9 minute read

Europa muss sein ökonomisches Gewicht in die Waagschale werfen Stefan Rouenhoff MdB

Am 1. Januar 2020 fand das 25-jährige Jubiläum der Welthandelsorganisation WTO statt. Einen Grund zum Feiern gibt es allerdings nicht, denn die WTO steckt in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Schon seit vielen Jahren kommen die multilateralen Handelsverhandlungen kaum voran. Nunmehr ist auch der Streitbeilegungsmechanismus der Organisation nicht mehr in der Lage, Handelskonflikte zwischen WTO-Mitgliedern auf Grundlage bestehender Rechtsnormen beizulegen. Die USA blockieren seit Juni 2017 die Nachbesetzung von Richterstellen im WTO-Berufungsgremium. In der Folge ist das Gremium im Dezember 2019 arbeitsunfähig geworden. Die Lage innerhalb der WTO hat sich jüngst weiter verschärft: WTO-Generaldirektor Robert Azevedo kündigte im Mai überraschend seinen Rücktritt an.

Der Stillstand in der WTO ist ein Symptom einer tiefgehenden Krise des Multilateralismus. Diese ist durch einen zunehmenden Wirtschaftsnationalismus, wachsenden Protektionismus und eine Abkehr vom regelbasierten internationalen Handel zentraler

Im internationalen Handel ist das „Recht des Stärkeren“ wieder salonfähig geworden. Das regelbasierte WTO-Handelssystem droht zu erodieren. Und die Corona-Pandemie setzt dem Welthandel weiter zu. Das ist ein schwerer Schlag für Deutschland und Europa. Ein neues europäisches Selbstbewusstsein und ein geostrategischer Ansatz in der EU-Handelspolitik sind jetzt dringend erforderlich.

Europa muss sein ökonomisches Gewicht in die Waagschale werfen

WTO-Akteure gekennzeichnet. Die

Stefan Rouenhoff MdB

Ausschuss für Wirtschaft und Energie Deutscher Bundestag

„Die EU ist gefordert, ihre Rolle neu zu definieren, um nicht zwischen den beiden Wirtschaftsblöcken USA und China zerrieben zu werden.“

Corona-Pandemie hat protektionistische Tendenzen weltweit zusätzlich befeuert und die Skepsis gegenüber globalen Lieferketten größer werden lassen. Die jüngsten Handelskonflikte zeigen: Im internationalen Handel ist das „Recht des Stärkeren“ wieder salonfähig geworden. Das ist nicht nur ein schwerer Schlag für die Europäische Union (EU) und Deutschland als offene, exportorientierte Wirtschaftsräume. Es ist auch ein großer Rückschlag für Schwellen- und Entwicklungsländer, die den Außenhandel zur wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes nutzen wollen.

Die Wiederherstellung eines funktionierenden Streitbeilegungsmechanismus innerhalb der WTO oder gar eine grundlegende WTO-Reform sind trotz europäischer Vermittlungsbemühungen in weite Ferne gerückt. Die schwindende Bereitschaft zu Kompromissen zwischen den WTO-Hauptakteuren USA und China unterstreicht die wachsende wirtschaftliche und politische Rivalität der beiden Staaten. Die EU ist gefordert, ihre Rolle im außenwirtschaftspolitischen Spannungsfeld zwischen den USA und China neu zu definieren, um nicht zwischen den beiden Wirtschaftsblöcken zerrieben zu werden. Sie sollte einerseits mit Nachdruck für eine WTO-Reform werben, andererseits aber nicht die Augen vor den neuen Realitäten im internationalen Handel verschließen. Trotz kleinerer Fortschritte kämpfen europäische und deutsche Unternehmen in China nach wie vor mit erheblichen Marktzugangsbarrieren, dem Zwang zum Technologietransfer und der besonderen Rolle chinesischer Staatsunternehmen. Neuartige Investitions- und Handelshemmnisse sind unter anderem von Parteizellen in Unternehmen und durch das Social Scoring zu erwarten. Nach 19-jähriger chinesischer WTO-Mitgliedschaft wird es höchste Zeit, dass die EU auf ein Level Playing Field und einen reziproken Marktzugang besteht.

