zwei großen Haufen, links das schon Zerkleinerte, rechts die groben Klötze. Er hielt das Scheit mit einer Hand und hieb die Axt dicht neben seinen Fingern ins Holz. Er brauchte nur einen Schlag, um es zu teilen. Als wir ins Haus gingen, machte er noch eine Weile weiter und kam dann nach. Tant’ Julia konnte ich bei der Begrüßung nicht ausweichen. Sie packte mich mit hartem Griff und drückte mir links und rechts einen stacheligen Kuss auf die Wange.

Viele Personen saßen am Stubentisch beim Essen des weichgekochten Sonntagsbratens. Mein Vater, meine Mutter – die kam nur dieses eine Mal mit, meine ich –,mein Bruder, meine Schwester. Long’ Alcide, Tant’ Joséphine, Tant’ Julia. Sie und Long’ Alcide neckten einander immer wieder. Mein Vater lachte und übersetzte, was sie sagten: «Sèrre-te, véye toétchon! – Quetsch dich mal zusammen, alter Lappen!» Long’ Alcide trug ein Gebiss im Oberkiefer, eine

Reihe blendend weißer Zähne, die sichtbar wurden, wenn er sprach oder lachte. Der Unterkiefer war eingefallen, als hätte er dort keine Zähne. Ich meine mich zu erinnern, wie er und Tant’ Joséphine Mühe hatten beim Beißen, dass auch deshalb alles sehr weichgekocht war. Long’ Alcide gab sich lustig, gut gelaunt. Er hörte allerdings fast nichts. Ein altmodisches Hörrohr wie das von Professor Tournesol im Tintin lag herum. Er benutzte es aber nicht, sondern formte stattdessen mit der Hand eine Muschel hinter seinem Ohr.

Wir Kinder verstanden kein Wort von dem, was die Erwachsenen sprachen. Mein Vater redete Französisch mit dem Onkel und den Tanten, sie antworteten in einer Mischung aus Französisch und Patois. Kaum hatten wir gegessen, wollten deshalb meine Schwester und ich den Tisch verlassen. Wir schlichen uns davon in die Scheune. Sie wurde schwach beleuchtet von Sonnenstrahlen, die ihren Weg fanden durch die Lüftungsschlitze zwischen den Brettern. Es gab zwei Holzböden auf verschiedenen Ebenen, die vertikal etwa drei Meter voneinander entfernt waren. Eine Leiter mit ausgedörrten und deshalb wackeligen Sprossen stand angelehnt am oberen Boden. Wir stiegen hinauf, das Heu lag schon ewig dort und war staubtrocken. Weil wir es bewegten, wurde der Raum jetzt von schrägen Lichtbahnen durchschnitten. Wenn wir von der oberen zur unteren Heubühne hinunterschauten, war da ein schwarzer Abgrund. Wir kletterten nochmals hinunter und schaufelten mit Händen und Armen alles Heu auf einen Haufen zusammen, von dem wir hofften, er werde unseren geplanten Flug sicher abbremsen. Wieder oben, warteten wir so lange, bis jemand den Mut hatte zu springen. Schon nach dem ersten Sprung waren wir süchtig.

Tant’ Julia kam in die Scheune und schimpfte. Es war uns klar, was sie sagen wollte. Dass gefährlich sei, was wir da machten, und wir zurück in die Stube kommen sollten. Wir taten so, als verstünden wir nichts, und sprangen weiter. Da kam sie zurück mit meinem Vater. Sie wiederholte, dass wir aufhören sollten, redete auf meinen Vater ein. Er sagte: «Mais, laisse-les!»

Sie gab auf, schimpfte aber vor sich hin, als sie die Scheune verließ. Vater ermahnte uns nur, auf unsere Zungen aufzupassen.

Wer war wie viele Male in Cornol, wer hat sich um die alten Leutchen mehr gekümmert?Diese Fragen wurden immer wieder mal gestellt in der Familie. Mein Vater, meine Mutter, die jüngere Schwester, der ältere Bruder und ich waren nicht die fleißigsten Besucher. Der Mutter hat es gegraust in dem kleinen Häuschen, zum Beispiel, wie ich mich erinnere, vor dem Schüsselchen mit Zucker, aus dem die Cornoler mit dem Kaffeelöffel schöpften, wenn dieser schon in die braune Brühe und in den Mund gesteckt worden war. Es war alles ein bisschen verklebt, die Tischdecke voller Flecken. Oder vor dem Kirschkuchen, der zwar sehr gut schmeckte, dabei aber, weil er aus so kleinen ç ’ liejes gemacht war, hauptsächlich aus Steinen bestand. Deshalb blieb nach dem Essen eines Stücks ein schwarzroter Haufen davon auf dem Teller übrig, mehr oder minder manierlich ausgespuckt. Mein Bruder durfte –oder musste – ein-, zweimal im Sommer mit dem Vater zur Heuernte nach Cornol. Er kam von den Bremsen zerstochen zurück, war aber stolz auf sein Abenteuer. Er erzählte, dass ihn der Vater dort einmal angestupst und auf Long’ Alcides Hose gezeigt habe. Diese war mit eingetrocknetem Mist beschmutzt und zog die Fliegen in Massen an. Das gab dann so ein Bild, Long’ Alcides Hintern, umkreist von einer Wolke von Fliegen. Es war unmöglich zusammenzubringen mit anderen Bildern von ihm, mit bräunlichen Fotos aus den USA, auf denen er in tadellosen Anzügen und noch ohne Schnurr- bart zu sehen war, vor teuren Autos und in Gesellschaft vornehmer Damen.

