Georg Kreis: ‹Vermessene Zeiten›

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Georg Kreis

Vermessene Zeiten

Meine Erinnerungen



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FĂźr meine Frau Nicole

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Vermessene Zeiten Meine Erinnerungen

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Autor und Verlag danken für den Druckkostenbeitrag: Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung

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© 2018 Zytglogge Verlag AG, Basel Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Thomas Gierl Coverfoto: Jules Vogt, Grosser Findling auf dem NOK im Birrfeld, 1965 Layout/Satz: Melanie Beugger Druck: cpi books GmbH, Leck ISBN: 978-3-7296-0996-9 www.zytglogge.ch

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Inhalt 1. Vorwort.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Studentenleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Militärisches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Leben im und mit 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Leben mit Film.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Ein Lehrerleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Parteileben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Dozentenleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9. Forscherleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 10. Basler Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 11. Historikerkommission ‹Schweiz – Zweiter Weltkrieg› . . . . . . . . . . . 154 12. Europainstitut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 13. Blocher-Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 14. Begegnungen mit M. & M. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 15. Politische Reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 16. Antirassimus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 17. Leben mit Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 18. Ein Leben mit Büchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 19. Selbst Bücher schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 20. Schlusswort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

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Das Bild gefällt mir. Ich bin darauf gestossen, als ich 2015 das Buch zu einer Sammlung von Pressefotos der ETH vorbereitet habe. Was mir imponiert, das ist zum einen die eindrückliche Dimension dieses Urbrockens, der bereits etwas domestiziert (auf Schienen gelegt) ist und letztlich doch nicht domestizierbar wirkt. Und zum anderen ist es die Kombination mit den beiden Menschen, die ihre Vermessung vornehmen und offensichtlich mit dem Findling etwas vorhaben. Ich könnte einer dieser Männer sein, und der Brocken ist, was ich als Aufgabe stets vor mir gesehen und als Herausforderung angenommen habe. (Jules Vogt, Grosser Findling auf dem Bauplatz der Nordostschweizerischen Kraftwerke AG, Birrfeld, 1965, Com_L14-0359-0008)

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1. Vorwort Zu diesen ‹Zeilen› beziehungsweise rund 330 Seiten ist es gekommen, weil ich mich von den angesammelten und aufgestauten Papieren trennen, sie ins Archiv weggeben wollte. Ich würde es verstehen, wenn man alles als zu ausführlich ausgebreitet empfände. Das ist es wohl auch. Einerseits bin ich sicher der Faszination des Belegbaren erlegen, andererseits auch meinem Metier, das auf Belege ausgerichtet ist. Meine Ausführungen sind mit zahlreichen Nachweisen und ergänzenden Fussnoten unterfüttert. Dies ist der Stil, in dem ich die anderen Bücher hergestellt habe und von dem ich nicht abrücken wollte, obwohl ein solcher Bericht ohne die 574 Anmerkungen in halber Zeit hätte geschrieben werden können. Im Januar 2018 habe ich den grössten Teil meiner gesammelten Papiere (mehr als ein Zentner) weitergegeben, teils ans Archiv für Zeitgeschichte in Zürich, teils ins Staatsarchiv Basel-Stadt – im ersten Fall in zahlreichen Schachteln, im zweiten Fall in zwei vollen Rucksackladungen. Und beide Mal mit sonderbaren Abschiedsgefühlen: Wer hat hier eigentlich wen verlassen – die Papiere den Inhaber oder der Inhaber die Papiere? Bei der Abgabe ins Staatsarchiv war die Zäsur besonders spürbar: Ich ging mit sehr schweren Säcken hin, in denen sozusagen mein ‹ganzes› Leben verpackt war, und verliess jeweils mit leichtem und leerem Rucksack das Archiv mit dem befreienden und doch leicht beklemmenden Eindruck, ein Teil von mir hinter mir gelassen zu haben. Diesen Text habe ich – einmal mehr – vor allem für mich geschrieben. Schön wäre es jedoch, wenn diese Ausführungen beim einen oder anderen auf ein wenig Interesse stossen würden. Eine wichtige Funktion des Schreibens ist die Selbstklärung – und Befreiung. Eine andere, eher sekundäre Funktion besteht aber in einem tatsächlich gegebenen Mitteilungsbedürfnis. Mitteilung an wen? Im Falle eines Lebensberichts könnte es in naheliegender Weise eine Mitteilung an die Nachwelt sein. Doch abgesehen davon, dass nicht klar ist, wann angesichts der Generationenüberlappungen Nachwelt überhaupt einsetzt, könnte es sein, dass die Mitwelt an einem solchen Bericht eher interessiert ist, weil sich darin zum Teil auch die eigene Welt spiegelt oder dadurch schlicht eigenes Erleben freigesetzt wird. Dies ist oder wäre ein Grund, zu schreiben und zu publizieren, solange sich diese Mitwelt im noch lesewilligen