Hierfür gilt es, wenn nötig, auch neuartige handelspolitische Instrumente zum Einsatz zu bringen. Dazu zählt etwa die 2019 in Kraft getretene EU Investment Screening Verordnung

Europa muss sein ökonomisches Gewicht in die Waagschale werfen

zur Überprüfung von Aufkäufen strategisch bedeutsamer europäischer Unternehmen oder ein noch zu schaffendes International Procurement Instrument zur Öffnung der chinesischen Beschaffungsmärkte.

Die USA haben in den letzten Jahren den Versuch unternommen, mit WTO-rechtswidrigen Strafzöllen auf Stahl- und Aluminiumprodukte die handels- und wirtschaftspolitischen Gewichte zu ihren Gunsten zu verschieben. Die Androhung weiterer unrechtmäßiger US-Strafzölle auf europäische Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeugteile sowie die Extraterritorialität von US-Sanktionen im Zusammenhang mit Nord Stream II oder dem Atomabkommen mit dem Iran sind als Versuch zu werten, die EU in den transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen weiter unter Druck zu setzen und ihr wirtschaftspolitische Zugeständnisse abzuringen. Hierauf muss die EU geschlossen und unmissverständlich reagieren. Denn Dro

Foto: European Union, 2020 - Stefan Wermuth

hungen stellen keine Grundlage für partnerschaftliche Beziehungen dar.

Wenngleich uns die Corona-Pandemie sehr deutlich vor Augen führt, dass Deutschland und die EU ihre handelspolitischen Abhängigkeiten in strategisch relevanten Wirtschaftssektoren verringern müssen, so darf uns die Pandemie nicht selbst zu Fürsprechern eines neuen Protektionismus werden lassen. Daher sollte Deutschland in seiner anstehenden EU-Ratspräsidentschaft mit Nachdruck für die Ratifikation weiterer umfassender und ausgewogener, bilateraler und regionaler Handelsabkommen eintreten. Denn dieser Weg verringert handelspolitische Abhängigkeiten von einzelnen Drittstaaten und stellt die europäische Handelspolitik auf ein breiteres Fundament. Gleichzeitig sichern europäische Handelsabkommen der neuen Generation hohe Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards in anderen Weltregionen und verringern die Neigung zum Protektionismus in den betroffenen Ländern. Sie bieten außerdem Chancen für neue plurilaterale und multilaterale handelspolitische Initiativen.

Die EU-Freihandelsabkommen etwa mit Korea und Kanada haben in den letzten Jahren den Nutzen entsprechender Verträge für beide Seiten verdeutlicht. Angesichts dieser positiven Erfahrungen sollte auch dem EU-Freihandelsabkommen mit MERCOSUR eine Chance gegeben werden. Denn entgegen der Befürchtungen von Teilen der Bevölkerung gewährleistet der Handelsvertrag einen europäischen Einfluss auf Waldund Umweltschutzaspekte in den betroffenen Regionen, welcher ohne ein Abkommen nicht vorhanden wäre.

Die von der EU initiierte InterimsBerufungsinstanz zur Schlichtung von WTO-Handelsstreitigkeiten außerhalb der WTO-Strukturen ist der richtige Versuch, den internationalen Handel auf Basis bestehender WTO-Regeln fortzusetzen. Dem europäischen Vorstoß haben sich bereits 17 Nicht-EU-Staaten angeschlossen. Die Interims-Berufungsinstanz trägt zu mehr Rechtssicherheit für Unternehmen in der EU und in den jeweiligen Drittländern bei.