Da die Cornoler mehrere Flecken Land besaßen, auf denen Obstbäume standen, vor allem mit Äpfeln und Zwetschgen, musste im Herbst bei der Obsternte geholfen werden. Das haben nach Long’ Alcides Tod andere aus der Familie übernommen, die Brüder des Vaters mit ihren Familien. Jemand, vielleicht eine Cousine, erzählte, dass Tant’ Julia dann in der Mittagspause im Schatten eingeschlafen sei und wie ein Bär geschnarcht habe.

Als nur noch die beiden Großtanten allein im Haus lebten, wurde es kritisch. Tant’ Julia ernährte sich überwiegend von Rotwein, Tant’ Joséphine hatte schon lange böse Beine, war fast blind und konnte sich nur schwer bewegen. Ihre Neffen sorgten dafür, dass die zwei Alten einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekamen, geliefert aus dem Gasthaus Boeuf. Aber Mitte der Siebzigerjahre begannen sich die Leute im Dorf Sorgen zu machen, die Frauen könnten im Haus stürzen oder unbemerkt versterben. Dazu feuerte Tant’ Julia immer noch den Herd in der Küche ein, was zu weiteren Befürchtungen Anlass gab. In der Familie war man sich uneins darüber, ob man die beiden alten Frauen in ein Pflegeheim bringen solle oder nicht. Weil aber die Gemeindeverwaltung den Druck verstärkte, machte man sich auf die Suche nach einem geeigneten Heim. Man fand eines, das von Nonnen geführt wurde, und es gelang, die beiden dorthin zu bringen. Tant’ Joséphine soll es sehr genossen haben, umsorgt und gepflegt zu werden, zum ersten Mal seit Jahren wieder einmal richtig gewaschen. Sie starb kurze Zeit später. Man würde gerne erzählen, sie sei in dem Heim verstorben. Friedlich eingeschlafen, nachdem man sich gut um sie gekümmert hatte, und sie ihr anstrengendes Leben in dem unbequemen Haus loslassen konnte. Aber es war anders. Sie starb im Spital von Prun- trut, nachdem sie im Heim gestürzt war und sich den Schenkelhals gebrochen hatte. Tant’ Julia aber packte ein ums andere Mal ihr Köfferchen und haute ab, stellte sich mit erhobenem Daumen an die Landstraße und wollte nach Hause gefahren werden. Irgendwann wurde es den Nonnen zu viel. Sie musste in die halbgeschlossene Abteilung der Alterspsychiatrie von Bellelay gebracht werden. Dort lebte sie noch fünf Jahre, bis sie 1979 im nahen Spital von Tavannes starb. In Bellelay ging ich sie einmal besuchen mit meinem Vater. Wir holten sie ab für eine Spritzfahrt durch die Freiberge. Tant’ Julia genoss das sehr. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie auf einem Bänklein sitzt, in die weite Landschaft blickt und befriedigt seufzt. Als wir sie gegen Abend zurückbringen, kommen wir am Ortseingang beim Schild vorbei. Da ruft sie: «ÈBellelay, c ’ât li qu ’ demoerant les fôs! – Da wohnen die Verrückten!»

Bevor sie im Portal der Anstalt verschwindet, dreht sie sich um und winkt uns fröhlich zu.

Nach dem Tod der Cornoler Verwandten ging das Haus in den Besitz der Erbengemeinschaft über. Die bestand zur Hälfte aus meinem Vater, unseren Onkeln und einer Tante, das heißt, aus den Söhnen und der einen Tochter meines Großvaters Jean Baptiste, dem ältesten der Cornoler Brüder. Die andere Hälfte wurde der Tochter von Célina zugesprochen, der jüngeren Schwester von Long’ Alcide. Der älteste meiner Onkel, mit dem Namen Jean Baptiste wie sein Vater, verwaltete die Angelegenheiten und versuchte, das Haus der Gemeinde oder einem Nachbarn zu verkaufen. Nachdem dieser Plan fehlgeschlagen war, beschloss er zusammen mit den Geschwistern, es zu einem sehr niedrigen Preis einem Neffen zu überlassen. Dieser begann, zusammen mit einem befreundeten Schreiner, das Haus zu renovieren. Weil man nicht gleichzeitig darin wohnen konnte, stellten sie einen Sommer lang ein Zelt in den Obstgarten neben der Kirche. Leider stürzte der Schreiner in der Scheune mehrere Meter tief und ruinierte sich die Schulter. Zudem begann der Cousin eine Ausbildung als Goldschmied und wurde Vater, sodass das Projekt auf Eis gelegt wurde. Der Dorfbach unterspülte in der Zwischenzeit das Fundament. Eine Zeit lang hauste ein Künstlerfreund im Haus, dann verkaufte es der Cousin an einen Spekulanten, der es wiederum veräußerte an ein Paar aus Basel. Wie man heute sieht, blieben deren Bemühungen um eine Erneuerung irgendwann stecken. Es wirkt heute unbewohnt und präsentiert sich mitsamt dem Garten in erbärmlichem Zustand. Zwei Obstgärten, im Kern des Dorfes, direkt neben dem Friedhof, sind noch im Besitz von Nachfahren. Sie kümmern sich um die Ernte und die Pflege der Bäume.