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und lesefähigen Alter befindet. Diese werden das Gelesene freilich auch schon bald ins Grab nehmen. Dann wird die Funktion wichtiger, für Nachwelt Zeugnis abgelegt zu haben.1 Eine zentrale Einsicht, die sich beim Zusammenstellen dieses Berichts eingestellt hat, ist die hohe Bedeutung des Weitergebens und des Verarbeitens, was andere weitergegeben haben: Reden und Schreiben, Kommunikation, natürlich nicht einfach so, sondern bezogen auf Inhalte, abgleichende, bestätigende und auch ablehnende Auseinandersetzung. Innerhalb der gleichen Generation oder über Generationen hinweg. Dabei habe ich festgestellt, dass das gesprochene Wort und das Wort von Angesicht zu Angesicht das wichtigere ist als das geschriebene und gedruckte Wort. Ich sage dies als jemand, der Abertausende von Seiten vor allem zur Selbstverständigung beschrieben hat – auch gerade diese Zeilen. 2 Neben dem Bedürfnis nach Selbstklärung ist jedoch auch das Vermittlungsbedürfnis im Spiel. In diesem Bedürfnis sah ich eine Leistung, als ich mich im Auftrag der Basler Senioren-Universität 2001/02 um eine Vortragsreihe über ‹berühmte› Professoren der jüngsten Vergangenheit kümmerte und einen Beitrag zu Edgar Bonjour übernahm. Im Vorwort zu dem anschlies­ send von mir herausgegebenen Bändchen musste ich etwas zu der nicht von mir vorgenommenen Auswahl sagen. Ich ging davon aus, dass drei Kriterien kumulativ ausschlaggebend waren: 1. die stillschweigend vorausgesetzte Exzellenz im Fachlichen; 2. die sprachlich-didaktische Begabung; und 3. als wichtigste und wertvollste Eigenschaft: die ‹Mitteilsamkeit›, die davon lebt, dass man etwas zu sagen hat und sagen will. 3 Die Wirkung von Publikationen ist vom Autor in der Regel schwer wahrnehmbar und könnte vielleicht unterschätzt werden, sollte aber unbedingt nicht 1 Zur Zeugnisproblematik: 1999 erzürnte ich die ‹Aktivdienstgeneration›, weil ich von ihren Geschichtsdeutungen sagte, es seien Manifestationen einer abtretenden Generation, vgl. Kap. 11. 2 Stets zu beherzigen wäre das alte lateinische Sprichwort «Multum, non multa» für: viel, (aber) nicht vielerlei; ein Ganzes, aber nicht viele Einzelheiten. 3 ‹Zeitbedingtheit – Zeitbeständigkeit. Professoren-Persönlichkeiten der Universität Basel›, Basel 2002, 98. S., zit. S. 8.

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überschätzt werden. Zudem könnte die Wirkung eines kleinen Presseartikels grösser sein als diejenige eines ganzen Buchs. Beim neuerlichen Durchblättern meines Buchs zur 12-jährigen Tätigkeit als Präsident der Kommission gegen Rassismus (EKR) im Hinblick auf die Reprise des Themas im Kap. 16 hatte ich den Eindruck, dass diese Schrift in Bezug auf die Wichtigkeit ihres Inhalts kaum zur Kenntnis genommen wurde. Ein Eindruck ganz anderer und erfreulicher Art stellt sich ein, wenn sich Maturitätsschüler/-innen bei mir melden, weil eine Lehrperson, deren akademischer Lehrer ich war, mich für die Vertiefung eines Themas als Interviewpartner ‹wärmstens› empfohlen hat. Da ist das Wort offensichtlich von einer Generation zur anderen und dann nochmals zur nächsten gegangen. Was will man mehr? Bei den Konsultationen der Papiere bin ich irgendwo auf eine Charakterisierung gestossen, die mich als ein wenig selbstverliebt bezeichnet hat. Ich verstehe, dass es zu diesem Eindruck kommen kann. Man kann es auch leicht anders formulieren: Ich nehme mich selbst ernst, das heisst, es ist mir wichtig, was und wie ich es mache. Das ist nicht einerlei, selbst wenn es sich am Schluss vielleicht als wenig relevant erweisen sollte. Der enorme Haufen hinterlassener Papiere gehört im Grunde genommen ebenfalls zu dem, was man als Rechenschaftsverliebtheit bezeichnen kann. Das Vermessen gilt so mehr den eigenen Zeiten als den gesellschaftlichen Zeiten, in denen man gelebt hat. Sicher gibt es ein Zusammenspiel zwischen selbst Erlebtem und allgemein Geschehenem, über das man ebenfalls Zeugnis ablegen könnte. Neuerdings ist das durchaus positiv bewertete Wort der ‹accountability› über den Atlantik zu uns gekommen. Eine Variante der abwertenden Einschätzung des Engagements ist der Vorwurf der Geltungssucht. Darin teile ich ohne Aufregung das Schicksal mit anderen Menschen, die ich sehr schätze und mit denen ich auch persönlich verbunden bin. Zum Beispiel mit dem ehemaligen Tessiner Ständerat Dick Marty, der als Abgeordneter des Europarats wertvolle Arbeit geleistet hat und mit dem Fischhoff-Preis geehrt, aber auch mit dem Vorwurf der Wichtigtuerei eingedeckt wurde. 4

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Interview von Gerhard Lob in der ‹Basler Zeitung› vom 12. November 2011. Darin Marty: «Wer Gegenliebe sucht, muss sich mit anderen Themen befassen als mit der Einhaltung von Menschenrechten.»