Die Entwicklungen der vergangenen Jahre und insbesondere der letzten Monate sind die Ausläufer eines rauer werdenden handelspolitischen

184

Vereinigte Staaten und EU nutzen WTO-Schlichtungsverfahren am häufigsten

Streitschlichtungsverfahren bei der Welthandelsorganisation, Gesamtzahl von 1995 bis 2019

250

275

als Kläger als Beklagter

200

150

100

50

0

63 62

49

USA EU China Kanada Indien

Umfelds. Wenn die EU ihre wirtschafts- und handelspolitische Bedeutung erhalten und eine Führungsrolle in der Verteidigung des Multilateralismus und regelbasierten Handelssystems einnehmen will, dann muss sie ein neues Selbstbewusstsein entwickeln, ihr ökonomisches Gewicht verstärkt in die Waagschale werfen und ihre Handelspolitik geostrategisch ausrichten. Deutschland sollte in seiner EU-Ratspräsidentschaft hierzu einen gewichtigen Beitrag leisten. l

Am 31. Januar dieses Jahres wurde der Union Jack vor den Europäischen Institutionen in Brüssel eingeholt. Dies war ein emotionaler Moment, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union hat ein Mitglied unsere Staatengemeinschaft verlassen.

Die Verhandlungen von 2017 bis 2019 mit dem Vereinigten Königreich waren hart und lang. Während dieser hat die EU 27 eine eindrucksvolle Geschlossenheit und Einigkeit gezeigt. Sie stand als klarer Gegenpol zu dem politischen Schauspiel in Westminster. So brauchte es vier Anläufe im britischen Unterhaus und eine vorgezogene Neuwahl, bis der Austrittsvertrag endlich ratifiziert werden konnte.

Bis zum 31. Dezember 2020 gilt nun die Übergangsphase. In dieser Zeit ist das Vereinigte Königreich zwar kein

Brexit:

EU-Mitglied mehr und somit auch nicht in den Institutionen vertreten, aber bleibt vorerst im Binnenmarkt und in der Zollunion und ist letztlich weiter an EU-Regeln gebunden.

Seit Anfang März laufen die Verhandlungen zu den zukünftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich. Zum ohnehin ambitionierten Zeitplan ist mit der COVID-19 Pandemie zusätzlich eine unerwartete Belastung für die

Die Zeit drängt!

Lange hatte die Pandemie Europa fest im Griff. Jetzt verhandeln die Europäische Union und das Vereinigte Königreich wieder über die zukünftigen Beziehungen. Doch es herrscht noch Uneinigkeit in vielen Punkten.

Verhandlungen hinzugekommen.

David McAllister MdEP

Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses Vorsitzender der UK Koordinierungsgruppe

Nach nunmehr vier abgeschlossenen Runden wurden keine großen Fortschritte auf dem Weg zu einem umfassenden Handels- und Partnerschaftsabkommen erzielt. Für die Europäische Union kann es keine Kompromisse geben, die die Integrität der EU, unseres Binnenmarktes und unserer Zollunion gefährden.

Ein Schwerpunkt und zugleich Streitpunkt sind die wettbewerblichen Rahmenbedingungen, unter denen wir unsere zukünftigen Handelsbeziehungen gestalten wollen. Dies ist das, was in der Politischen Erklärung vom Oktober 2019 als „Level-PlayingField“ bezeichnet wird.

Als EU bestehen wir in der Wirtschaftspartnerschaft mit dem Ver

„Für die Europäische Union kann es keine Kompromisse geben, die die Integrität der EU, unseres Binnenmarktes und unserer Zollunion gefährden.“

einigten Königreich darauf, unsere anerkannten Umwelt- und Sozialstandards in dem Abkommen zu verankern. Wir müssen ebenso ambitioniert sein, wenn es darum geht, unfaire Handelsverzerrungen und ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile zu verhindern, zum Beispiel bei staatlichen Beihilfen und einschlägigen Steuermaßnahmen.

Angesichts unserer wirtschaftlichen Verflechtung und geografischen Nähe sollte der künftige Wettbewerb durch gleiche Bedingungen offen und fair gestaltet werden. Es geht darum, eine bestmögliche Zusammenarbeit zwischen einem Markt mit 66 Millionen Verbrauchern auf der einen Seite und einem Markt mit 450 Millionen Verbrauchern auf der anderen Seite des Ärmelkanals anzustreben.