Im Laufe der Zeit werden die ursprünglich detailreichen Erzählungen einer Familie abgeschliffen wie die Steine in einem Fluss. Auch bei uns Chiquets, von denen ich hier erzähle. Vonden komplexen, zerklüfteten, vieldeutigen Geschichten bleiben grob zusammenfassende, schablonenhafte Sätze übrig, die halbe Leben zu umfassen behaupten.

Eine Tante ist in den USA verstorben, alle anderen Geschwister kamen arm zurück.

Der Pionier und Erfolgreichste war Long’ Alcide, Kammerdiener bei Rockefeller Junior.

Eine Tante war drüben verheiratet, mit so einem Erfinder. Als er starb, kehrte sie zurück.

Was auch bleibt, sind farbige, mit Emotionen verbundene Anekdoten. So soll ein Neffe der Ausgewanderten bei Vorstellungsgesprächen in einem Smoking von Rockefeller aufgetreten sein, mit einem roten Pullover unter dem Kittel. Eine gute Geschichte, aber eher unwahrscheinlich, da der Neffe viel größer war als der Millionär. Es gibt in der Familie keine Kleidungsstücke und Schuhe von Rockefeller Junior mehr, von denen man erzählte, Long’ Alcides Patron habe sie ihm großzügig überlassen. Es ist aber nicht zu bestreiten, dass es sie gegeben hat, denn mehrere Familienmitglieder erinnern sich übereinstimmend und detailliert daran. Mein Vater erhielt vom Onkel mehrere Paare identische, handgefertigte Schuhe, hellbraun, rahmengenäht und im Stil von Golferschuhen mit Lochgirlanden geschmückt. Er trug sie so lange, bis das Leder brach. Long’ Alcide habe berichtet – so die Erzählung des Vaters –,dass Rockefeller von jedem Schuhtyp mehrere Paare anfertigen ließ und dieselbe Schuhgröße gehabt habe wie er, sein Diener. Mir waren diese Schuhe leider zu klein. Ich durfte als Halbwüchsiger dafür einen halblangen, schwarzen Mantel aus feinem Wollstoff austragen, mit Applikationen aus schwarzer Seide auf dem Kragen. Auf der Innentasche war eine Stoffetikette aufgenäht mit der Aufschrift

John D. Rockefeller Jr. Esq. Der Mantel erregte zu jener Zeit, um 1969, Bewunderung und Neid bei meinen Schulkameraden. Meine damalige Freundin strickte mir dazu einen roten Wollschal, mit dem ich, wie sie fand, Aristide Bruant auf dem Plakat von Toulouse-Lautrec glich.

Hat man dem Großonkel Long’ Alcide seine Geschichten über die Zeit in Amerika geglaubt?Dass er Kammerdiener von Rockefeller Junior war?Eswar nicht einfach, sich das vorzustellen, wenn man ihn danach, nach 1917, wieder im kleinen jurassischen Dorf antraf, als Kleinbauer mit zwei, drei Kühen, ein paar Obstbäumen. In der eigentümlichen Sprache der Ortsansässigen seine Erlebnisse zum Besten gebend. Alle wussten zwar, dass er Geld besaß, seitdem er aus den Staaten zurückgekommen war. Er verteilte es großzügig, wo er dies für nötig erachtete. Aber dass er es im Dienste eines der reichsten Männer der Welt verdient haben sollte, dazu in dessen größ- ter Nähe, das glaubten ihm sicher nicht alle. Er lachte gerne über seine eigenen Worte, was Zweifel an seinen Geschichten nährte. Nie wusste man, ob er sich über den Zuhörer oder über sich selbst lustig machte. Und weil er fast taub war, war es schwierig, ihn nach Details seiner Erlebnisse zu fragen.

Ich werde erzählen, wie er aus dem Tausendseelendorf Cornol aufbricht. 1907 gilt in der Geschichte der Vereinigten Staaten als Rekordjahr, in dessen Verlauf erstmals mehr als eine Million Auswanderer in Manhattan ankamen. Seine ältere Schwester Joséphine ist bereits vier Jahre in New York gewesen, wo sie sich als Kindermädchen und Näherin durchgeschlagen hat. Wir werden sehen, was Alcide sich erhoffte, und was er schließlich erreicht hat jenseits des Atlantiks.