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Die Zusammenstellung eines Lebensberichts ist voller Probleme, die man nicht hätte, wenn man sich dieser Aufgabe nicht stellen würde. Da sind einmal die Hauptfragen: Warum soll überhaupt und was soll berichtet werden? Dann kommt die Frage hinzu, wann man berichten soll, wann der richtige Zeitpunkt für einen Lebensbericht gegeben ist. Dem Kollegen Emil Angehrn verdanke ich ein Proust-Zitat, das von einem Maler handelt, der seine Landschaft nicht mehr malen kann, weil er zu lange gewartet, zu spät nach dem Pinsel gegriffen hat, weswegen ihn jetzt die Nacht einhüllt, «über der sich kein neuer Tag erheben wird». 5 Ist es eine eingeschränkte Lebenshaltung, wenn Rückblicke zum wesentlichen Lebensinhalt werden? Vor dem nun eher absehbaren Ende verbindet sich mit dem Rückblick die Frage: Wozu sollen die vielen Aktivitäten, ja die Betriebsamkeit gut gewesen sein? Und zusätzlich nun: Wozu könnte der Rückblick gut sein? Aber auch: Habe ich die vom Leben offerierten Möglichkeiten richtig genutzt? Kenntnisse des Vergangenen werden (vor allem von Nichthis­ torikerinnen/-historikern) gerne als Voraussetzung für Ausblicke in die Zukunft verstanden. Wenn aber die Lebenserwartungen kürzer werden, was bringen dann Erkenntnisse, die man sich besser früher verschafft hätte? Als ein Freund erfuhr, dass ich Lebenserinnerungen unter dem Titel ‹Das war’s› zusammenstelle, fragte er im Scherz, ob dies mit 75 nicht zu früh sei. Wie würde ich denn über den noch vor mir liegenden Rest meines Lebens schreiben? Auf meine überbordende Publizistik anspielend, fügte er noch bei, ich könne ja noch einen zweiten Band folgen lassen. Der vorliegende Band ist aber bereits so etwas wie ein zweiter Band. Denn der erste, bisher aber nichtveröffentlichte Band befasst sich mit meiner privaten Familiengeschichte, meiner Kindheit und meiner Jugend – bis zum Eintritt in die Uni-Welt. Hier soll es aber vor allem um mein öffentliches Leben gehen. Ich habe es dank meiner Frau Nicole mit stets viel Einsatz leben können. Als kleines Zeichen meines grossen Danks widme ich ihr das Buch, in dem sie explizit nicht vorkommt, obwohl sie seit vielen Jahren eine wichtige Voraussetzung für meine Arbeit ist.

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Emil Angehrn: ‹Sein Leben schreiben. Wege der Erinnerung›, Frankfurt a. M. 2017, S.10.

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Der Gedanke, einmal einen Rückblick zu erarbeiten, bestand seit der sogenannten Pensionierung vor etwa zehn Jahren, aber es gab Dringenderes. Ich war zwar der Meinung, dass es zu Gelebtem etwas zu berichten gebe, fasste dies aber als sekundäre Aufgabe auf, die man zurückstellen kann, solange andere, ‹wichtigere›, weil auf allgemeine Verhältnisse bezogene Publikationen (wie z. B. zu Europa) anstehen. Jetzt kann und will ich mich aber dahintermachen. Erinnerungen sind aus zwei Gründen immer gewollt wie ungewollt selektiv, und der Text ist das Ergebnis einer mehrfachen Selektion. Einiges bleibt im Gedächtnis hängen, anderes geht nach einem heimlichen Prozess unbewusst vergessen, vieles will und muss man weglassen. Die erste, bereits als starke Reduktion verstandene Niederschrift umfasst über 1,2 Mio. Zeichen, der Verlag empfahl eine weitere Reduktion auf 700 000 Zeichen. Dies, obwohl mitunter als wirklichen Verzicht empfunden, war umso leichter zu machen, als ich die Ausgangsversion elektronisch und ausgedruckt im Staatsarchiv Basel-Stadt deponieren kann. 6 Nach welchen Kriterien soll man die Dinge zusammentragen und auf welches Narrativ soll man sie ausrichten? Wichtig könnte der Aspekt des Gelingens und Scheiterns sein, sodann das Bedürfnis, sich als engagierter Zeitgenosse darzustellen, der entweder seinen klaren Kurs durchgezogen oder eine Entwicklung (natürlich zum Guten) durchgemacht hat.7 In meinem Bericht hat es von allem drin, wenn ich etwas zu einem Leitmotiv machen müsste, dann wäre dies die Erfahrung, oft zwischen den Fronten gestanden zu haben, in die ich hineingeriet oder mich selbst hineinbegab. Der höheren Alterslage würde entsprechen, mit einer rückblickenden Darstellung dem gelebten Leben einen Sinn geben zu wollen. Besonderen Sinn mag ich da aber nicht ausmachen. Über die elementaren Funktionen der Sicherung des Lebensunterhalts für sich und seine Familie, also auch der bio6 Die Ausgangsversion umfasst neben den aus quantitativen Gründen vorgenommenen Kürzungen auch Passagen, die Luzi Schucan, mein Studienkollege, Freund und persönlicher Lektor auch älterer Schriften, aus qualitativen Überlegungen wegzulassen oder abzuändern empfahl. 7 An der Abdankung für Hans Batschelet habe ich das Wort gehört: «Qui ambulavit in directione sua» ( Jesaia 57, 2), und gedacht, ich wäre froh, wenn man das auch einmal von mir sagen würde.

