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Familie Mock – An der Wegenge

Familie Mock

An der Wegenge

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Für unser familiäres Zusammenleben bedeutete der Lockdown nichts Neues. Durch die Schulschliessung musste keiner von uns morgens das Haus verlassen, und wir durften nun einfach zusammen sein. Das hiess für uns, wieder viel mehr Zeit zusammen zu haben. Wir, das sind Mirco und Dominique mit unseren drei Buben Marin, Jolan und Arian. Unser Lebensmittelpunkt ist seit jeher die Familie und unser Zuhause, nicht der Beruf oder die Karriere. Wir sind es gewohnt, zusammen zu sein, miteinander zu leben und miteinander zu arbeiten.

Endlich war nun der langersehnte Frühling da. Mit den steigenden Temperaturen nahm das Holzspalten und das Einfeuern des Kachelofens immer weniger Zeit in Anspruch, dafür begann die Gartensaison, und unser tägliches Leben verlagerte sich nach draussen, wo wir alle am liebsten sind. Die Kinder gruben Beete um, setzten Gemüsesetzlinge und suchten Gemüsesamen aus, um diese im Gewächshaus anzusäen. Sie spielten im Garten, wir machten gemeinsam Musik und lange Spaziergänge im Wald und an der Reuss. Der Bärlauch schoss aus dem Boden, und wir stellten leckeres Pesto und Kräutersalz her. Wir sammelten Huflattichblüten, um Hustentee, Sirup und Urtinktur herzustellen. Unsere Morchel-Spürnasen waren auf Empfang gestellt, denn wer die erste Morchel im Jahr findet, der erhält von der Familie besonderen Beifall. In dieser Jahreszeit sind wir alle ganz wie die Knospen, die aufspringen, voller Energie und Kraft. So weit, so idyllisch.

Wir sind es gewohnt, zusammen zu sein, miteinander zu leben und miteinander zu arbeiten.

An einem der Reuss-Spaziergänge auf der Suche nach Morcheln

kam uns eine ältere Frau entgegen. Da wir gerne mit Menschen in Austausch treten, nehmen wir bereits früh Augenkontakt auf, und nicht selten ergeben sich kurze Gespräche, besonders mit älteren Leuten. Diese Frau allerdings kam nur sehr zögerlich in unsere Nähe. Kurz bevor wir uns kreuzten, fragte sie unwirsch, wie wir denn aneinander vorbeikommen sollten, ohne dass der nötige Abstand verletzt würde. In diesem Moment wurde die Panikmache, die die öffentlich-rechtlichen Medien betrieben, für uns erst zur Realität: Es war eine tiefgreifende Verunsicherung, die wir in den Augen dieser Frau lesen konnten. Aus dieser Verunsicherung wiederum kam wohl ihr Ärger – und dies in einer Situation, die nur wenige Wochen zuvor zu einer unbeschwerten Unterhaltung hätte führen können.

Als Schulsozialarbeiterin erreichten mich, Dominique, man-

che Anrufe verzweifelter Mütter, die ihre Kinder nicht zu Schularbeiten motivieren konnten; sie berichteten von täglichen heftigen Streitereien. Den Druck, der auf diesen Müttern lastete, schätzte ich als sehr gross ein. Mehrfach hörte ich Sätze wie: «Bei allen anderen funktioniert das bestimmt bestens, nur bei uns klappt es nicht» oder: «Normalerweise geht mein Kind bis zu sechs Stunden in die Schule, und nun schaffen wir es oft nicht einmal, dreissig Minuten konzentriert zu arbeiten. Wie soll da mein Kind nach dieser Zeit noch mitkommen?» Obwohl es mir meist gelang, die Mütter zu beruhigen und ihnen etwas von dem Druck zu nehmen, nährten diese Gespräche unsere Befürchtung, dass die gesellschaftliche Lage hinter geschlossenen Türen viele Nöte auslöste.

Einen Hinweis hierauf trafen wir auch in der Nachbarschaft an. Auf einem freien Feuer im Garten stellten wir aus Eierschachteln, Sä-

gemehl und Kerzenwachs Anzündwürfel für den Kachelofen her und bemerkten dabei, dass uns der dreijährige Dimitris aus der Wohnung vis-à-vis interessiert beobachtete. Als wir ihm und seiner Mutter zuwinkten und ihnen zu verstehen gaben, sie könnten sich gerne zu uns gesellen, zogen sie sich mit einer höflichen Dankesgeste sofort zurück. Wir fanden uns in nachdenklicher Stimmung wieder.

Für uns war es nie die Frage, ob ein grosser Neustart auf uns zukommt, sondern lediglich wann und in welcher Verkleidung. Was wir unseren Kindern mit auf den Weg geben möchten, ist selbstständig zu denken und die Verantwortung für sich selber zu übernehmen. Unsere Entscheidungen treffen wir im Bewusstsein, dass sie und unsere Enkel uns einmal fragen werden: «Wie habt ihr euch in dieser Zeit verhalten?»

Für uns war nie die Frage, ob ein grosser Neustart auf uns zukommt, sondern lediglich wann und in welcher Verkleidung.

Mirco (40) und Dominique (36)

Mock, haben das Glück, drei gesunde Buben (9, 7, 3) aufziehen zu dürfen. Sie waren lange als professionelle sozialpädagogische Pflegefamilie tätig und hatten insgesamt dreizehn Pflegekinder für Timeouts und Kriseninterventionen bei sich in der Familie. Zur Zeit ist Mirco leidenschaftlicher Hausmann und Dominique arbeitet mit einem 50%- Pensum als Schulsozialarbeiterin.