Gleichzeitig ist das Vereinigte Königreich weitaus abhängiger vom europäischen Binnenmarkt als anders herum. Britische Unternehmen exportieren fast die Hälfte ihrer

Waren in die Europäische Union. Der Anteil des Handelsvolumens mit dem Vereinigten Königreich beträgt rund 13 Prozent des gesamten Handels der EU 27.

Aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtungen müssen robuste Schutzvorkehrungen für faire Wettbewerbsbedingungen gelten. Das Vereinigte Königreich kann nicht auf volle Souveränität pochen und gleichzeitig einen weitreichenden Zugang zum Binnenmarkt verlangen.

Es entsteht zunehmend der Eindruck, dass sich die britische Regierung von manchen in der Politischen Erklärung vereinbarten Punkten distanziert. Zu diesen eingegangenen Verpflichtungen sollte sich London nun eindeutig bekennen, damit es zu greifbaren Fortschritten kommen kann.

Die Übergangsperiode könnte zwar bis maximal Ende 2022 einmalig verlängert werden, dafür müssten sich aber beide Seiten auf einen entsprechenden Antrag einigen. Premierminister Johnson hat eine Verlängerung der Übergangsphase kategorisch ausgeschlossen und dies durch einen Parlamentsbeschluss rechtlich

Foto: AdobeStock©Melinda Nagy

verankern lassen. Es verbleiben also nur noch wenige Wochen, um sich spätestens bis Ende Oktober auf einen fertigen, rechtlich einwandfreien Text zu verständigen. Die Zeit drängt sehr! Ebenso wichtig ist, dass das 2019 beschlossene Austrittsabkommen von britischer Seite ordnungsgemäß umgesetzt wird. Dies betrifft die Bürgerrechte, die finanziellen Pflichten und das Protokoll zu Irland/ Nordirland.

Im Europäischen Parlament begleitet die UK Koordinierungsgruppe unter meinem Vorsitz die Verhandlungen. Dabei stehen wir in einem engen und konstruktiven Austausch mit dem Chefunterhändler der Kommission, Michel Barnier. Am Ende muss das Europäische Parlament einem Abkommen zustimmen.

Am 18. Juni hat sich das Parlament azuletzt zum aktuellen Stand der Verhandlungen positioniert. Darin betonen wir, dass neben dem Level-Playing-Field auch in allen anderen strittigen Fragen greifbare Fortschritte erzielt werden müssen, einschließlich Fischereipolitik, polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit sowie Governance-Fragen.

Es ist noch möglich, sich in den kommenden Wochen auf ein Abkom men zu einigen. Während der deutschen Ratspräsidentschaft werden wir uns einem Moment der Wahr heit nähern. Als Europäische Union streben wir weiterhin ein wirklich umfassendes und maßgeschneider tes Abkommen mit unserem engen Partner, NATO-Verbündeten und Nachbarn an. l

EU-Handelsabkommen:

EU Trade Agreements Wichtigster Handelspartner ist das Vereinigte Königreich (in Milliarden Euro, 2018) Geography & trade intensity Größe der Blase = Gesamthandelsvolumen (Importe + Exporte) der jeweiligen Länder mit den 27 EU-Staaten

am wenigsten handelsintegriert

Anteil am Gesamthandel der EU mit Drittländern (Güterimporte und -exporte)

am stärksten handelsintegriert

0%

2%

4% Ukraine 38,9

Norwegen 111 Türkei 135,9 Mexiko Kanada 54,7 Südkorea 61,2 89,7 Singapur Mercosur 50,6 81,2 Japan 117,1

6% Schweiz 236,4

8%

10%

12%

14%

16% -500

Nächste

Nachbarn

500 Vereinigtes Königreich 516,6

1.500 2.500 3.500 4.500 5.500 6.500 7.500

Entfernung zur Europäischen Union (in km, gerundet)

8.500 am weitesten entfernte Partner

9.500