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logischen Reproduktion, könnte ein Sinn darin bestanden haben, ein Bindeglied zwischen vorangegangener und nachfolgender Generation gewesen sein. Dies auch im Wissen, dass man in reichem Mass ernten kann, was man nicht selbst gesät hat, und darum, statt nur ‹return on investment› im Auge zu haben, auch säen sollte, ohne auf Ernte bedacht zu sein. Als Historiker habe ich viele Erinnerungsschriften gelesen. Diese Lektüre lässt mich fragen: Was habe ich von diesen Schriften erwartet und bekommen und wie sollen nun demnach meine Erinnerungen präsentiert werden, damit auch sie jenen Erwartungen genügen? Ich wollte vor allem etwas über die Zeit erfahren, in welcher der oder die Schreibende gelebt hat. Über die Zeit oder über die Person? In der Regel über beides. Fakten oder Einschätzungen? Ebenfalls beides. Explizite Selbstdeutungen habe ich nach Möglichkeit vermieden. Wer das ist, der da schreibt, müsste über das Geschriebene bzw. Gelesene erschlossen werden. Ich habe aber nicht den Anspruch, direkt über die ‹Zeit› Auskunft zu ­geben, sondern möchte über Erlebtes und Gemachtes berichten. Wenn dies dann indirekt auch über ‹Zeit› Auskunft gibt, umso besser – und vielleicht authentischer als in einem Epochengemälde. Es ist nicht so, dass ich Besonderes erlebt hätte (am ehesten könnte dies noch für ‹1968› gelten), ich habe einfach gelebt. Dieses einfache Gelebt-Haben könnte es aber rechtfertigen, gerade wegen seiner weitgehenden Normalität dokumentiert zu werden: Andere könnten sehr Ähnliches erlebt haben. Ein gängiger autobiografischer Darstellungsmodus betont gerne, wie früh man sich für etwas stark gemacht hat, was erst viel später mehr oder weniger oder auch noch immer nicht Allgemeingut geworden ist. 8 Der Rückblick macht bewusster, was und wie man gewesen ist. Dazu gehört auch eine Fest8 Zu meinen Frühengagements gehörten der Einsatz für den Zivildienst, das Wahlalter 18, ein menschenwürdiges Einbürgerungswesen, den UNO-Beitritt, die Schaffung von Kinderkrippen, Befürwortung von Tagesschulen, mindesten gleichwertige Wahrnehmung von Elternpflichten, Velofreundlichkeit des Stadtverkehrs etc. Alles Dinge, die sich inzwischen stärker eingebürgert haben. Es erfüllt mich mit Befriedigung, wenn ich nachträglich feststelle, dass ich mich relativ früh mit gewissen Fragen auseinandergesetzt habe.

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stellung, die eigentlich nur im ersten Band angesprochen werden sollte: Ich hatte keine Beziehung zu einem eigenen Vater. Vielleicht ist das der Grund oder mindestens die Voraussetzung dafür, dass ich in aussergewöhnlichem Mass intensive vertrauensvolle und bereichernde Beziehungen zu wesentlich älteren Männern hatte, während der Internatszeit mit dem Schierser Spitalarzt und dem Pfarrer von Maienfeld. Für beide war ich, sozusagen umgekehrt, beinahe wie ein erwachsener Sohn. Dann mit den Professoren Edgar Bonjour und Werner Kaegi sowie mit Herbert Lüthy. Ich führte mit ihnen auch sehr persönliche Gespräche und erwarb und las selbstverständlich alle ihre Pub­ likationen. Zwei wichtige Mentoren waren im Weiteren: 1971–1974 alt ‹NZZ›-Chefredaktor Willy Bretscher, und für kurze, zu kurze Zeit (1973/74) der grosse Journalist Werner Imhoof-Aisikowitsch. Er war bis 1972 ‹NZZ›Korrespondent in den USA, anschliessend 1972–1974 noch auf seinem letzten ‹Posten› in Paris, wo ich regelmässig sein Gast an der ‹Rue de Thann› sein durfte und er, der 34 Jahre ältere Profi, meine Schreibversuche – mir Mut machend – besser bewertete, als ich es selber tat.9 Diese Mentoren haben in mir alle, wie mir vor allem nachträglich bewusst wird, stets mehr gesehen, als ich selbst zu können und zu sein meinte. Hinzu kamen schliesslich der 13 Jahre ältere Freund Werner Rihm10 und die beiden Patrons im Europainstitut: Frank Vischer und Kurt Jenny; der eine 20 Jahre, der andere 12 Jahre älter. Da war aber noch mein Onkel, der eben nicht mein Vater, sondern bloss der Schwager meines Vaters war.11 Er war der einzige männliche ‹Verwandte›, bei dem ich – auf Distanz – fast väterliche Nähe spürte.  9 Etwas resigniert sagte er wiederholt von seinen Korrespondentenberichten, dass er noch seine «Bahnhofsmeldungen» nach Zürich schicken müsse. 10 Meinen Nachruf zu Werner Rihm erschien u. a. in ‹Basler Zeitung›, 7. Juni 1906. 11 Die Beziehung zwischen diesem Onkel, Paul Bürgin-Kreis, und mir, die, wie gesagt, beinahe einem Vater-Sohn-Verhältnis entsprach, war nicht einfach gegeben, ich musste sie stets neu annehmen und mittragen. Dieser angeheiratete Onkel war so sehr auf die Familie seiner kinderlosen Frau ausgerichtet, dass er mich sozusagen an Kindesstatt als Sohn nahm. Als ich meine erste Publikation herausbrachte (‹Trump›), wollte er ein Exemplar im Heimatmuseum von Steinheim bei Frankfurt a. M. deponieren, woher die ‹Kreis› im 19. Jh. in die Schweiz gekommen waren. Ich hätte ihn begleiten sollen, damit ich zugleich meine Herkunft kennenlernen könnte. Diese war mir aber völlig egal, ich weigerte mich, und er ging wahrscheinlich

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Das war konkret der Fall, wenn ich mit ihm alleine eine Kunstausstellung beispielsweise in der Villa Favorita in Lugano besuchte oder in seinen Gummistiefeln über den grossen Rebberg stiefelte, den er (zusammen mit den alten Stiefeln) mir hinterlassen hatte. Noch heute, ja heute geradezu stärker, würde ich mich gerne mit ihm unterhalten, 25 Jahre nach seinem Tod, sozusagen zwischen nun beinahe Gleichaltrigen. Der 76-jährige Willy Bretscher unterhielt mit mir, dem 30-Jährigen, einen intensiven Briefwechsel, der mich sowohl intellektuell als auch zeitlich an meine Grenzen brachte. Diese Papiere habe ich längst dem Archiv für Zeitgeschichte übergeben, so dass sie nicht auch noch in diese Schrift eingearbeitet werden müssen. Im Wust der anderen Papiere ist aber zufällig ein einzelnes Schreiben eines teilweise wohl einsamen Schreibers übrig geblieben, in dem der alte, das heisst jetzt nur um ein Jahr ältere Mann berichtete, dass er als Mitglied und Delegierter des Verwaltungsratskomitees der ‹NZZ› zurückgetreten und nun völlig aus Amt und Verantwortung geschieden sei. «Meine Position ist nun diejenige eines König Lear. […] Man kann dieser Figur eines biologischen Schicksals nicht ausweichen, wenn man die entsprechende Anzahl von Jahrringen angesetzt hat, wie schon Goethe es wusste. ‹Ein alter Mann ist stets ein König Lear.›» Bretscher betonte aber, und dessen Bedeutung ist mir heute mehr bewusst als im Moment der ersten Brieflektüre, er könne sein Büro («mit allen den Ihnen teilweise bekannten Akten») und die obige Briefkopfadresse behalten. Er hoffe, dass ich in einem ruhigen Augenblick Zeit für einen Besuch im dritten Stock des Hauses an der Falkenstrasse finden werde.12 Diese Hoffnung galt nur teilweise mir persönlich, sie galt zum grösseren Teil einem Angehörigen der Nachwelt, mit der man in Verbindung bleiben und der man sich selbst weitergeben wollte. Während ich früher das Leben nutzte, um zu schreiben, nutze ich jetzt das Schreiben, um zu leben. Eine der Schreibmotivationen liegt in der Meinung begründet, dass ich damit mein physisches Ende überdaure. Schreiben gegen den sicheren Tod. Ich mache das mit dankbarer Wertschätzung der Möglichalleine hin. Das tut mir noch heute leid. Aber nicht wegen der verpassten Begegnung mit dem angeblichen Wurzelort, sondern wegen der Geringschätzung der väterlichen Regung meines Onkels. 12 Bretscher an GK, 3. Mai 1973.

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keit, Schriftzeichen für Mitteilungen zur Verfügung zu haben, die von anderen, wenn sie denn mögen, nach meinem Abgang entziffert werden können. Verschriftlichungen können räumliche, aber auch zeitliche Distanzen überwinden. Mit der Erfindung der Schrift ist die Sterblichkeit ein wenig überlistet worden. Bei dieser kleinen und zugleich grossen Erkenntnis werden wir auch am Schluss dieses Texts wieder landen.

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2. Studentenleben Mein Studium begann ich im Vergleich zu meinen Jahrgängern mit Verspätung, weil ich während meiner anfänglich katastrophalen Schulzeit zwei sogenannte Übergangsjahre einschalten und weil ich zuerst während dreier Jahre als Primarlehrer das nötige Geld für das Studium verdienen musste. Abgesehen von einem wohl persönlichkeitsbedingten Hang zu Effizienz und zu Leistung sorgte dieser Rückstand dafür, dass in mir eine ‹Gehetztheit› aufkam, die für den Rest meines Lebens anhielt. Im Vergleich zu meinen früher gestarteten Altersgenossen schloss ich etwa gleichzeitig ab. Nach meiner Rückkehr nach Basel 1964 (nach Abschluss meiner Schierser Internatszeit) und neben meiner vollen Berufstätigkeit als Primarlehrer belegte ich sogleich einzelne Uni-Vorlesungen wie ‹Philosophie des Bösen› oder ‹Soziologische Grundlagen psychischer Erkrankungen› etc. Offiziell begann ich mein Studium im Frühjahr 1967 und beendete es im Dezember 1972 mit dem Doktordiplom. Warum war das ein Geschichts- und Deutschstudium? Wenn ich das wüsste! Natürlich haben mich diese Fächer angesprochen, und dies bereits in der Schulzeit. Vielleicht spielte mit, dass man da relativ schnell auf einen ‹grünen Zweig› kam. Das Studium war insofern nie ein Vollzeitstudium, als ich auch während der Zeit an der Uni dem Erwerbsleben nachging, mit Lehrervertretungen auf der Mittelstufe und anschliessend als Professoren-Hilfskraft von Werner Kaegi bis 1971, dann 1972 als Forschungsassistent von Markus Mattmüller parallel zu den Schlussarbeiten an meiner Dissertation. Viel Zeit nahm aber auch die Studentenpolitik in Anspruch (vgl. Kap. 3). Ein ganzes Studium war damals in zwölf Semestern möglich. Dazwischen kam noch ein Mittellehrerdiplom, das ich erneut (wie schon den Primarlehrer) zur Absicherung meiner Erwerbsmöglichkeiten machte. Eigentlich wollte ich direkt ein Oberlehrerdiplom erwerben. Dies um mich auf zwei Fächer (Geschichte und Germanistik) beschränken zu können. Ein nahestehender Verwandter attestierte mir aber, dass ich für den Oberlehrer zu dumm sei. So absolvierte ich zunächst eben das Mittellehrerprogramm mit drei Fächern (das dritte war Geografie) und

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machte den Oberlehrer erst nach dem Doktorat. Die Dissertation, obwohl mit längeren Archivaufenthalten vor allem in Bern, aber auch in Bonn verbunden, habe ich ohne Stipendien erarbeitet. Gerne wäre ich schon während meines Studiums für ein, zwei Semester ins Ausland gegangen, konnte mir dies aber nicht leisten. Dies holte ich dann in der ‹Postdoc›-Phase vor allem mit Paris und Cambridge nach (stets mit der ganzen Familie). Zum Studienbetrieb ist nicht viel zu sagen, das war ja für alle in etwa das Gleiche: Vorlesungen und Seminare. Die meisten Vorlesungen waren tatsächlich Vorlesungen, man schrieb eifrig mit, belegte in gewissen Fällen nach vier Semestern, wenn der angebotene Zyklus wieder einsetzte, nochmals die meistens wörtlich gleichen Darbietungen, um seine Notizen zu perfektionieren. Die Seminare verliefen in verhörähnlichen Dialogen zwischen einzelnen ‹Opfern›, die mit ihrer Arbeit gerade an der Reihe waren, und dem vorsitzenden Professor, der seinen vorbereiteten Fragekatalog abarbeitete, dies in stummer Anwesenheit des grossen Rests. In späteren Zeiten ging die Leitung der Seminarsitzungen (insbesondere bei Mattmüller) an die Oberassistenten über, der Lehrstuhlinhaber gab sozusagen als Beisitzer zusätzliche Kommentare zum Besten, und die Beteiligung der Studierenden war lebendiger. Mattmüller war der fortschrittlichste Professor. Die ebenfalls fortschrittlich-sein-wollenden Studenten der 68er beanstandeten aber am stärksten seine Lehr­veranstaltungen und nicht diejenigen, die jenseits von Gut und Böse waren. Markus Mattmüller, der 1969 Ordinarius geworden war und für sich die französischen Historikerschule der ‹Annales› entdeckt hatte, war auch im Unterricht innovativ: Er führte so etwas wie eine informelle Doktorandenschule ein (ein Graduiertenkolleg, avant la lettre), dazu gehörten Leute, die alle bereit waren, etwa das Gleiche zu machen, Bevölkerungs- und Ernährungsgeschichte, jeder bearbeitete da eine Region mit etwa den gleichen Fragestellungen, hier konnte man sich austauschen und war kein Einzelkämpfer. Ich gehörte hingegen zu den ‹Einsamen›, die in einem Spezialgebiet (in meinem Falle die schweizerische Pressepolitik 1933–1945) alleine ein dickes Brett bohrten. Das Geschichtsstudium zerfiel in eine ältere und eine jüngere Abteilung. Die ältere hätte eine solidere und klassischere Ausbildung vorausgesetzt, als ich sie hatte, ich hatte auch Mühe mit dem Latein und lieferte eine schwache Seminararbeit ab, erhielt dann später aber erstaunlicherweise vom verant-

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wortlichen Ordinarius Werner Kaegi doch eine Assistentenstelle. Erfolgreicher war ich in der neueren Abteilung, in der bis zum Sommer 1968 Edgar Bonjour der hauptverantwortliche Ordinarius war. Kaegi galt als besonders anspruchsvoll und hatte darum wenig Doktoranden (vielleicht ein Dutzend, von denen er einmal stolz sagte, dass sie alle Professoren geworden seien). Bonjour war weniger streng und hatte so viele Doktoranden (etwa 80 im Laufe der Zeit), dass ihm bei seinem 70. Geburtstag zum Spass vorgeworfen werden konnte, den Überblick verloren zu haben. Damit man den Spass versteht, muss erklärt werden, dass der darin erwähnte Charlie einer der ersten Hilfsassistenten war, die es gab, eher ein Famulus aus Dr. Faustus, und dass Dutschke, sofern das heute erklärt werden muss, die bekannteste Leitfigur des deutschen Studentenprotests war. Die Schnitzelbangg schloss, nachdem von einer allgemeinen Aufregung die Rede gewesen war: «Nur der Bonjour fragt ganz ahnungslos: Dihr Charlie, säget Ihr, i ghör öppe von däm Dutschke – isch das e Doktorand vo mir?» Bei Bonjour reichte ich schon im September 1967, also im zweiten Semester, meine Seminararbeit über die schweizerische Pressepolitik 1933–1939 ein, was ‹in a nutshell› das war, woraus ich später meine Dissertation machte. Bonjours Seminare waren so gross, dass er sie doppelt führte, was zur Folge hatte, dass ich zweimal aus meiner Arbeit vorlesen durfte. Das eingereichte Exemp­ lar hat mir Bonjour lange Zeit später als «Dokument aus Ihren wissenschaftlichen Lehrjahren» zurückgegeben. Ich hätte es wieder lesen können, sah aber davon ab, weil ich fürchtete, auf Formulierungen zu stossen, die mir heute – hoffentlich – besser gelingen würden. Bei Bonjour konnte ich nicht mehr doktorieren, weil er im Sommer 1968 altershalber zurücktrat. Aber ich war in regelmässigen Abständen bei ihm ‹zum Tee› und führte anregende Generationengespräche mit ihm bis zu seinem Tod im Mai 1991. Aus diesen Gesprächen nur ein Müsterchen: Bonjour erzählte mir, wie er mit Oscar Germann an der Bushaltestelle stand. Germann war ein eminenter Strafrechtsprofessor mit mindestens drei Ehrendoktor-Titeln und Oberst im Generalstab. Er nahm nicht zu Unrecht für sich in Anspruch, 1940 das Reduit-Konzept ausgearbeitet und, wie mir Bonjour berichtete, dabei eine wesentliche historische Rolle gespielt zu haben.

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Schüler und Lehrer: Edgar Bonjour lässt sich im Frühjahr 1991 die in der Mustermesse im Rahmen des Programms ‹CH 91› gezeigte Ausstellung ‹Die Schweiz unterwegs› (seit 1943) erläutern. (Foto: persönliche Dokumentation)

Bonjour, der damals gerade am Neutralitätsbericht zu dieser Zeit arbeitete, erklärte, wie gesagt beim Warten auf den Bus, in nicht untypischer selbstbewusster Ironie, nicht er, Germann, sondern er, Bonjour ‹mache› die Geschichte. Zufall als Glücksfall Für mich war es ein Glücksfall, dass Herbert Lüthy 1971 von der ETH/ZH nach Basel berufen wurde und dass er sich für meine ganz in Eigenregie verfasste Doktorarbeit interessierte und diese dann auch abnahm. Bei Kaegi war ich Assistent, bei Bonjour so etwas wie ein Hausfreund, bei Mattmüller Mitarbeiter, bei Lüthy Habilitand. Es ergab sich, war vielleicht auch typisch, dass ich keinem mit der Formel ‹Schüler von› richtig zuzuordnen war, weil ich wirklich Schüler von allen war. Hätte ich mich für einen entscheiden müssen, wäre es wohl Lüthy gewesen. Lüthy hatte mir 1972 ein brillantes Nach-

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wort zu meiner ersten Publikation geschrieben, 1974 «mit aller Wärme» meine Bewerbung um ein Stipendium für einen fortgeschrittenen Forscher unterstützt (vgl. Kap. 8) und, auch dies darf erwähnt werden, 1975 eine an ihn gerichtete Anfrage für einen 1.-August-Artikel an mich weitergereicht.13 Meine Assistentenarbeit bei Kaegi beschränkte sich darauf, mal eine Chronologie etwa zum Basler Konzil zusammenzustellen, bestimmte Bücher herauszusuchen, eine Mikrogeschichte zum Münchensteiner Eisenbahnunglück von 1891 für die Burckhardt-Biographie Bd. 5 zu verfassen und insbesondere Bindeglied zu Kaegis Doktoranden zu sein, das heisst, für diese Einladungen zu Nachtessen zu arrangieren, die in grossem Turnus in seinem Haus am Münsterplatz stattfanden. Es gäbe viele Äusserungen zu rekapitulieren, die mir geblieben sind. Drei Erinnerungen aus dieser Zeit ragen besonders heraus: Eine der zahlreichen Plaudereien auf seiner Rheinterrasse fand in einer lauen Sommernacht am 21. Juli 1969 statt. Warum ich das Datum noch so genau weiss? In jenen Stunden gelang die erste Mondlandung mit dem historisch gewordenen Fussabdruck um 3.56 MEZ. Ich hätte damals lieber vor einem Fernseher gesessen.14 Kaegi aber erzählte mir von den Kriegsjahren, wie er Geige gespielt habe, um gegen das Geräusch der hoch im Himmel oben die Schweiz überquerenden Kriegsflugzeuge zu protestieren. Später zeigte er mir seine Geige und den Geigenbogen, dessen Hanfhaare nur noch an einer Seite befestigt waren und von da in Richtung Boden hingen. Jahre später brachte ich, als ich schon nicht mehr Assistent war, aber Kaegi verbunden blieb, sein Instrument zum Geigenbauer und liess es in Ordnung bringen.15 Er spielte aber nie mehr darauf. Die zweite Erinnerung: Einmal wollte er mir ‹Jacob Burckhardt› zeigen. Das heisst: Er kniete vor einer niedrigen Kommode nieder und holte eine gipserne Totenmaske hervor. Er schaute sie an und sagte halb zu ihm, halb zu

13 Nachwort ‹Die Disteln von 1940›, S. 85–110 (vgl. Kap. 19). – 1.-August-Artikel: ‹Selbstzufriedene Schweiz?›, in: ‹Thurgauer Zeitung› vom 1. August 1975. 14 Einen eigenen Fernseher hatte ich erst seit 1978. 15 Kaegis Geige (und Talar) vermittelte ich 1989 als Leihgabe dem Musée sentimental, das Daniel Spoerri, Klaus Littman und Markus Kutter einrichteten.

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Personenregister Allen, Woody  86 Allgöwer, Walter  220 Altermatt, Bernhard  141 Altermatt, Urs  158, 324 Ambühl, Michael  195 Amstutz, Adrian  209 Andrew, Christopher  108 Angehrn, Emil  12, 131 Angst, Doris  255 Arafat, Jassir  241, 243 Arber, Werner  122 Arni, Caroline  125, 126 Aron, Raymond  118 Aubert, Jean-François  228 Auer, Andreas  213, 242 Baltisser, Martin  264 Bandi, Hans-Georg  183 Banksy   140 Bärfuss, Lukas  170, 176 Barth, Karl  212 Bartoszewski, Wladyslaw  161 Baumann, Alexander J.  209 Baumgartner, Adolf  24, 290 Bauvaud, Maurice  220 Beck, Marcel  43, 300 Becker, Annette  229 Béglé, Claude  218 Bergier, Jean-François  74, 155, 157, 158, 160, 161, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 182, 183, 223, 244, 295, 311, 321, 324 Berlusconi, Silvio  245 Betschart, Pius  106

Bichsel, Peter  38, 194 Binswanger, Daniel  267 Bischoff, Jürg  271 Bissegger, Alfred  81 Blankart, Franz  155, 325 Blocher, Christoph  76, 89, 96, 162, 188, 194, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 249, 251, 258, 268, 279, 282 Blum, Roger  29, 44 Böckli, Peter  155 Bondy, François  50, 110, 278, 279 Bonjour, Edgar  10, 15, 20, 21, 25, 26, 28, 47, 101, 106, 116, 123, 137, 154, 290, 302, 304, 307, 310, 312, 318 Bonnefous, Edouard  287 Böschenstein, Hermann  137 Bossaert, Danielle  186 Bourgeois, Daniel  137 Bouthoul, Gaston  118 Brecht, Bertolt  26, 51, 58, 262, 286, 309 Bretscher, Willy  15, 16, 44, 208, 287, 305 Briner, Hans  72 Bringolf, Walther  311 Broger, Raymond  220 Brunner, Toni  264 Brunschwig-Graf, Martine  250 Buchbinder, Heinrich  220 Büchler, Andrea  242 Bühlmann, Cécile  205, 249 Bührle, Emil Georg  167 Buomberger, Thomas  226 Burckhardt, Carl Jacob  154, 155 Burckhardt, Heinrich  49

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Burckhardt, Jacob  22, 23, 25, 83, 103, 149, 154, 155, 287, 288, 290 Burckhardt, Leonhard  300 Burghartz, Susanna  28, 123, 126, 147, 150, 152, 307 Bürgin-Kreis, Hildegard  308 Bürgin-Kreis, Paul  15 Burkhalter, Didier  264, 272 Burkhart, Lucas  55, 126 Bütler, Hugo  45, 220, 278 Calmy-Rey, Micheline  186, 195, 312 Camartin, Iso  323 Camus, Albert  286 Casanova, Achille  217 Cassis, Ignazio  187 Castelmur von, Linus  160, 166, 182 Cervantes de, Miguel  286 Chandler, David  247 Chartres von, Bernhard  323 Chenaux-Repond, Dieter  91 Cheney, Dick  245 Churchill, Winston  212 Cincera, Ernst  71 Cohn, Arthur  120 Cohn-Bendit, Daniel  235 Conaz, Stefan  29 Cosgrove, Carol  185 Cotti, Flavio  157, 158, 168, 195 Couchepin, Pascal  195, 204, 205, 209, 211, 252, 255, 272 Däniken von, Franz  195 Däniker, Gustav  305 Deiss, Joseph  195 Delley, Jean-Daniel  158 Dommann, Monika  139

Dreifuss, Ruth  92, 174, 175, 201, 248, 249, 255, 272 Dubiel, Helmut  235 Dubois, Alain  228 Duchardt, Heinz  306, 317 Duroselle, Jean-Baptiste  107, 118, 305, 306 Dürr, Baschi  86 Dürr, Emil  24, 290 Dürr-von Speyr, Adrienne  290 Dürrenmatt, Peter  220 Eberle, Walter  206 Egger, Franz  106 Egli, Urs  316 Ehrenzeller, Hans  109 Eichenberger, Kurt  36, 304 Einaudi, Luigi  24 Emmert, Frank  186 Engels, Friedrich  103 Epiney, Astrid  213, 316 Erdheim, Mario  264 Evans, Richard J.  109 Eymann, Christoph  212, 300 Facklam, Peter  83 Fankhauser, Angeline  231, 232 Fässler, Hilde  96 Favez, Jean-Claude  310, 324 Fehr, Hans  210 Fehr, Jacqueline  242 Felix, Kurt  35 Fellini, Federico  50 Fenner, Martin  178 Ferrero-Waldner, Benita  195 Fisch, Jörg  282 Fivaz, Ruth  170 Flückiger Kreis, Nicole  12, 237

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